15.3 | Vanaheim
Am gleichen Abend kommen auch ein paar Händler zurück, die vom Markt Gewürze und Luxuswaren mitgebracht haben. So auch ein Fass Met, ein mit Kirschen gegärter Honigwein und scharfen Gewürzen, den sie hier Drachenblut nennen. Um den Schock des Tages zu verdauen nehme ich einen Becher des Mets an. Er schmeckt süß, viel besser als das Bier der Zwerge, und die Schärfe der Gewürze wärmt mich von innen heraus auf. Nadaia bleibt an Eryks Seite, den sie zurück in die Hütte der Familie gebracht haben, und nach dem Abendessen verabschiedet sich auch Hogun, um nach seinem Schwager zu sehen. Ingi hat sich ebenfalls davongemacht, und zum ersten Mal seit Tagen sind Thor und ich alleine. Wir sitzen an der Feuerstelle in der Mitte der Halle, denn obwohl die Tage lauwarm sind, wird es nachts frisch.
»Deine Arbeit beim Beherrschen deiner Kräfte macht Fortschritte«, sagt Thor.
»Hm«, sage ich. Ich nehme einen weiteren Schluck aus meinem Becher. Der Met ist wirklich köstlich.
»Das ist gut«, redet er weiter.
Noch ein Schluck. Ich vermeide den Blickkontakt.
»Eira? Ist etwas?«
»Wie kommst du drauf?«
»Du bist zwar schweigsam, aber nie so verschwiegen.«
Ich seufze. Der Honigwein ist beinahe alle. Thor rückt seinen Hocker näher an mich heran.
»Wo warst du die letzten Tage?«, frage ich, den Blick immer noch auf das Feuer gerichtet.
»Hogun und ich sind durch die Dörfer der Umgebung gereist, um nach Erzählungen über die Infinity-Steine zu forschen.«
»Hattet ihr Erfolg?«
»Leider nein. Bis jetzt. Doch ich werde noch nicht aufgeben.«
Das heißt, wir werden noch länger hierbleiben. Nicht, dass ich die Gesellschaft der Dorfbewohner nicht schätzen würde, doch in Thor habe ich mehr Vertrauen. Ihn kenne ich (wenn auch geringfügig) länger, und er mich. Auf Knowhere und Nidavellir war er mein einziger Halt, mein einziger Anhaltspunkt zum ›Normalen‹. Und in den letzten Tagen kam ich mir ein wenig verloren vor.
Thor deutet mein Schweigen auf seine Weise. »Ich hatte den Eindruck, dass es dir hier in Vanaheim gefällt«, sagt er, und Überraschung überzieht sein Gesicht.
»Aber nicht ganz allein«, murmele ich.
»Allein? Hoguns Schwester und Ingi waren da, um dir Gesellschaft zu leisten. Die Dorfbewohner mögen dich.«
»Und du hast damals vor dem Haus meines Vaters gesagt, wir müssten zusammen nach den Infinity-Steinen suchen.«
Er runzelt die Stirn. »Ich dachte, du bräuchtest Zeit, um mit deinen Kräften umzugehen. Ich wollte dich nicht stören.«
Ich seufze. Und komme mir blöd vor. Ich hebe meinen Blick und sehe ihm nun endlich ins Gesicht. Selbst im Schein des Feuers leuchten seine Augen in kristallklarem Hellblau. Ich habe ihm geholfen, als er nach meinem Vater gesucht hat. Ich bin ihm von der Erde gefolgt, bis ins Weltall. Und ich weiß nicht, was mich dazu verleitet hat; sein ganzes Wesen, seine Herkunft, sein Verhalten, alles an ihm hat mich fasziniert.
»Du hast mich hierhergebracht. Ohne dich hätte ich niemals diese Möglichkeit in Betracht gezogen, meine Kräfte zu etwas Gutem nutzen zu können. Es ist nur ein kleiner Hoffnungsschimmer, aber er ist da, und in Zukunft werde ich es vielleicht schaffen. Wenn mich jemand beim Training stören darf, dann du. Ich könnte dich und Hogun beim nächsten Mal begleiten.«
»Es sind lange Reisen bis zu den Dörfern. Bis wir keinen vielversprechenden Anhaltspunkt haben, will ich dich nicht damit belasten.«
Thors Ausdrucksweise bringt mich zum Schmunzeln. »Mich belasten? Wenn du wüsstest, was Nadaia jeden Tag für die Trainingseinheiten geplant hat, sind eure Wanderungen sicher ein Kinderspiel dagegen.«
»Und wenn Monster angreifen?«
»Du sagtest, Vanaheim sei ein vorwiegend friedlicher Planet«, argumentiere ich.
