18.2 | Folkwang
Freya lädt mich am nächsten Tag ein, mit ihr durch die Gärten des Palastes zu spazieren. Heute Morgen haben mir Bedienstete frische Kleidung bereitgelegt, ein edles Kleid aus feinem, hellblauem Stoff mit goldenen Verzierungen. Die Göttin selbst trägt ein Gewand in Weiß, dessen lange Schleppe sie hinter sich herzieht, als wir über die sandsteinfarbenen Gehwegplatten schlendern.
»Ihr wacht also über Vanaheim?«, frage ich. Ich versuche, die Freya aus den Sagen und Legenden mit der Frau zu verbinden, die neben mir steht.
Sie schenkt mir ein bescheidenes Lächeln. »Das tue ich. Auf meinen Vater – ihr habt ihn getroffen – ist wenig Verlass, und mein Bruder geht seinen eigenen Weg. Wenn überhaupt, dann lässt er sich nur zu großen Feierlichkeiten blicken. Die Elfen in Alfheim bekommen ihn öfters zu Gesicht als seine eigene Familie. Seit es ihm geschenkt wurde, sieht er es als sein Reich an.« Sie verzieht die blassroten Lippen. »Also, ja, ich bin die Wächterin Vanaheims. Asgard kann seine Augen nicht überall haben.«
»Es ist ein schöner Planet. Das Volk hier ist so naturverbunden. Und friedfertig.«
»Nur, weil die Menschen ständen im Krieg sind, sind es die Bewohner der anderen Welten nicht. Ich sorge dafür, dass der Frieden auch bewahrt bleibt. Vanaheims Krieger leben zu einem Großteil bei mir. Für einen größeren Angriff ist das kleine Volk nicht vorbereitet.«
Das kleine Volk, so wie Hoguns Dorf. Sie verdienen ein friedliches Leben. Keine Überfälle von Plünderern oder anderen Bestien.
»Eine Sache interessiert mich«, sagt Freya und hakt sich bei mir unter, »wie kommt es, dass Ihr in Begleitung von Thor nach Folkwang geraten seid?«
Daraus schließe ich, dass unser Smalltalk vorbei ist. Irgendwann musste diese Frage kommen. Bisher hat jeder, den ich getroffen habe, sie mir gestellt. »Ich habe ihn in Midgard getroffen. Er war auf der Suche nach meinem Vater. Nachdem wir ihn gefunden haben, hat er mir angeboten, ihn auf seiner Suche nach den Infinity-Steinen zu begleiten.«
»Nun, das ist interessant, wirklich interessant.« Sie zieht mich in die Mitte des Gartens. »Ich kenne ihn noch aus unserer Jugend. Mein Bruder und ich waren ein paar Mal in Valaskjalf. Loki spielte uns immer Streiche, doch vor allem seinem Bruder, der sich immer wieder aufs Neue hereinlegen ließ.«
Das sieht ihm ähnlich. Ich lasse meinen Blick durch den Innenhof schweifen. Alle Pflanzen stehen in voller Blüte. Es ist ein wahres Paradies aus Gewächsen aller Art, exotische Blumen neben Heilkräutern und Waldpflanzen, und alles wirkt so natürlich, ganz anders als die Blumen und Moose im lichtdurchfluteten Alfheim. Katzen streifen zwischen den Bäumen umher. Freya setzt sich auf eine Gartenbank und bedeutet mir, neben ihr Platz zu nehmen.
»Wieso ist Thor auf dieser Suche?«, fragt sie, die Falten ihres Kleides glattstreichend.
»Er hatte eine Vision von diesen Steinen«, sage ich zögerlich. »Ein Wesen, das mächtig genug wäre, alle sechs zu nutzen, würde das Universum in Stücke reißen. Deshalb will er sie finden, um sie an einem sicheren Ort zu verwahren.«
Sie sieht von ihrem Kleid auf. Ihre grünen Augen fixieren mich und sie legt mir eine Hand auf den Arm. »Und was ist es, was Ihr wollt?«
Ich beobachte eine Katze der Größe eines Rottweilers und denke über Freyas Frage nach. Meine Kräfte vollständig kontrollieren und ausnutzen zu können. Leuten zu helfen, statt ihnen zu schaden, so wie ich Eryk helfen konnte. Thor. Als Thor vor meinem inneren Auge auftaucht, obwohl ich gar nicht an ihn denken wollte, bin ich von meinen eigenen Gedanken verwirrt. Dann erinnere ich mich; Freya ist nicht nur eine Vanirgöttin, sondern auch eine mächtige Zauberin. Das ist ihr Werk. Ich schüttele ihre Hand ab, ohne unhöflich wirken zu wollen.
»In Vanaheim habe ich meine Kampffähigkeiten trainiert«, sage ich so gefasst wie möglich, während ich meine Hände in meinem Schoß zusammenfalte. »Das würde ich gerne fortsetzen.«
Freya lächelt mich wissend an. »Sicher. Wir finden jemanden, der sich deiner annimmt. Ich lasse nach dir schicken.« Sie tätschelt mir noch einmal meinen Arm, dann erhebt sie sich von der Bank und schwebt durch den Garten davon.
