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Lias' Sicht
Bevor ich zu Paul und seinen Kollegen zurück gehe, gönne ich mir eine Verschnaufpause an einem der Absperrgitter. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie fühle ich mich als totaler Störfaktor. Paul beobachtet mich nonstop und stellt andauernd irgendwelche Fragen, anstatt sich mit seinen Kollegen zu unterhalten. Wenn ich nicht da wäre, würde er sicherlich mit ihnen lachen und Unmengen an Geschichten erzählen, so wie Marc und Stephan. Er kann seinen Tag nicht richtig genießen, weil er denkt, ständig ein Auge auf mich werfen zu müssen.
Meine Augen erfassen einen blauen Ballon, der in den Himmel empor steigt, da er von einem kleinen Mädchen nicht festgehalten wurde. Direkt dahinter laufen zwei Jungs, die sich unterhalten. Der Größere der beiden lacht fast ununterbrochen, während der andere wie wild mit seinen Händen umher fuchtelt. Das erinnert mich sofort an Anton, denn der hat seine Hände auch nicht still halten können, wenn er geredet hat.
Eine bleierne Schwere drückt auf mein Herz und mir wird wieder bewusst, wie sehr ich meinen Kumpel doch vermisse. "Na, Kurzer? Was los?" Neben mir kommt Tom zum Stehen und stützt seine Unterarme auf der Metallstange ab. "Alles Prima!", antworte ich ihm unsicher und richte meinen Blick auf den Boden. "Fühlst du dich gut?" "Mhm!" "An was denkst du?"
"An meinen Kumpel. Bevor er adoptiert wurde, hatten wir noch so viel geplant und... egal..." Von dem Tisch an dem Paul sitzt, dringt lautes Gelächter an mein Ohr und erneut überrollt mich ein schlechtes Gewissen, da Tom bestimmt auch bei seinen Kollegen sein möchte: "Du musst nicht hier bei mir sein!" "Nein, muss ich nicht. Aber möchte ich gerne!" Nach einer kleinen Hustenwelle schweigen wir ein paar Minuten und beobachten beide die vorbeilaufende Menschheit.
"Sollen wir ein paar Dosen abwerfen gehen?", bietet der Polizist mir an, doch anscheinend kann er nicht richtig einordnen, welche Aktivitäten meinem Alter angemessen sind. "Ich bin doch kein Baby mehr!", zische ich Tom unabsichtlich entgegen, der sofort laut auflacht und anschließend beide Hände abwehrend in die Luft hält: "Oh, Verzeihung, ich meinte auch eher den Schießstand für Erwachsene. Moritz braucht noch eine Abreibung, weil er mich heute Morgen nicht genug abgesichert hat und ich einen Ellenbogen gegen mein Brustbein kassiert habe. Hilfst du mir?" Da ich das noch nie gemacht habe und Tom nicht enttäuschen will, zucke ich mit den Schultern: "Ich habe das noch nie gemacht! Vielleicht machst du das lieber selbst!" "Wenn du so schießt, wie dein Onkel mit Donuts werfen kann, dann sind wir safe!" Tom fackelt nicht lange, schmeißt mich völlig unerwartet über seine Schultern und läuft zum Tisch zurück: "Herr Breuer? Darf ich sie zum Duell herausfordern? Ich werde von diesem begabten Herrn vertreten. Trauen Sie sich, diese Herausforderung anzunehmen?"
Ein Raunen geht durch die Runde und mein Herz fängt an, kräftig gegen meinen Brustkorb zu hämmern.
Was ist, wenn ich verliere? Tom wird sicherlich sauer sein!