»Und doch gab es noch ein Rudel Bilgenschweine, die es auf die Jäger abgesehen haben«, kontert er.
»Wie genau sehen Bilgenschweine eigentlich aus?«
»Schuppig, wie ein Reptil, aber so groß wie ein Bär. Und sie haben riesige Geweihe.« Er hebt die Hände hoch, um seine Aussage zu verbildlichen, und wirft Schatten an die Wände.
Ich lächele nur in meinen nun leeren Metbecher, um nicht schon wieder auf seine Arme starren zu müssen. Der Alkohol rauscht durch meine Blutbahn und wärmt meine Wangen.
»Ich kann dich nicht vor deinen Kräften schützen, doch vor allem anderen«, sagt Thor. »Und das werde ich auch versuchen.«
Ich beuge mich leicht nach vorne, stütze meinen Ellenbogen auf den Oberschenkel und wende den Kopf zu Thor. »Du hättest mich fast an den Collector verkauft«, erinnere ich ihn.
»Das hatte ich nie vor.« Er zwinkert mir zu und leer seinen Metbecher. Manchmal kann ich nicht genau sagen, ob Thor mit mir flirtet oder ob das einfach nur seine höfliche Art ist. »Du bist besonders, Eira. Du hast die Fähigkeit, Menschen zu helfen.«
»Oder Schaden anzurichten«, füge ich hinzu.
»Alles eine Frage der Einstellung.«
»Du willst mir also sagen, dass ich zwölf Jahre lang einfach nur die falsche Einstellung hatte?« Ich schüttele den Kopf, wobei sich einige Strähnen aus meinem wirren Flechtzopf lösen.
»Es brauchte nur einen Anstoß.« Thor steckt eine lose Strähne hinter mein Ohr.
Ich sehe zwischen seinen beiden Augen hin und her, und bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob das warme Gefühl in meinem Magen vom Met herrührt, oder von Thors Nähe. Die Luft zwischen uns prickelt. Das Feuer neben uns wirft tanzende Schatten auf unsere Gesichter. Thor lehnt sich noch ein Stück weiter zu mir. Was, hat er etwa vor, mich zu küssen? Ein Teil von mir fragt sich, warum nicht? Wir sind Erwachsene und keine kleinen Kinder, keine hormongesteuerten Teenager, es ist in Ordnung. Ein anderer, leicht zu ignorierender Teil verurteilt mich bereits im Vorhinein, mich auf so eine Dummheit einzulassen. Ich habe doch gesehen, welche Blicke ihm die anderen Frauen im Dorf zuwerfen. Er ist der Kronprinz von Asgard, sieht umwerfend auf und ist noch dazu unverschämt höflich. Wieso gerade ich?
Ich weiche nicht zurück. Als Thor sich weiter in meine Richtung lehnt, und seine Lippen auf meine legt, weichen alle Bedenken von mir. Die Elektrizität, die ihn normalerweise umgibt, geht auf mich über und setzt meinen ganzen Körper unter Spannung. Ich spüre die ungeduldige Leidenschaft, die in dieser Berührung liegt, doch auch Behutsamkeit, als hätte er Angst, mich zu zerbrechen. Von dem Moment an, als er noch ohne mich vor dem Haus meines Vaters verschwunden ist, wurde mir immer klarer, wie sehr ich mich zu dem Asgardianer hingezogen fühle. Doch ich wusste bis jetzt nicht, wie sehr.
Es ist nur ein kurzer Kuss, der viel zu viel in mir durcheinanderbringt. Ich habe gar nicht die Zeit, alle Gedanken zu ordnen, bis der Moment wieder vorbei ist.
»Du hattest zu viel Met«, murmele ich.
»Von diesem Met werde ich nicht betrunken«, gibt Thor zurück. Seine Bartstoppeln kratzen über meine Wange, als seine Lippen sich erneut meinen nähern. Er streicht mit seinem Daumen durch meine Haare.
Mein ganzer Körper steht unter Spannung, als hätte ich eine unisolierte Stromleitung angefasst. Meine Wangen glühen. Ich nehme alle meine Willenskraft zusammen und schließe für einen Moment die Augen, den Geschmack des Drachenbluts immer noch auf meinen Lippen. »Thor«, sage ich in beherrschtem Tonfall, und er zieht seine Hand zurück.
