4 | Shoreditch Park
Ich habe Thor dazu bewegen können, zumindest die Armrüstung und den Umhang abzunehmen, doch er bestand darauf, den Hammer mitzunehmen. Diesen trägt er nun, als altmodischen Regenschirm getarnt, die Straßen entlang. Ihm scheint auch in keiner Weise kalt zu sein. Bei einem Seitenblick auf seine Armmuskeln frage ich mich, ob wir überhaupt einen Pullover finden können, der ihm passt.
»Was hältst du von dem hier?«, frage ich und halte ein Holzfällerhemd hoch. Wir müssen wohl oder übel bei dem Du bleiben, sonst fliegt unsere Tarnung bei Jenna auf.
Thor hat sich mittlerweile an den Sonnenbrillen zu schaffen gemacht. Er dreht sich zu mir um, die Augen hinter einer sternchenförmigen Porno-Star Brille verborgen. »Hm?«
»Nein, du hast recht, gar nicht dein Stil.« Ich durchforste die Kleiderständer, »bloß keine Skinny-Jeans«, murmelnd. Ich komme mir vor, als müsste ich für ein kleines Kind einkaufen. Doch schon bald haben wir ein annehmbares Outfit zusammengestellt. Eine abgetragene Jeans, ein T-Shirt mit undefinierbarem Aufdruck, ein graues Sweatshirt und eine Jacke. Mehr bekommt man wohl in einem Second-Hand-Laden nicht.
Ich drücke dem Kassierer Mrs Guptas Geld in die Hand, denn Thor scheint keins dabei zu haben. Dabei müsste sich das Gold in Asgards Verliesen geradezu stapeln.
Im Tesco schmeiße ich schnell alle Sachen, die Jenna in ihrer hastigen Handschrift auf den Einkaufszettel gesetzt hat, in einen Korb. Thor kommt mir mit einem Sixpack Grapefruitsaft entgegen. Ich versuche gar nicht erst, ihn davon abzubringen, aber tragen muss er es trotzdem allein. Plus zwei Tüten in der anderen Hand, was hingegen für mich vom Vorteil ist.
Das Abendessen stellt sich als große Herausforderung heraus. Natürlich will Jenna wissen, warum Thor – ich meine natürlich Gunnar – hier ist, was er denn bei sich Zuhause so macht, wie die Verwandtschaftsverhältnisse denn jetzt stehen, wann genau wir am Montag nach Oxford fahren. Danach bin ich so erschöpft, dass ich auf meine Matratze falle und mir gerade so viel Zeit bleibt, die Nachttischlampe auszuschalten, bevor mir auch schon die Augen zufallen.
Ich träume nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal geträumt habe. Es muss noch vor dem Fluch gewesen sein. Jede Nacht tauche ich ein in die Dunkelheit und erwache am nächsten Morgen, ohne etwas geträumt zu haben. Es ist nicht so, als würde mir nur die Erinnerung an den Traum fehlen, nein, es ist der Traum selbst.
Und so schlage ich erst die Augen auf, als ich Geräusche von nebenan vernehme. Ich streife mir meinen Morgenmantel über und gehe in die Küche.
»Ich habe Frühstück gemacht«, sagt Thor und präsentiert stolz drei Müslischalen und eine Packung Cornflakes, die auf dem Tisch stehen.
»Wow, das ist... nett«, sage ich müde und reibe mir über die Augen.
Die Badezimmertür öffnet sich mit einem Schwall Shampooluft. Ich weiß, dass Jenna heute arbeiten muss. Was soll ich den ganzen Tag mit Thor anstellen? Ich könnte unsere Fahrt nach Oxford vorbereiten. Vielleicht sogar meine Mutter anrufen, um sie vorzubereiten. Doch meine Lust, das zu tun, hält sich in Grenzen.
Ich sitze also am Küchentisch und löffele matschige Cornflakes, und sehe schweigend Thor zu, der sich ein Toast nach dem anderen mit Marmelade beschmiert und verschlingt.
»Besichtigt ihr heute ein paar Sehenswürdigkeiten?«, fragt Jenna, und dann an Thor gewandt: »Warst du schon mal in London?«
»Oh ja, vor gar nicht langer Zeit«, sagt er und stellt das leere Marmeladenglas zur Seite. »Doch nicht lange.«
»Na dann, schade, dass ich nicht mitkommen kann. Macht euch einen schönen Tag!« Sie hängt sich ihre Handtasche über die Schulter und winkt uns, mit ihrem Wohnungsschlüssel in der Hand, zum Abschied zu.
Sobald ihr dunkler Pferdeschwanz im Flur verschwunden ist, ziehe ich die Hände aus den Taschen meines Morgenmantels. Ich lehne mich im Stuhl zurück und betrachte stirnrunzelnd den Donnergott mir gegenüber. Kann er sich eigentlich auch alleine beschäftigen? Ich würde nur zu gerne wieder zur Westminster Bridge gehen und meine Skizzen fortführen. Doch momentan prasseln noch dicke Regentropfen gegen die Scheiben des Küchenfensters. Ein neuer Plan muss her.
Ich setze Thor vor den Fernseher, drücke ihm die Fernbedienung in die Hand und logge mich in Jennas Computer ein. Da mein letztes Bewerbungsgespräch ein absolutes Desaster darstellte, muss ich mich wohl nach Job-Alternativen umsehen. Das ist leichter gesagt als getan.
Der Bleistift ist schon völlig abgenagt, und die Fernsehgeräusche hinter mir habe bereits vor einiger Zeit ausgeblendet. Nur ab und zu wende ich meinen Blick vom Bildschirm ab, um mir Notizen auf einem kleinen Block zu machen. Deshalb merke ich auch kaum, dass Thor aufgestanden ist und anfängt, das Bücherregal genaustens zu inspizieren. Erst, als er beinahe ein Porzellankätzchen herunterwirft, drehe ich mich im Stuhl herum.
»Verzeihung. Ich wollte nichts kaputt machen«, entschuldigt er sich und stellt die Katze wieder sorgfältig zurück.
Ich fahre mir durch die Haare. Schon zehn nach zwölf. »Wie wär's mit Takeaway zum Mittagessen?«
Takeaway scheint ein ihm fremdes Wort zu sein, aber bei Mittagessen horcht er auf. Das dachte ich mir schon.
Wir wandern durch die Nachbarschaft zu einem kleinen Restaurant namens Taste of Jamaica. Dort haben sie riesengroße Portionen für wenig Geld, und ich weiß, dass das Thor gefallen wird. Ich bestelle für ihn Curryziege mit Gemüse und Reis, und für mich ein paar Dumplin-artige Teigstücke.
Wir essen auf dem Weg. Jedenfalls hat Thor damit angefangen und bereits die Hälfte seines Essens verputzt, bevor ich auch nur in meinen ersten Dumplin beißen kann.
»Wieso wolltest du nicht zurück nach Asgard?«, frage ich ihn.
»Ich muss meine Aufgabe erfüllen.«
»Und das hält dich davon ab, nach Hause zu gehen? Ist deine Familie so schrecklich?«
Er hält in der Bewegung inne, sich eine Gabel Ziegenfleisch in den Mund zu schieben. Etwa die Hälfte fällt zurück in den Pappkarton. »Nun... mein Vater erwartet immer noch von mir, dass ich seine Nachfolge antrete.«
»Du drückst dich also vor der Verantwortung«, schlussfolgere ich.
»Meine Verantwortung ist es, alle Wesen des Universums nach meinen Kräften zu beschützen. Hier auf der Erde hat sich das schon mehrere Male als sehr schwierig erwiesen. Nein, ich kann nicht nach Asgard zurückkehren, ehe nicht Frieden in allen Neun Welten und darüber hinaus eingekehrt ist.«
Der Grund liegt also bei seiner Familie. Das kenne ich nur zu gut. »Hör zu, hm, Thor? Wenn wir übermorgen meine Mutter besuchen... du musst wissen, wir haben nicht gerade das allerbeste Verhältnis zueinander.« So ziemlich wie er und sein Vater, so wie es sich angehört hat.
Thor kratzt die Reste des Reis' zusammen. »Dann schätze ich es sehr, dass du mich zu ihr bringst.«
Ich bringe ein klägliches Lächeln zustande.
Der Regen hat nachgelassen, doch die Wolkendecke ist weiterhin dicht, als wir auf dem Weg nach Hause durch den Shoreditch Park gehen. Ich bin mir nicht sicher, inwiefern der Shoreditch Park die Bezeichnung Park verdient hat. Es ist nicht viel mehr als eine weitläufige Grünflache mit fleckigem Gras und durch die Jahreszeit bedingt kahlen Bäumen, die eher spärlich verteilt sind. Aufgrund des Wetters sind nur wenige Londoner unterwegs, die meisten mit Hund. Einer von den Vierbeinern scheint in einem Gebüsch etwas entdeckt zu haben. Der Schäferhund bellt lautstark und verschwindet zwischen den Zweigen, trottet aber auf den Ruf seines Frauchens hin wieder heraus. Er gibt noch zwei Kläffer von sich, schnuppert, und läuft dann weiter.
Dabei lässt er etwas vor dem Gebüsch liegen. Ich runzele die Stirn, und als wir dort vorbeilaufen halte ich an und bücke mich. Ein Manschettenknopf. Merkwürdig. Wo hat der Hund denn den gefunden? Ich schiebe die Zweige zur Seite und bereue es sofort.
Inmitten von welkem Laub und Dreck liegt eine Leiche.
Und das ist nicht das schlimmste, nein. Der Geschäftsmann befindet sich in einem grauenvollen Zustand. Er blutet aus Nase, Mund, Ohren, und, was mich am meisten verstört, aus den Augen. Seine Augäpfel haben mehr Ähnlichkeit mit überreifen Tomaten als mit normalen Sehorganen. Vom metallischen Gestank des Blutes wird mir übel. Ich wanke einige Meter zur Seite. Thor legt mir besorgt eine Hand auf die Schulter.
»Was ist los?«
Ich deute nur stumm zum Fundort des Toten. Mit zitternden Händen hole ich mein Telefon aus der Manteltasche und wähle Jennas Nummer. Sie arbeitet in der Notrufzentrale.
»Eira, ich bin noch auf Arbeit«, beschwert sie sich, sobald ich sie erreicht habe.
»Das hier... hat etwas damit zu tun. Ich habe eine Leiche zu melden«, flüstere ich beinahe. »Im Shoreditch Park, westliche Ecke.
Jenna hält inne. »Ich schick sofort eine Einheit. Bleib wo du bist, und fass keine Beweismittel an.«
Keine zwanzig Minuten später höre ich die Sirenen, und kurz darauf kommen zwei Polizisten und zwei Sanitäter mit Trage auf uns zu, ebenso wie zwei Ermittler ohne Uniform. Thor, der immer noch mit gerunzelter Stirn über dem Toten hockt, wird von ihnen weggeschickt.
Ich hülle mich fester in meinen Mantel.
Die rothaarige Ermittlerin hält mir ihren Ausweis unter die Nase. »Detective Inspector Blakeley, Metropolitan Police Service, das hier ist mein Partner Sergeant Perry.«
Der Mann tippt sich an seine Mütze. »Sie haben einen Mord gemeldet?«
»Nur eine Leiche«, sage ich.
Blakeley besieht sich den Toten. »Noch einer«, murmelt sie kaum hörbar. Sie wechselt vielsagende Blicke mit Perry.
Der holt nun seinen Notizblock hervor und beginnt, meine Aussage aufzunehmen. Er nickt immer wieder, während ich das Wenige schildere, was ich zu berichten habe. Dabei sehe ich immer wieder rüber zu den Beamten, zu denen sich bald darauf mehrere Forensiker gesellen
»Gut«, sagt er abschließend. »Jetzt brauche ich nur noch die Aussage des Herrn da drüben.« Er deutet mit seinem Stift auf Thor der etwas abseits steht, die Stirn in Falten gelegt, und den Regenschirm unruhig von einer Hand in die andere wandern lässt.
Keine gute Idee. Ich kann der Polizei ja kaum sagen, dass er der Gott des Donners ist. Andererseits sind Falschaussagen strafbar. Und Mr Perry kann ich auch nicht davon abhalten, zu ihm zu gehen. Ich kann ihm nur folgen und Thor hinter seinem Rücken Zeichen geben.
»Sie waren also dabei, als Miss Anderson die Leiche entdeckt hat«, beginnt der Ermittler, seinen Notizblock durchblätternd.
»Ja«, sagt Thor.
Der Mann blickt auf und hält inne. »Hey, ich kenne Sie doch. Sie sind Thor. Mensch, ohne die Rüstung und den Hammer und alles hätte ich Sie kaum erkannt.«
Thors Miene ist unverändert sorgenvoll, während ich nervös von einem Bein auf das andere trete.
Sergeant Perry kneift die Augen zusammen. Er nutzt den Stift als Zeigestab. »Greenwich. Vor ziemlich genau einem Jahr. Sie sagten uns, wir sollten das Feld räumen und die Zivilisten vom Observatorium wegschaffen. Ja, ich erinnere mich. Was machen Sie in London? Droht noch eine Invasion?« Er lacht, als wäre gar nichts schlimmes passiert, als würde nicht keine zehn Meter von uns entfernt eine Leiche liegen, die auf grausame Weise umgebracht wurde.
»Kein Angriff, nein«, sagt Thor knapp.
»Nun gut.« Perry tippt mit dem Kugelschreiber auf den Rand seiner Notizen.
»John«, ruft die Frau namens Blakeley zu uns rüber. »Er war es. Schon wieder.« Sie hält etwas zwischen ihren Fingern, die in weißen Handschuhen stecken. Jedenfalls waren sie das, jetzt glänzen die Fingerspitzen blutrot.
Mir wird schon wieder übel.
John Perrys fröhliche Miene fällt in sich zusammen als er von uns ablässt und sich zu seiner Kollegin gesellt.
»Schwarze Magie«, brummt Thor.
Ich schlinge die Arme um meinen Oberkörper. »Wie bitte?«
»Der Mann ist keines natürlichen Todes gestorben. Ihm haftet noch schwacher Hauch schwarzer Magie an.«
»Du meinst... jemand mit schwarzmagischen Kräften hat ihn umgebracht?«
Thor nickt langsam. »Wir müssen uns Rat bei einer Völva holen.«
»Ich denke nicht, dass es davon viele in London gibt«, gebe ich zu bedenken.
»Es gibt genau eine.«
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