"Hey, Kumpel. Sag deinem Herz mal, dass es deinem Körper nicht entfliehen kann. Es strengt sich umsonst so sehr an. Wir haben jetzt eine Runde Spaß!" Der blonde Polizist denkt gar nicht daran, mich abzusetzen und schleppt mich in Richtung der Schießbude. Erst als wir dort angekommen sind, stellt er mich auf dem Boden ab und lässt sich von dem Mann hinter dem Tresen ein Luftgewehr geben. "Braucht der Junge eine Schießhilfe?", fragt der Budenbesitzer, doch Tom schüttelt den Kopf und verneint die Frage. Anscheinend ist er sehr von meinem Können überzeugt, wodurch ich mir nur noch mehr Druck mache, denn ich möchte ihn schließlich nicht enttäuschen. Mittlerweile sind auch die anderen eingetroffen und haben sich um uns versammelt. "Tom? Ich weiß nicht, ob das mit dem Schießen und dem Gipsarm so gut klappt!", wirft mein Onkel ein, doch sein Kollege winkt ab, drückt mich einen Schritt weiter nach vorne und stellt sich dicht hinter mich.
"Bist du Rechtshänder?" "Ja!" "Gut. Jetzt nimmst du das Luftgewehr und legst das Ende an die innere rechte Schulter." Als das Gewehr dort ist, wo es hin soll, weist mich Tom weiter an: "Deinen linken Arm legst du jetzt auf der Theke ab und stützt weiter vorne den Lauf. Genau so! Jetzt musst du zielen. Schließe dein linkes Auge und lass deinen Blick des rechten Auges durch die Zielvorrichtung wandern..", Der Polizist zeigt auf die sogenannte Kimme, eine Art Spalt im Blech, "damit du das Korn, die Erhebung am Ende des Laufs, im Visier hast. Kimme und Korn solltest du auf eine Höhe bringen und auf die Mitte des Ziels setzen. Wenn du das gemacht hast, atmest du aus und drückst ab!" Um mich herum wird es mucksmäuschen still und wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich schwören, dass alle abgehauen sind.
Als alles in Position ist, lasse ich die angestaute Luft aus meinen Lungen entweichen und drücke ab. Noch bevor ich realisiere, dass ich getroffen habe, brechen alle um mich herum in Jubel aus. Ein unbeschreibliches Gefühl sucht mich heim und breitet sich rasend schnell in meinem gesamten Körper aus. Auf meinen Schultern legen sich links und rechts Hände ab und üben leichten Druck aus. "Das hast du sehr gut gemacht! Ich bin stolz auf dich, Lias!" Die Worte meines Onkels lassen meine Augen ganz feucht werden und ich muss für einen Augenblick meine Haltung aufgeben, um richtig durchatmen zu können. Tom wuschelt mir durch die Haare und wirft mir ein "Sehr gut!" zu, bevor er sich an Moritz wendet: "So, Herr Breuer. Versuchen Sie mal, das zu toppen!" Während Moritz sich vorbereitet, überkommt mich wieder ein gewaltiger Hustenschub. Paul zieht mich mit meinem Rücken gegen seine Brust und streicht ganz vorsichtig mit einer Handfläche über mein Brustbein. Normalerweise stört es mich, wenn man mich während dem Husten anfasst, aber heute beruhigt mich Pauls Geste, so dass das Hundebellenähnliche Geräusch schnell wieder verstummt.
"Hast du meine Tabletten dabei? Wann muss ich die nehmen?", frage ich Paul, da mir gerade eingefallen ist, dass es bald wieder so weit sein sollte. "Ich habe das im Blick. Keine Sorge. Du hast noch Zeit!" "Okay!" Es ist ungewohnt, dass jemand anderes außer Jonathan mir hilft, an meine Tabletten zu denken und mir zumindest heute die Gedanken daran abnimmt. Aber es fühlt sich verdammt gut an.
Der Jubelschrei von Moritz lässt mich kurz zusammenzucken, da ich überhaupt nicht darauf geachtet habe, dass er schon geschossen hat. "Lias, du bist dran. Zeig Moritz, wo der Hammer hängt und mach den nächsten Punkt!", fordert mich Tom auf, was ich sofort abnicke und Paul darauf seine Hände von mir entfernt, damit ich mich wieder in Position begeben kann. Tom stellt sich wieder dicht hinter mich und korrigiert hier und da meine Haltung, da er nämlich vermutet, dass ich sonst einen Krampf bekommen könnte. Nachdem ich so stehe, wie der Polizist mich positioniert hat, scheint es mir tatsächlich etwas leichter von der Hand zu gehen.
Kaum habe ich abgedrückt, wendet sich mein Hintermann ab: "Der Schuss sitzt, da muss ich gar nicht das Ergebnis abwarten. Das sehe ich schon jetzt!" Tatsächlich behält der Blonde recht, denn auch dieses Mal treffe ich mein Ziel. Moritz lehnt sich leicht zu mir rüber, als ich wieder aufrecht stehe: "Hey! Du kannst mich nicht so blamieren... Der nächste Schuß darf nicht..." Bevor der Polizist seinen Satz beendet hat, zieht mich Stephan zur Seite und fuchtelt lachend mit seinem Zeigefinger vor Moritz' Gesicht herum: "Na, na, Herr Breuer. Sie werden doch wohl nicht unseren Champion bestechen wollen, nur um gut dazustehen?" Der gegnerische Schütze zwinkert mir grinsend zu und macht sich daran, seinen Schuss auszuführen. In dem Moment, als der jüngste Polizist der Runde den Schuss löst, niest Tom lauthals los und erschreckt seinen Kollegen so sehr, dass er fast den Budenbesitzer trifft. "Hoppla. Verzeihung, Herr Breuer. Aber sie wissen ja, dass man sich durch nichts ablenken lassen darf. Nicht wahr?" Moritz schüttelt ungläubig den Kopf und für einen kurzen Augenblick habe ich bedenken, dass hier gleich ein riesiger Streit ausbricht. Als ich solch eine Aktion mal beim Basketballspielen im Sportunterricht gebracht habe, hat mir Cornelius gleich eine auf die zwölf gehauen. Dass sich die Polizisten prügeln, erwarte ich gar nicht, allerdings rechne ich mit einem heftigen Wortgefecht. Zu meinem Erstaunen lacht Moritz nur und wirft Tom ein "Chapeau" entgegen.
Nach sechs weiteren Runden, die ich alle gewonnen und Moritz dank diversen Manipulationen verloren hat, darf ich mir einen der großen Preise aussuchen. Mir fällt sofort ein ekelhaft kitschiges Einhorn auf, das etwas versteckt hinter einem Kuscheltier-Minion steht: "Das Einhorn bitte!" Mich wundert es nicht, dass mich alle etwas verdattert anschauen, aber ich liefere ihnen sofort die Erklärung: "Das ist für Lotta. Sie liebt Einhörner und besitzt nur ein ganz kleines Einhorn-Plüschtier." "Oh, das ist doch das rothaarige Mädchen, das nonstop redet, oder?", will Stephan wissen. "Genau!" "Tja, Moritz. Da verlierst du Haushoch gegen diesen Knaben beim Schießen und dann macht er dir auch noch den Platz als "gute Seele" streitig. Heute scheint nicht dein Tag zu sein!", foppt Tom weiter und dreht sich um, da er zu den Sitzgelegenheiten zurückkehren will. Doch die Rechnung hat er ohne den blonden Kollegen gemacht, denn der springt ihm mit Anlauf auf den Rücken und will diesem seine gestylte Haarpracht zerstören. Dadurch, dass Tom mit diesem Angriff nicht gerechnet hat, stolpert er über seine eigenen Füße und reißt im Fall einen der großen Mülleimer mit um. Als die beiden am Boden liegen, stöhnen sie lauthals auf.
"MAYER, BREUER! WOLLEN SIE ETWA ZUR MÜLLABFUHR WECHSELN ODER HABEN SIE ZU VIEL ENERGIE? WENN SIE BEI DER ARBEIT NICHT GENUG AUSGELASTET SIND, DANN MÜSSEN SIE DAS NUR SAGEN! DA KANN ICH GEGENSTEUERN!" Durch das plötzlich laute Gebrüll erschrecke ich mich dermaßen, dass ich zur Seite stolpere und Paul anremple. Dieser zieht mich wieder an seine Vorderseite und legt schützend einen Arm um meine Brust. "Keine Angst, das ist nur unser Chef. Hinter dem lauten Organ verbirgt sich nur ganz viel heiße Luft!" Während um uns herum alle in lautes Gelächter ausbrechen, kommen zwei rot-/neongelbe Männer angerannt, die sich gleich den am Boden liegenden widmen.