»Verzeihung, fals ich eine Grenze überschritten haben sollte. Ich wollte nicht–«
»Nein, das ist es nicht«, beeile ich mich zu sagen. »Es war nur...« Ich suche nach dem richtigen Wort, »überwältigend.«
Thor räuspert sich. »Du hast Recht, vielleicht war es ein wenig zu viel«, sagt er und rollt seinen leeren Becher in den Händen.
»Nein, wirklich nicht«, beteure ich. »Es kam nur unerwartet.«
Das Feuer brennt langsam aus. Einige Holzscheite knistern noch. Die Schatten werden länger. Ich räuspere mich. »Ich – geh dann jetzt schlafen.«
»Ja, natürlich.«
»Also, bis, uh, morgen.«
»Hm.« Er starrt auf einen unbestimmten Punkt jenseits des Feuers.
Ich stehe auf, stelle den Becher auf dem Tisch ab, und ziehe den gewebten Umhang fester um meinen Oberkörper. Dann, ich kann nicht genau sagen, warum, drücke ich Thor noch einen Kuss auf die Lippen. Ich spüre, wie er in den Kuss hineinlächelt, dann lasse ich von ihm ab und flüchte mich in mein Schlafzimmer. An die Tür gelehnt lege ich mir eine Hand auf die Stirn, um mich abzukühlen. Ich kann nicht aufhören, zu lächeln.
• • •
Nadaia setzt das Training fürs Erste aus, also übe ich in den nächsten Tagen entweder allein oder mit Thor, wenn sich die Gelegenheit bietet. Er ist häufiger im Dorf, auch, um mit mir eventuelle neue Kenntnisse zu teilen. Viel gibt es nicht zu erzählen. Doch seinen Reiseberichten höre ich gerne zu, gerade weil er immer noch Anekdoten von vergangenen Schlachten einfügt, die er mit den Tapferen Drei und Lady Sif geschlagen hat. Hogun berichtigt ihn des Öfteren, doch das vermindert die Laune des Donnergottes nicht. An anderen Tagen wiederum hole ich mein Skizzenbuch hervor, setze mich ans Ufer des Sees und zeichne. Das Buch ist eines der wenigen Dinge, die ich von der Erde mitgenommen habe, es war noch in meiner Tasche, als Thor und ich von Dorset aufgebrochen sind.
An einem besonders kühlen Morgen trainiere ich gerade auf unserem üblichen Platz, als Nadaia zu mir stößt.
»Dachte ich mir doch, dass ich dich hier finde«, sagt sie, schnappt sich ebenfalls einen Stab und startet einen Angriff gegen mich.
»Wo sollte ich sonst sein?«, frage ich und pariere einen ihrer Schläge.
»Ich wollte dich wecken, heute früh schon, doch dein Zimmer war leer.« Ein wissendes Lächeln umspielt ihre Mundwinkel.
»Was willst du damit sagen?« Ich kann bereits spüren, wie meine Wangen rot werden, und das nicht von der Kälte.
»Das weißt du ganz genau.«
Ihrem nächsten Schlag kann ich nicht ausweichen, sie fegt mir die Beine unter dem Körper weg und ich lande auf dem Rücken. Sie dreht den Stab in ihren Händen und stößt ihn neben sich auf den gefrorenen Boden.
»In so kalten Nächten ist es vermutlich besser, jede Möglichkeit wahrzunehmen, um sich warm zu halten.«
Es ist nicht so, wie sie denkt. Thor und ich reden abends in seinem Zimmer miteinander, da es einfacher ist, einen einzigen Raum zu heizen als die gesamte große Halle, und gestern bin ich möglicherweise dort eingeschlafen.
»Wie geht es Eryk?«, frage ich, um das Thema zu wechseln, und rappele mich wieder hoch.
»Viel besser. Danke, nochmals. Katla ist bei ihm. Sie ist ein wenig frustriert, dass er mit ihr nicht in den Wald geht, um Rehe zu beobachten, aber sie kommt drüber hinweg.«
Ich hole aus, Nadaia blockt ab, nutzt meinen Schwung, um den Schlag zurückzugeben, ich ducke mich, wirbele herum, und gerade, als sie den Stab mit einer Hand loslässt, um einen Frontalangriff zu starten, schlage ich ihr diesen aus der Hand.
Nadaia ist mindestens so erstaunt, wie ich es bin. »Gut, Eira«, sagt sie. »Du machst Fortschritte. Ich bin sicher, Ingi wird sich freuen, das zu hören.« Sie hebt ihren Stab wieder auf, dann fällt ihr Blick auf etwas hinter mir.
