~•~ 17 ~•~
Die restlichen zehn Minuten, die von einem ständigen Husten begleitet wurden, haben wir glücklicherweise schnell hinter uns gebracht. Nachdem ich einen geeigneten Parkplatz gefunden habe, steigen wir aus und machen uns auf den Weg zum Festgelände.
Lias läuft ganz dicht neben mir und hält seinen Blick stur geradeaus gerichtet. Seine Haltung kommt mir leicht verkrampft vor und ich bin mir nicht sicher, ob ihn die ganzen Menschen beunruhigen, die wir gleich treffen oder ob er gar nicht mit mir hier sein möchte. Eventuell mache ich mir zu viele Gedanken, aber ein derartiges Maß an Verantwortung hatte ich in meinem bisherigen Leben noch nie und ich möchte keinesfalls etwas falsch machen. Je näher wir dem Gelände kommen, desto geringer wird der Platz zwischen uns beiden.
Soll ich mir jetzt seine Hand schnappen oder meinen Arm um seine Schultern legen? Ist er dafür vielleicht auch schon zu alt und würde das eher als peinlich abstempeln?
Mein Seufzer, der mir versehentlich laut entflieht, erweckt Lias' Aufmerksamkeit. "Alles okay?", fragt er verunsichert und sieht so aus, als ob ich ihn gleich in ein Becken voller Haie stoßen würde. "Alles Prima! Bei dir auch?" Mein Neffe nickt nur leicht lächelnd und lässt anschließend seinen Blick über das Gelände schweifen, da wir nun endlich angekommen sind. Am Eingang stehen zwei Kollegen, die die Gäste nach Gesichtskontrolle einmarschieren lassen, damit nicht jeder x-beliebige sich auf das Sommerfest schleichen kann. "Das sind Jonas und Muri. Die beiden kennst du noch nicht", erkläre ich, als wir bei den beiden Männern angekommen sind. "Hey, Paul. Wen bringst du denn da mit?" "Das ist mein Neffe Lias." Jonas streckt dem Jungen seine Hand entgegen und stellt sich ihm selbst vor. Als sich die Hände der beiden berühren, bekommt mein Kollege ganz große Augen: "Boah, du bist eiskalt. Frierst du?" "Ein bisschen. Ist aber nicht schlimm!" Lias zieht schnell wieder seine Hand zurück und beäugt Muri etwas genauer, der dem Kurzen durch die Haare wuschelt und ihm viel Spaß wünscht. "Danke!", nuschelt Lias vor sich hin und wirft einen Blick auf mich, da er sich jetzt doch mehr als unsicher zu sein scheint. Ich schnappe mir einfach die Hand des Burschen und drücke sie leicht, damit er sich hoffentlich etwas wohler fühlt. Im ersten Moment verkrampft sich mein Neffe noch etwas mehr und ich will mich fast schon Blödmann schimpfen, da er anscheinend doch zu alt zum Händchen halten ist. Doch kurz bevor ich seine Hand wieder loslassen will, entspannt er sich und umgreift meine Hand etwas fester.
Mit wesentlich entspannterem Gesichtsausdruck treffen wir bei meinen Kollegen ein, die Lias sofort lauthals begrüßen. Tom und Stephan rutschen ein Stück auseinander und machen uns somit Platz, damit wir uns zwischen sie setzen können. Kurz darauf treffen auch Marc und Nesrin am Tisch ein und setzen sich neben Moritz und Robin. "Hey, was bist du denn für ein Süßer?" Nesrin grinst meinen Neffen breit an, der einen leichten Rotschimmer auf seinen Wangen Einzug gewährt. "Nesrin! Lias ist doch keine fünf mehr. Etwas mehr Respekt vor dem jungen Mann, bitte!" Marc stößt seiner Nebensitzerin seinen Ellenbogen in die Rippen, worauf die Dame der Runde gequält aufstöhnt und Herrn Westernhoven mit einem finsteren Blick straft: "Das ist eine Tatsache. Er ist nunmal total süß! Aber mal eine ganz andere Frage: Woher weißt du denn seinen Namen?" "Weil Lias schon mal bei uns auf dem Revier war!" Die schwammige Aussage bringt Nesrin auf falsche Gedanken, denn sie zieht die Augenbrauen zusammen und mustert den Kurzen neben mir mit Adleraugen. Um jede falsche Vermutung aus dem Weg zu schaffen, gebe ich des Rätsels Lösung preis: "Das ist mein Neffe. Er war vor kurzem bei uns, da er mich gesucht hat. Er wusste nur meinen Namen und dass ich Polizist bin und hat sich dann eben durchgefragt." "Oh. Na dann. Ich bin Nesrin. Freut mich!" Meine Kollegin zwinkert Lias zu, der ihr darauf ein Lächeln schenkt. Ich bin froh, dass Frau Naseweis mich nicht direkt mit tausend Fragen bombardiert, sondern meine knappe Erläuterung so hinnimmt. Aber ich bin mir sicher, dass sie mich in der nächsten Schicht erbarmungslos ausfragen wird. Gut, es kommt auch nicht alle Tage vor, dass ein Kollege so plötzlich ein Kind aus dem Ärmel schüttelt und darum werde ich ihr dann auch alles in Ruhe erklären.
"Wo kommt denn der Gips her? Den hattest du das letzte mal noch nicht, oder?" Marc sieht abwechselnd zwischen Lias und mir hin und her. "Da hat mich einer vom Baum gezogen und ich bin blöd auf meinen Arm gefallen", erklärt der Kurze knapp und zuckt mit den Schultern. "Bitte? Hoffentlich hat der Kerl eine saftige Abreibung bekommen!" "Hat er anscheinend, aber ich werde den Betreuer auch noch durch die Mangel nehmen, wenn er wieder arbeiten darf!", ergänze ich zähneknirschend und sorge dafür, dass meine Kollegen alle geschockt die Augen aufreißen. Da ich das alles nicht vor Lias breittreten will, wechsle ich das Thema: "Lias? Hast du Hunger?" "Nein, danke!" "Aber etwas zu trinken kann nicht schaden. Was möchtest du?" "Eine Fanta, bitte!" Ich nicke meinem Neffen zu und erhebe mich von meinem Platz.
Als ich bei dem Getränkewagen ankomme, legt sich ein Arm um meine Schultern. Marc ist mir anscheinend gefolgt. "Sag mir bitte, dass es ein Witz war, dass ein Betreuer schuld an dem Armbruch ist!" "Nein. Leider nicht. Ich habe das aber auch erst vorhin erfahren. Das werde ich nicht so stehen lassen und habe auch schon um ein Gespräch gebeten! Ich wollte das Thema jetzt nur nicht vor Lias erörtern. Er soll heute nicht ans Heim denken, sondern Spaß haben!" Bei der Erwähnung des Namen, werfe ich einen Blick über meine Schulter und sehe, dass Stephan meinem Neffen durch die Haare wuschelt und er, sowohl auch Tom, wieder etwas aufgerückt sind. "Paul? Was ist los?" "Ach, Marc. Irgendwie bekomme ich es nicht hin, so locker flockig mit ihm umzugehen. Ich habe andauernd Bedenken etwas falsch zu machen und überlege bei jeder Handlung, ob Lias das will oder nicht." "Paul, Paul, Paul. Das ich dich mal noch so unsicher erleben darf... Gib dir und dem Jungen Zeit! Das wird schon!" Marc klopft mir ein paar Mal auf den Rücken und schiebt mich dann ein Stück nach vorne, damit ich meine Bestellung aufgeben kann.
Zu meiner Verwunderung trinken die Männer um uns herum keinen Schluck Alkohol. Normalerweise lässt es sich der König der Sommerfestkampftrinker nicht nehmen, innerhalb kürzester Zeit seinen Pegel in Rekordhöhe zu bringen, doch Marc nuckelt heute ganz anständig an einer Cola. Lias hat sein Fanta innerhalb kürzester Zeit vernichtet, was wohl auch dem penetranten Husten zuzuschreiben ist, der ihn im Minutentakt überfällt. Die Männer und Nesrin quetschen Lias nonstop über irgendwelche Dinge aus und kitzeln ihm somit auch den Wunsch heraus, dass er einmal im Leben auf einem Motorrad mitfahren möchte. Wie zum Henker sie auf dieses Thema gekommen sind ist mir schleierhaft, da ich gerade überlegt habe, ob es sehr negativ auf meine Person auswirken würde, wenn ich dem verantwortlichen Betreuer ebenfalls den Arm breche.
"Oder Paul?" Stephan drückt mir seinen Ellenbogen in die Rippen und schüttelt leicht seinen Kopf. Er hat bemerkt, dass ich überhaupt nicht bei der Sache bin. "Es wäre für dich doch kein Problem, wenn Lias mal eine Runde mit mir mitfahren würde..." "Mit was?" Anstatt von Stephan, bekomme ich die Antwort von Lias, dessen Augen regelrecht vor Begeisterung leuchten: "Mit seinem Motorrad!" Da mein Kumpel ein anständiger Fahrer ist und ich mir sicher sein kann, dass er auf Lias acht gibt, wie auf seinen Augapfel, stimme ich zu: "Natürlich ist das kein Problem!" Herr Sindera erhebt seine Hand zu einem High-Five, worauf Lias sofort freudestrahlend einschlägt.
Die ersten beginnen sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen und ich frage Lias nun bestimmt zum vierten Mal, ob er auch etwas essen möchte. Doch wie bisher jedes Mal, lehnt er wieder ab. "Ich geh mal schnell aufs Klo!", flüstert er mir zu, nachdem ich ihm ungefragt wenigstens ein Wasser vor der Nase platziert habe und erhebt sich von seinem Platz. "Soll ich mitkommen?" "Ne, das schaffe ich schon alleine. Danke!" Mit schnellen Schritten verschwindet mein Neffe in der Masse.
Ich seufze laut auf und reibe mir mit den Handflächen durch mein Gesicht: "Irgendetwas mache ich falsch..." Stephan klopft mir auf die Schulter: "Du fragst zu viel!" "Hä?" "Frag doch nicht dauernd, ob er etwas essen will, sondern kauf ihm etwas. Er muss erst lernen, dass er keine Last ist... Er traut sich einfach nicht. Wenn man bedenkt, was er im Revier für einen starken Auftritt hingelegt hat und wie verhalten er heute ist... Er muss einfach das Gefühl bekommen, dass er dazugehört und akzeptiert und nicht nur geduldet wird. Okay?" "Ich weiß einfach nicht genau, was ich tun soll. Hält man noch die Hand eines zehnjährigen oder ist das für ihn schon peinlich. Ist eine Umarmung zu viel oder zu wenig? Braucht..." "Paul!" Stephan fällt mir mitten in den Satz und schüttelt mit seinem Kopf: "Du machst dir zuviel Gedanken. Lass es doch einfach laufen. Lias wird dir schon sagen oder zeigen was er möchte und was er nicht mehr möchte. Er sucht auf alle Fälle deine Nähe, denn das er dir in den letzten fünf Minuten nicht auf den Schoß gerutscht ist, war wirklich alles. Er ist noch ein Kind und vor allem ist er eins, das viel zu wenig Zuwendung bekommt. Mach einfach das, was du für richtig hältst und schau was passiert. Du kannst Kinder in diesem Alter eh nicht pauschalisieren. Die einen sind für eine Umarmung schon viel zu cool und die anderen können nicht genug davon bekommen. Schalte deinen Kopf aus!" Wenn mein Kumpel mir das so sagt, hört sich das alles so einfach an. Ich wünschte, es wäre tatsächlich so unkompliziert.
"Ich geh auch mal pinkeln und schaue in diesem Zug nach dem Kurzen!" Tom erhebt sich von seinem Platz und macht sich auf den Weg zu den Klowagen. Fast schon im fliegenden Wechsel tritt unser Chef an den Tisch: "Na, Männer? Alles im Lot?" "Klar, Chef!", antwortet Stephan und rutscht ein Stück zur Seite, um Klaus einen Platz anzubieten. "Bleiben Sie sitzen, Stephan. Ich muss mich noch an einigen Tischen durcharbeiten. Wollte nur mal nach dem Rechten schauen.. Richter? Wessen Kind haben sie denn da geklaut?" Ich verdrehe belustigt die Augen: "Das ist mein Neffe. Ich habe ihn legal aus dem Heim abgeholt!" Man sieht es selten, aber heute ist einer der Momente, in denen Klaus von jetzt auf gleich total die Gesichtszüge entgleisen. "Wie jetzt? IHR Neffe? Warum haben sie denn nie etwas erwähnt? Ich... Sindera! Platz machen!" Klaus deutet Stephan mit einer scheuchenden Handbewegung, dass er doch aufrücken soll, damit unser Chef sich zu uns dazu setzen kann.
Nach einer kurzen Erklärung, die Klaus ganz und gar nicht zufrieden stellt, prasseln auch weitere Fragen meiner restlichen Kollegen auf mich ein. Bevor ich antworte, lasse ich meinen Blick durch die Menschenmasse schweifen, um eventuell ausfindig machen zu können, wo Lias steckt. Als ich Tom an einem der Absperrgitter stehen sehe, erkenne ich auch, dass mein Neffe neben ihm steht. Stephan ist anscheinend mein Suchspiel aufgefallen: "Tom ist bei Lias. Die stehen dort hinten!" "Habs gerade entdeckt. Danke!" Da mein Neffe in bester Gesellschaft ist, widme ich mich den aufgekommenen Fragen, denn Cheffe lässt sich nicht so einfach abwimmeln wie der Rest.
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