18.1 | Folkwang
Ich klammere mich an Thors Hals, als wäre es das Einzige, was mich davor bewahren könnte, in die Abgründe des Meeres gezogen zu werden. Im Grunde ist es das auch.
Eisige Kälte schlägt mir entgegen. Auf wundersame Weise ist unsere Kleidung trocken geblieben; wäre sie es nicht, wären wir in Sekundenschnelle zu Eiszapfen erfroren. Ich komme schwankend zum Stehen. Die Bifröstbrücke war nicht halb so schlimm wie die Reise durch diesen Wasserstrudel.
»Wir müssen am Gjöll entlang, immer flussabwärts«, sagt Thor, und sein Atem bildet Wolken aus weißem Dampf in der kalten Luft. Ich frage mich, woher er den Weg kennt, sage aber nichts. Er bietet mir seinen Arm an, und wir beginnen unsere Wanderung durch den Schnee. Es ist klirrend kalt.
Thor hat nur das Nötigste mitgenommen. Ich wünschte, er hätte nicht so überstürzt unser gesamtes Gepäck aufgegeben, aber wirklich böse kann ich ihm deswegen nicht sein. Den Rest unseres Gepäcks werden wir wohl nie wiedersehen, und ich beneide Felipe darum, dass er sich nicht mit uns in diese weiße Hölle wagen muss. Noch scheint eine kalte Sonne auf die Schneelandschaft herab, doch ihr Licht ist schwach und ihre Strahlen bringen keine Wärme. Mit jedem Schritt frieren meine Füße ein Stück weiter ein. Ich trage nur die leichten Lederstiefel, die mir ein Händler aus Hoguns Dorf geschenkt hat, und die nicht für eine Wanderung durch die kälteste der Neun Welten geeignet sind. Meinen Schal habe ich schon hochgezogen, die Kapuze aufgesetzt, doch es nützt kaum etwas.
Bald schlottere ich vor Kälte. Es fühlt sich an, als würde ich über Messer gehen. Je dunkler es wird, desto stärker wird auch der Wind, fliegende Eiszapfen, die unter meine Kleidung dringen und mir auch noch das letzte Gefühl der Wärme rauben.
»Wir haben es fast geschafft«, sagt Thor, auch seine Stimme bebt vor Kälte, seine Lippen sind blau, und doch scheinen die eisigen Temperaturen ihm nicht so viel anzuhaben wie mir, sei es, weil er ein Ase ist, oder weil er einfach mehr Muskeln besitzt, die ihn warmhalten.
Als ich zu stolpern beginne, habe ich schon vergessen, wie sich Wärme anfühlt. Meine Augen tränen, jeder Atemzug fühlt sich an, als würde jemand mit einem Eispickel auf meine Lungen einstechen. Kurzerhand hebt Thor mich hoch und wickelt seinen Umhang um mich. Ich will protestieren, aber sobald ich meinen Mund öffne, gelangt die Kälte an meine Zähne und friert meine Zunge ein. Kleine Schneeflocken hängen an meinen Wimpern und versperren mir die Sicht. Die natürliche Reaktion meines Körpers auf die Kälte – das Zähneklappern – hat kaum noch Nutzen. Mein Kopf sinkt immer wieder gegen Thors Brust.
»Eira, hörst du mich noch?«, dringt seine Stimme durch die frostige Abendluft. Sie klingt abgehackt. »Wir sind – fast da.«
Immer wieder die kleinen Wölkchen. Ich versuche, sie mir als warmen Dampf vorzustellen, der aus einem Teekessel dringt. Ein Teekessel mit heißem Wasser. Doch mit meinen Zehen scheint auch mein Kopf eingefroren zu sein. Ich sehe nichts außer der Kälte, kann mir nicht vorstellen, was es anderes noch geben könnte. Mein Körper hört sogar auf, zu zittern. Das Stapfen von Stiefeln im Schnee, das regelmäßige Atmen... in dieser Ruhe könnte ich schlafen.
»Eira, bleib wach«, warnt mich Thor.
