Cʜᴀᴘ. 1|| Dᴇʀ Jᴜɴɢᴇ ᴀᴜғ ᴅᴇʀ Bʀᴜ̈ᴄᴋᴇ
sɪʏᴀ
„Woah, Mom!", rufe ich erschrocken, als sie mir eine Kiste zuwirft, die ich gerade noch auffangen kann.
„Ach, die ist klein und leicht, Schatz", antwortet sie und schnappt sich schon die nächste Kiste aus dem Auto.
„Ja, natürlich! Dass ich hätte sterben können, weil die Kiste meinen Kopf treffen und mich zu Boden werfen könnte, scheint wohl nebensächlich zu sein", antworte ich mit einem schiefen Lächeln.
„Du bist so dramatisch, Siya. Und hör auf, immer über den Tod zu sprechen!", schimpft sie und ich kann mir ein Lachen nicht verkneifen.
Ich sage ihr gerne, dass ich das Gefühl habe, früh zu sterben, obwohl das nicht wirklich so sein muss. Die Vorstellung, wie meine Zukunft aussieht, ist mir ein Rätsel, und deshalb komme ich zu solchen Schlussfolgerungen. Trotzdem bin ich gesund und achte darauf, im Straßenverkehr vorsichtig zu sein, was mir zeigt, dass ich wohl noch lange leben werde. Aber es macht mir auch ein kleines bisschen Spaß, meine Mama in Sorge zu versetzen – so schätzt sie die Zeit mit mir mal richtig. Sie arbeitet so viel, dass sie ihre Freizeit lieber mit noch mehr Arbeit füllt. Als Rechtsanwältin gibt es für sie kaum Ruhe. Mein Stiefvater Detlef ist mein Held. Ich liebe ihn wie einen leiblichen Vater, aber manchmal brauche ich auch meine Mama, wenn er wieder einspringen will, um mit mir Fahrrad zu fahren.
Mein leiblicher Vater hat meine Mutter noch während der Schwangerschaft verlassen und sich nie wieder gemeldet. Ich würde ihn gerne kennenlernen, weiß aber nicht, wie ich ihn finden könnte. Ich habe mich damit abgefunden, dass er mich nicht wollte, weil er jung war. Böse bin ich ihm nicht, ich wünschte nur, er würde mich suchen.
„Siya, hör' auf zu träumen", murrt Mama, während sie mir die nächste Kiste zuwirft, die diesmal zunächst meinen Körper trifft, bevor sie zu Boden fällt. Mir klappt die Kinnlade auf.
„Aua!", rufe ich empört, doch Mama rollt nur genervt die Augen. Ich strecke ihr die Zunge heraus, greife nach der zweiten Kiste und schleppe sie ebenfalls ins Wohnzimmer.
Wir sind wieder umgezogen, aber diesmal hat Detlef einen neuen Vertrag unterschrieben. Er hatte sich lange bei mir entschuldigt, da ich die vertraute Umgebung wirklich nicht verlassen wollte. Minnesota und San Diego waren schließlich nicht das Selbe.
Irgendwann habe ich ihm verziehen, aber nur, weil er jeden Abend mit Kakao und Marshmallows in mein Zimmer kam – eine kleine Süßigkeit, die ich mir als Balletttänzerin einfach nicht leisten konnte.
„Mom, es wird schon dunkel! Wenn ich jetzt nicht joggen gehe, kann ich es ganz vergessen!", rufe ich. Sie seufzt genervt, und als ich wieder auf die Terrasse zurückkehre, nickt sie zustimmend.
„Dann geh eben", brummt sie, und ich grinse zufrieden.
„Danke", rufe ich ihr zu und schicke ihr einen Kuss durch die Luft. Mit gespieltem Widerwillen fängt sie ihn auf. Da ich bereits in Shorts und T-Shirt bereit bin, nehme ich nur noch mein Handy, stecke es in meinen BH und mache mich auf den Weg.
Kaum bin ich draußen, beginnt mein Lieblingslied zu spielen und ich steigere mein Tempo. Seit ich denken kann, tanze ich, und als Ballerina bin ich schon seit zwölf Jahren aktiv. Nebenbei spiele ich auch gerne Fußball, aber das klappt nur, wenn Cody, Detlefs Sohn, in den Ferien bei uns ist. Mit dem dreizehnjährigen macht es Spaß, aber zurzeit habe ich sonst niemanden zum Kicken. Vielleicht ändert sich das bald. Bei den letzten Umzügen war es nicht allzu schwer Freunde zu finden, aber man weiß nie, was einen diesmal erwartet. Ich wünsche mir einfach nette Menschen, mit denen ich mich gut verstehen kann – auch wenn ich feststellen musste, dass sich die „Freunde" nach einem Umzug oft nicht mehr melden.
Ich schnaufe und werde langsamer, um mich genauer umzusehen. Die Wege hier in San Diego kenne ich noch nicht so gut. Eigentlich wollte ich nur eine Runde um die Nachbarschaft drehen, aber irgendwie bin ich nun woanders. Wie bin ich denn jetzt auf diesem Kliff gelandet? Auch auf dem Weg hierher mit Mom und Detlef habe ich das nicht bemerkt. Es wäre wohl am besten, wenn ich erstmal schaue, wie ich sicher zurückfinde, denn die Sonne ist bereits untergegangen.
Die Umgebung um mich herum wirkt fast magisch im sanften Licht der Dämmerung. Links von mir fällt das Kliff steil zum Meer hinab, zum Glück sind hier teilweise Absperrungen errichtet worden. Die Wellen schlagen rhythmisch gegen die Felsen, erzeugen dabei ein beruhigendes Rauschen. Etwas weiter entfernt sehe ich den Strand, der sich in der Dunkelheit abzeichnet. Die wenigen Lichter der Strandhäuser flackern in der Ferne, wie Sterne, die auf der Erde gelandet sind.
Es ist wunderschön.
Doch keine Menschenseele ist in Sicht, niemand, den ich um Hilfe bitten könnte. Ein leises Seufzen entweicht mir, als ein flaues Gefühl in meinem Magen aufkommt. Allein durch diese verlassenen Straßen zu gehen, ist nicht gerade beruhigend. Das hasse ich an städtischen Gebieten!
Ich gehe langsam weiter, den Blick über das Geländer auf das Meer gerichtet. Das Wasser glitzert im letzten Licht des Tages, und die Dunkelheit beginnt, die Umgebung einzuhüllen.
Doch dann bemerke ich etwas – nein, jemanden! Ein Junge. Er steht am Rand der Absperrung und blickt in den sternenübersäten Himmel. Sein blondes Haar fällt ihm lässig auf die Stirn, und selbst aus der Entfernung kann ich seinen markanten Kiefer erkennen. Langsam nähere ich mich ihm. Er scheint nur wenig älter als ich zu sein. Vielleicht kann er mir den Weg weisen...
Doch plötzlich zieht er tief die Luft ein und springt elegant über die Absperrung, die ihn vom Abgrund trennt. Jetzt steht er hinter dem Geländer. Oh Gott, wenn er fällt, dann direkt auf die Felsen!
Was, wenn er das sogar will?
Meine Augen weiten sich, als der Gedanke mir die Kehle zuschnürt. Er wirkt so entschlossen, schließt die Augen und lächelt leicht. Dann beugt er sich nach vorne und hält sich nur noch mit den Händen fest. Das Bild lässt keinen Zweifel mehr daran, dass er springen will. Panik erfasst mich, und ich spüre den kalten Schweiß auf meiner Stirn. Er atmet mehrmals tief durch, und jetzt erkenne ich sogar die dunklen Schatten unter seinen Augen. Das ist mein Stichwort: Ich muss losrennen. Trotz der lähmenden Angst zwinge ich mich, meine Beine zu bewegen, schneller als je zuvor. Alles um mich herum verschwimmt, ich sehe nur noch ihn. Der Ernst der Lage trifft mich mit voller Wucht, je näher ich dem Jungen komme.
Er lässt los.
Und wenn ich nicht genau in diesem Moment nach seiner Hand gegriffen hätte, wäre er auf die Felsen gefallen.
Er wäre tot.
Dunkelgrüne Augen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe, blicken mich panisch an. Mit beiden Händen halte ich seine Hand, mühevoll, aber entschlossen. Ich ziehe, ohne zu begreifen, woher diese Kraft kommt. Ich schaffe es, ihn über das Geländer zu ziehen, auf die sichere Seite. Er keucht, und auch ich versuche tief Luft zu holen und mich zu beruhigen. Doch ich lasse seine Hand nicht los.
Eine bedrückende Stille breitet sich aus. Der Junge neben mir scheint nicht fassen zu können, was gerade geschehen ist. Seine Augen röten sich, und sein Gesichtsausdruck wird immer fassungsloser.
„Was hast du getan?", murmelt er plötzlich. Ich sehe ihn an, und dann schießt seine Hand hervor und greift nach meinen Wangen, drückt sie fest zusammen. Meine Augen weiten sich, als ich die blanke Wut in seinen Augen erkenne.
„Was hast du getan?!", brüllt er, und ich keuche erschrocken. Sein Griff schmerzt, und ich verziehe das Gesicht.
„Ich habe dich gerettet", hauche ich kaum hörbar. Er ist mir so nah, dass ich seinen kühlen Atem spüre. Seine Hände zittern, und er zischt wütend. Ich bemerke eine Narbe an seiner Augenbraue und einen kleinen blauen Fleck darunter. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, und er brüllt, ein Schmerzensschrei, der die Nacht durchdringt.
„Warum hast du das getan", schreit er wieder, und kurz habe ich das Gefühl, dass er auf mich einschlagen wird.
Doch er stockt und atmet erschöpft aus, bevor sich seine Augen schließen und er bittere Tränen vergießt. Ich atme ebenfalls zitternd aus, als er den Kopf hängen lässt und sein Körper zu beben beginnt.
Was zum Teufel passiert hier gerade?
Ich drücke seine Hand, spüre, wie die Trauer in mir aufsteigt, und atme tief durch. Er schüttelt den Kopf, als wolle er nicht akzeptieren, was gerade geschehen ist. Als wolle er nicht akzeptieren, dass er noch lebt. Er lässt meine Wangen los, und der Schmerz lässt langsam nach.
Er blickt auf unsere ineinander verschlungenen Hände, sieht, wie fest ich ihn halte. Eine Träne fällt auf meine Hand, und er schluchzt, zerrt an seiner Hand, dreht sich um und geht.
Ich möchte ihm folgen, doch irgendetwas sagt mir, dass er nicht wieder versuchen wird, sich umzubringen.
Nicht heute.
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Hallo ihr Lieben 🩶
Ich hoffe, das erste Kapitel hat euch gefallen, auch wenn es ein solch dunkles Thema ist.
Immer wenn ich dieses Kapitel lese, kann ich nur innerlich hoffen, dass es viele Siyas auf dieser Welt gibt, die an solchen Momenten da sind.
Bis zum nächsten Mal ꨄ
SevenTimes-
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