"Nichts passiert. Alles okay!", ruft Tom sofort, als er die beiden Retter ebenfalls bemerkt. "Seid ihr mit den Köpfen auf dem Boden aufgekommen? Ist euch schlecht? Wart ihr bewusstlos?", plappert der eine Mann mit italienischem Akzent sofort los. "Hahaha. Nein. Wir wollten nur den Mülleimer verführen!", scherzt Moritz, da der genannte Gegenstand fast mittig zwischen den beiden Männern liegt. "Unglaubliches Pack! Ihr habt auch nur Scheiße im Kopf!", meckert der Sani wieder und reicht Moritz seine Hand, um ihm aufzuhelfen. Der größere der beiden Retter reicht Tom die Hand und zieht ihn ebenfalls auf die Füße.
Zwischenzeitlich macht sich wieder mein Husten bemerkbar, der aus den tiefsten Tiefen zu kommen scheint, denn der aufkommende Schmerz, da sich das Sekret nicht lösen will, zieht sich mir bis in die Fußspitzen. Das auftretende Röcheln verschafft mir wieder mehr Aufmerksamkeit als ich möchte und darum drehe ich mich um und drücke mein Gesicht gegen Pauls Oberteil. "Hat er sich verschluckt?", fragt der andere rot-neongelb gekleidete mit ruhiger Stimme. "Nein. Mukoviszidose!", antwortet Paul und streicht ein paar Mal mit seiner Handfläche über meinen Rücken. "Ah, dann ist das Lias?" "Ja, genau", bestätigt mein Onkel. Mir ist es nicht geheuer, dass der Typ, der sich offensichtlich mehr als genug im medizinischen Bereich auskennt, an mir Interesse zeigt. Von Ärzten und Co habe ich nämlich die Nase voll.
Zu allem Übel setzen auch wieder die Bauchschmerzen ein, durch die ich mich unweigerlich leicht zusammenkrümmen muss. "Lias? Was ist los? Hast du Schmerzen oder wird dir schlecht vom Husten?" Paul schiebt mich ein Stück zurück und geht in die Hocke, damit er mir ins Gesicht schauen kann. Ich schüttle mit meinem Kopf, obwohl es natürlich offensichtlich ist. Auch der andere Mann lässt sich in die Hocke nieder und streicht mir sanft über den Arm, damit er meine Aufmerksamkeit bekommt: "Hi, Lias. Ich bin Linus. Geht es dir denn gut?" Nach einem tiefen Atemzug und zwei, dreimal Husten stelle ich mich wieder gerade hin und schaue dem Mann mit den blauen Augen ins Gesicht. "Hi. Ja, alles bestens!" "Bist du sicher? Wenn es dir nicht gut geht, kann ich dir vielleicht helfen. Ich bin Notarzt und sehe nur ungern, wenn jemand Schmerzen hat und versucht, diese zu verstecken." Obwohl der Mann sehr nett aussieht, habe ich keine Lust mich untersuchen zu lassen und versuche mein Glück aus der Situation zu flüchten. "Paul? Kann ich das Einhorn in dein Auto bringen?" "Können wir gleich machen. Willst du denn Linus nicht mal schauen lassen?" "Nein, es herrscht keine Not für einen Arzt.... Ich kann auch schnell alleine zu deinem Auto, das ist ja nicht weit weg!" Ich strecke meinem Onkel die rechte Hand entgegen und bete, dass er nachgibt. Zusätzlich schiebe ich noch meine Unterlippe nach vorne und versuche meine Augen wie die eines traurigen Welpen aussehen zu lassen. Bei Jonathan funktioniert das manchmal.
Pauls zuckender Mundwinkel und das leichte Kopfschütteln verraten mir, dass es auch bei ihm zieht. "Okay. Aber du kommst dann auf direktem Weg wieder hier her. Pass auf dem Parkplatz auf, die fahren da wie sau und..." "Paul, ich bin schon zehn! Ich weiß, wie man zu einem Auto läuft ohne zu sterben!" "Sorry... Hier!" Paul drückt mir den Autoschlüssel in die Hand, worauf ich dankend abziehe und glücklicherweise auch dem Arzt entkomme.
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