Auf Pferden sitzend stehen Thor und Hogun Rand des Waldes. Beide winken uns zu. Nadaia hebt ebenfalls eine Hand zum Gruß. Dann zügelt Hogun als erster sein Pferd und reitet den schmalen Pfad entlang in den Wald hinein. Thors Blick verharrt einen Moment länger auf mir, und er ergänzt den Gruß um ein breites Lächeln, das ich zaghaft erwidere. Erst, als die beiden Männer verschwunden sind, verlagere ich meinen Fokus wieder auf meine Kampfpartnerin.
Nadaia schüttelt leicht den Kopf. »Er ist dir voll und ganz verfallen, Eira.«
Ich hole mit dem Stab nach ihr aus.
»Der Kronprinz von Asgard!«, ruft sie lachend und duckt sich weg.
• • •
Am hinteren Ende der großen Halle führen zwei Türen zu großzügigen Gästezimmern. Sie ähneln sich in Größe und Ausstattung – ein großes Bett mit Decken und Fellen, zwei runenverzierte Truhen, eine Feuerstelle in der Ecke des Raumes und sogar mit Läden verschließbare Fenster. Eines der Zimmer steht seit einigen Tagen leer. Im anderen liegen Thor und ich im Halbdunkel der Nacht. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie es angefangen hat. Irgendwann hat es sich einfach so eingespielt, dass ich mir abends nicht mehr die Mühe mache, in mein Zimmer zu gehen. Nadaia hat Recht; die Nächte sind kalt.
Ich wickele eine von Thors Haarsträhnen um meinen Finger. »Diese schwarze Strähne, die du hier eingeflochten hast... was hat sie zu bedeuten?«
Er verschränkt seine Finger mit meinen. »Es ist Lokis Haar. Als ich ihn in Svartalfheim verloren habe, blieb nichts von ihm übrig, was wir hätten bestatten können. Mit dieser Strähne habe ich zumindest noch ein Andenken an ihn.«
»Eine hübsche Idee«, murmele ich.
Frostiger Wind rüttelt an den Fensterläden. Durch die undichten Stellen im Holz dringt Kälte in den Raum. Ich vergrabe mich tiefer in den Fellen. Den Kopf an Thors Brust gelegt lausche ich seinem langsamen Herzschlag.
»Thor?«, frage ich leise. »Wie lange willst du noch quer durch Vanaheim reisen, um nach einer Spur der Infinity-Steine zu suchen?«
»Bis wir einen gefunden haben.« Sein Brustkorb vibriert bei jedem Wort.
»Es gibt hier nichts mehr für uns«, flüstere ich. »Vielleicht sollten wir einfach weiterziehen. Uns stehen noch sechs Welten offen.«
»Vanaheim ist ein friedlicher Ort–«
Ich stütze mich auf die Ellenbogen. »Komm mir nicht schon wieder damit. Das hilft uns bei unserer Suche nach den Infinity-Steinen auch nicht weiter. Vermutlich müssen wir Risiken eingehen, das hast du selbst gesagt. Wir sollten in anderen Welten suchen. Und wenn wir dort nicht fündig werden, können wir immer noch hierher zurückkehren.«
»Und was ist mit den Dorfbewohnern?«
»Ich bin eine Fremde für sie. Auch wenn ich unter ihnen lebe, wird mich das zu keiner der ihren machen. Ich werde immer die fremde Midgardianerin sein.«
Thors Silhouette bewegt sich. Ich spüre eine Hand an meiner Wange. »Für mich bist du keine Fremde. Vielleicht gehörst du nicht hierher, doch du gehörst zu mir.«
Die tiefe Überzeugung, mit der er es sagt, lässt mein Herz für einen Moment flattern. Ich seufze. »Nyrad und Wig erzählten mir von einem Zwerg namens Andvari, der in Alfheim lebt und auf einem Berg an Schätzen hockt.«
»Andvaris Hort ist verflucht, das weiß jeder.«
»Ist das dann nicht der beste Ort, um einen Infinity-Stein versteckt zu halten?«
Thor schweigt. Entweder denkt er über meine Aussage nach, oder er ist eingeschlafen.
»Du musst selbst zugeben, meine Argumente sind schwer wiederlegbar«, sage ich.
»Leider.« Er will mich küssen, trifft im Dunkeln aber nur meine Nase. Darum helfe ich ihm, beim nächsten Versuch meine Lippen zu finden.
»Also... Alfheim?«, frage ich dann.
Es folgt wieder eine kurze Pause. »Alfheim.«
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