Ich mache mir gar nicht erst die Mühe, meine Augen zu schließen. Wenn ich das tue, werden meine Augenlider zusammenfrieren, da bin ich mir sicher. Müde bin ich ohnehin. Vielleicht kann ich von Wärme träumen. Vielleicht ist Erfrieren keine schöne Art, zu Sterben, aber besser als Ertrinken oder von einem blutrünstigen Bilgenschwein aufgespießt zu werden. Ich bereue es, mit Thor auf diese Suche gegangen zu sein. Was hatte ich auch erwartet? Dass alle Neun Welten Urlaubsorte sind? Dass keine einzige Kreatur mir etwas anhaben kann? Ich habe Thor vertraut, mich zu beschützen. Doch vor dieser Eiseskälte kann mich nichts und niemand bewahren.
Thor rüttelt mich durch, reibt meine Arme im vergeblichen Versuch, etwas Wärme in meine Gliedmaßen zu bringen. »Wach bleiben!«
Verschwommen nehme ich wahr, wie es beginnt, zu schneien. Ich winde mich in Thors Armen. Er soll mich runterlassen. Ich fühle mich nutzlos. Für ihn bin ich nur überflüssiger Ballast.
Zwei frostharte Lippen pressen sich auf meinen Mund, und kurz habe ich das Gefühl, sie würden mit meinen verschmelzen und sie auseinanderreißen. Wie ein knisterndes Lagerfeuer verbreitet sich Wärme in meiner Brust, ein Prickeln wie eisige Hände, die in heißes Wasser getaucht werden. Dieser Kuss ist nicht als Zärtlichkeit gedacht, auch nicht von Verlangen geprägt, sondern einfach nur dazu da, um mich am Leben zu halten. Auch nachdem Thor von mir abgelassen hat, schnaufend und frierend, bleibt das Wärmegefühl auf meinen aufgesprungenen Lippen bestehen.
Mit der Zeit wird auch Thors Atem schwerer und sein Gang stockender, bis er auf einmal stehen bleibt. Behutsam setzt er mich auf dem Boden ab, der nicht mehr aus Schnee besteht. Seinen Umhang lässt er weiterhin fest um mich gewickelt. Ich kann kaum etwas sehen, als hätte die Kälte meine Pupillen eingefroren, doch ich sehe ein großes, goldverziertes Tor vor uns aufragen. Thor klopft an, er hält mich fest, da ich mich kaum alleine auf den Füßen halten kann.
»Wer verlangt Einlass?«, ruft eine Stimme von oben.
»Thor, Sohn Odins aus Asgard, und Eira Anderson von der Erde.« Unsicher sieht der Gott des Donners zum Palast auf.
Das wäre ungünstig, wenn wir den ganzen Weg durch die eisige Hölle zurückgelegt hätten, nur um dann vor diesem Tor zu stehen und zu erfrieren. Doch stattdessen öffnet sich das Tor. Wir werden hereingelassen. In der Eingangshalle steht eine Frau, die uns mit offenen Armen begrüßt. Ihre roten Haare glänzen im Licht der Fackeln.
Sie schenkt uns ein warmes Lächeln. »Willkommen, Freunde, in Folkwang.«
Die Hallen der Freya liegen am Rande Vanaheims. Allerdings mussten wir durch Niflheim reisen, um zum Portal zu gelangen, das diese beiden Welten verbindet. Es ist das Einzige, was direkt zu diesem Ort führt. Ich werde in ein heißes Bad gesteckt und von Kopf bis Fuß gewaschen und eingecremt. Ich fühle mich, als wäre ich in eine Badewanne voller Feuerameisen gesteckt worden, so sehr brennt das Wasser, als die Wärme in meine tauben Hände und Füße zurückkehrt. Doch die Hitze hat auch etwas Gutes, und ist mir nach unserer Wanderung und meiner Nahtoderfahrung in Niflheim sehr willkommen.
Frisch gebadet und in zwei zusätzliche Lagen Fell gewickelt sitze ich später in Freyas großer Halle. Vor mir steht ein Becher eines Getränks, das an heiße Schokolade erinnert. Am Kopfende der Tafel sitzt die Herrin des Hauses persönlich, Freya, Tochter des Njörd. Ihre Anmut durchstrahlt den Raum, keine kalte Schönheit wie die der Lichtelfen, sondern der Glanz, der von einem liebreizenden Charakter herrührt. Von der Vanirgöttin der Liebe, der Ehe und des Glücks hätte ich auch nichts Geringeres erwartet.
Und Freya hat Katzen. Eine ganze Hundertschaft davon, in allen Rassen und Größen. Die meisten haben ganz normale Hauskatzen-Größe, doch es gibt auch einige Dutzende, die mehr an Löwen erinnern, und sogar zwei oder drei Katzen in der Größe eines Babyelefanten habe ich schon gesehen.
»Habt Ihr es warm?«, fragt Freya.
Ich nicke. Noch fühlt sich meine Nasenspitze eisig an, doch zumindest wärmt das Getränk mich von innen auf. Nicht so wie der Kuss, der meine Haut in Feuer verwandelt und mich vermutlich vor dem Erfrieren gerettet hat – aber immerhin.
Thor kommt durch einen Seiteneingang in die Halle. Ihn ohne Rüstung zu sehen ist ein ungewohnter Anblick, doch noch seltsamer wirkt es, wenn er nur ein Leinenhemd und lederne Hosen trägt wie ein einfacher Bewohner Vanaheims. Seine Arme schauen jedoch aus den Hemdsärmeln hervor, wie ein in Marmor gehauenes Kunstwerk aus Sehnen und Haut. Als er sich mir gegenüber an den Tisch setzt, zwinge ich mich, stattdessen die Tischplatte zu fixieren. Doch den Duft, der von seinen gewaschenen Haaren herrührt, kann ich nicht ausblenden.
Freya lässt auch Thor einen Becher der heißen Schokolade bringen. »Durch Niflheim zu reisen... Was habt Ihr Euch dabei gedacht?«
Kritisch beäugt Thor das Getränk. Er schiebt eine der Katzen zur Seite, die es sich auf seinem Schoß bequem machen wollte. »Aus den Hallen Aegirs gab es kein anderes Entkommen. Euer Vater Njörd sagte, es wäre der einzige Weg, um zu Eurem Palast zu gelangen.«
»Und was führte Euch zu Aegir?«
Ich spüre Thors Blick auf mir liegen, als erwarte er von mir, dass ich ihm beim Erzählen der Geschichte unterstütze. Ich bleibe stumm. Sowieso erzählen wir jedem, den wir auffinden, das Gleiche. Thor beginnt also, Freya den bisherigen Verlauf unserer Reise zu schildern und erzählt ihr von den Infinity-Steinen. Als er von Andvaris Schatz und meiner anschließenden Entführung durch den Nöck berichtet, verkrampft sich mein ganzer Körper. Ich kann nur daran denken, was der Zwerg über meinen Vater gesagt hat. Gierige Hände bringen den Tod: Schlaf und Krankheit bringen den Tod, und er sollte darunter leiden. Trotz der Wärme in der Halle beginne ich wieder zu frieren.
»Eira?«
Ich tauche aus meinen Gedanken wieder auf, und sehe Thors besorgtes Gesicht vor mir, Freyas glänzendes Haar zu meiner Linken, und eine Waldkatze neben mir auf dem Tisch.
»Ihr seid müde, nicht wahr?«, fragt die Göttin. »Gut, wir reden morgen weiter. Ich sage den Bediensteten, sie sollen den Kamin in Eurem Zimmer anfachen.«
Das Bett ist um Längen bequemer als die Pritsche in Nidavellir oder das Moos in Alfheim. Doch es ist auch groß, und trotz des Kamins, der das Zimmer in ein flackerndes, warmes Licht taucht und der zusätzlichen Decke ist mir kalt. Eine von Freyas Katzen sitzt auf der Bettdecke und maunzt mich vorwurfsvoll an, als ich sie wegscheuche.
Leise knarzend öffnet sich die Tür. Sobald ich die Gestalt ausmachen kann, die das Zimmer betritt, setze ich mich in meinem Bett auf. Natürlich ist es Thor.
»Darf ich reinkommen?«, fragt er überflüssigerweise.
»Natürlich.« Ich kann ihn nicht ignorieren. Nicht nach allem, was heute passiert ist.
Er setzt sich zu mir auf das Bett, und es sinkt unter seinem Gewicht nach unten. »Möchtest du über das reden, was an Andvaris Teich geschehen ist?«
Ich ziehe die Knie an, die Arme defensiv vor meinen Schienbeinen verschränkt. Der schleimige Zwerg ist wohl das letzte, womit ich mich gerade beschäftigen will. Gerade, wenn es mit meiner Familie in Verbindung steht.
»Wusstest du...?«
»Ich wollte nie wissen, was er getan hat«, sage ich bitter. »Es spielte auch keine Rolle, Finnegan und ich hatten den Fluch nun mal, und es ließ sich nicht rückgängig machen. Es war genug, zu wissen, dass er es getan hat.«
»Andvari ist ein heimtückisches Wesen, bei ihm kann man–«
»Du brauchst meinen Vater nicht zu verteidigen. Er hat einen unglaublich egoistischen, rücksichtslosen Fehler begangen. Das wissen wir beide.« Ich presse die Lippen aufeinander, als meine Augen vor Wut zu prickeln beginnen. »Ich hätte nicht mit dir mitkommen sollen. Es war dumm von mir. Du könntest schon durch alle Neun Welten gereist sein, wenn ich dich nicht aufgehalten hätte.«
Thor zieht die Augenbrauen zusammen. »Sag das nicht. Sonst hättest du niemals gelernt, mit deiner Gabe umzugehen.«
»Ist es tatsächlich eine Gabe? Oder doch eher ein Fluch?«
»Niemand in den neun Welten könnte je so zornig auf dich sein, um sich mit einem Fluch an dir rächen zu wollen.«
»Aber es ist Andvaris Fluch«, beteuere ich.
»Nicht du wurdest verflucht, sondern dein Vater. Er musste teuer dafür bezahlen, dass er den Andvaranaut berührt hat.«
Vater hat seine Familie verloren. Seine Arbeit. Seinen Verstand. Der Mensch, der auf der Veranda des kleinen Häuschens in Dorset stand, war nicht länger Alexander van Houten, der Professor und Wissenschaftler, er war ein gebrochener Mann, zur Einsamkeit verdammt; ein schlimmeres Schicksal als der Tod.
»Bring mich zurück zur Erde«, bitte ich Thor. »Oder zu Hoguns Dorf. Ich bringe uns nur beide in Gefahr.«
Thor nimmt behutsam aber bestimmt meinen Kopf in seine Hände und zwingt mich so, ihn anzusehen. »Niemand konnte wissen, dass ein Nöck in dem Tümpel wohnte. Und du hast dich eigenständig aus Aegirs Gefangenschaft befreit. Njörd hat uns geholfen, zu fliehen. Es ist nichts passiert. Aegir ist bloß ein alter Mann, der aufs Metbrauen versessen ist, und seine Frau ist kaum zu Hause. Die beiden werden den Vorfall längst vergessen haben.«
Ich schließe die Augen und lasse meine Stirn gegen die Thors sinken. Er versteht es nicht. Ich verstehe es ja nicht einmal selbst. Wo stehen wir? Ich habe das Gefühl, als wären wir wieder bei null angelangt. Unsere gemeinsamen Stunden in Vanaheim scheinen sich in Luft aufgelöst zu haben, als hätten wir in einer Traumblase gelebt, die nun zerplatzt ist. Ich kann mich nur noch an diese Berührung klammern.
Thor erhebt sich vom Bett.
»Bleib«, flüstere ich. Ich wünsche mir, dass er geht. Dass er mich nicht zwingt, meine Meinung ein zweites Mal zu ändern, nur um bei ihm zu bleiben, anstatt auf die Erde zurückzukehren. Er braucht es nur zu sagen, und ich kann nichts anderes tun, als ihm zu glauben. Nadaia hatte unrecht. Ich hänge zu sehr an ihm. Seit er in London aufgetaucht ist, ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten. Als würde ich blind auf einer Straße fahren, ohne zu wissen, was am Ende auf mich wartet. Ich würde überall mit ihm hingehen, und gerade deshalb kann ich meinem inneren Zwiespalt nicht entfliehen.
»Heute nicht, meine Liebe«, murmelt Thor, drückt mir einen federleichten Kuss auf die Wange und legt mir die Decke um.
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