Meine Arme und Beine schmerzen, als ich mich am Abend zurück in Freyas große Halle begebe. Das Training war gut, und ich habe mich gar nicht mal so dumm angestellt. Die Frau namens Asleif hatte allerdings eine sehr viel nervenaufreibendere Trainingsmethode als Nadaia. Mein Körper muss mit blauen Flecken übersät sein.
Freya winkt mich zu sich. Sie trägt ein anderes Kleid als noch heute Morgen, doch immer noch in Weiß und Gold. Ich setze mich zu ihr und bemerke, dass Thor am anderen Ende der Halle an einem großen Kamin sitzt, um ihn herum mindestens ein Dutzend Männer und Frauen, die seinen Erzählungen zuhören. Öfters schallt ihr Lachen zu uns herüber. Wein und Bier geht herum.
Eine Bedienstete stellt mir einen Kelch Wein neben meinen Teller. Was haben die nordischen Götter immer nur mit ihrem Alkohol?
»Wie war Euer Training?«, fragt Freya höflich.
»Sehr gut. Vielen Dank, dass Ihr mir die Möglichkeit dazu gegeben habt.«
Die Göttin nippt an ihrem Kelch. »Ich habe Euch einen Eurer Wünsche erfüllt. Und nun zum Nächsten.« Ihr Lächeln verheißt nichts Gutes, als sie ihre Hände zusammenfaltet. Jetzt geht das schon wieder los.
Ich nehme einen unbeholfenen Schluck aus dem Weinkelch. Auf den Geschmack achte ich kaum. Wenn ich diese Konversation überstehen will, brauche ich definitiv mehr Wein.
»Der Gott des Donners hat nicht gerade wenig für Euch übrig.«
»Und da liegt das Problem«, sage ich und tippe mit meinen Fingernägeln auf die Tischplatte. »Wir können uns nur gegenseitig enttäuschen. Es hat keinen Zweck.«
»Ihr dachtet nicht immer so.«
Ich schnaube auf und führe den Weinkelch an meine Lippen. »Nein.«
»Ihr wollt ihn für Euch gewinnen, ihn an Euch binden. Dazu müsst Ihr ihn nicht einmal verführen. Seht doch, er ist von dutzenden schönen Frauen umgeben, und dennoch hat er nur Augen für Euch.«
Gerade in diesem Moment sieht Thor zu mir rüber, und ich hätte beinahe den Wein zurück in den Kelch gespuckt. Sehr elegant von mir. Meine Wangen glühen.
»Er ist immer noch ein Ase«, stammele ich. »Beinahe unsterblich. Und der Kronprinz von Asgard. Sein Vater hat ihm sicherlich schon eine bessere Partie besorgt. Jemand, der besser geeignet ist, als ich.«
Freya bedenkt mich mit einem mitleidigen Lächeln.
Was will ich eigentlich? In Vanaheim habe ich Thor dafür zur Rede gestellt, dass er mich mit seinen Suchaktionen im Dunkeln gelassen hat; jetzt will ich die Suche abbrechen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie ich ihn dazu überredet habe, Vanaheim zu verlassen, Risiken einzugehen, um die Infinity-Steine zu finden. Doch eine Sache hat sich nicht geändert: ich bin immer noch eine Fremde, die in keine der Neun Welten zu passen scheint. Das Treffen mit Andvari hat mir das nur noch deutlicher gemacht. Ich bin diesen Gefahren einfach nicht gewachsen. Innerhalb weniger Stunden wäre ich beinahe ertrunken und erfroren, und nur dank Thor bin ich es nicht. Aber er kann nicht immer da sein, um mich zu retten, und ich will auch nicht ständig das Fräulein in Not spielen. Ich sehne mich nach seiner Nähe, wünsche mir die Stunden zurück, in denen wir nebeneinander im Gästezimmer der großen Halle gelegen haben. Ich hatte das Gefühl, er könne als einziger wissen, was in mir vor sich geht. Doch da habe ich mich wohl geirrt.
»Zeigt ihm, wie Ihr Euch fühlt«, rät mir Freya. Eine ihrer Katzen ist auf den Tisch gesprungen und lässt sich von ihr zwischen den Ohren kraulen. »Ihr wollt nicht zurück nach Midgard, selbst, wenn Ihr versucht, Euch das einzureden. Ihr wollt einen Platz finden, wo Ihr bleiben könnt.«
»Ihr widersprecht Euch, Lady Freya«, sage ich, um einen höflichen Tonfall bemüht. Es fällt mir schwer, einen Rat von einer Zauberin anzunehmen, die, ohne mit der Wimper zu zucken, meine Gedanken liest.
»Ganz und gar nicht. Ein Platz muss nicht immer gleich ein Ort sein.« Sie winkt einen Diener heran, damit er uns noch mehr Wein einschenkt.
Ich rühre meinen Kelch nicht weiter an.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro