10 | Union Chapel
Wie in Trance stehe ich auf, sammele die Runensteine zusammen und stecke sie in die Tasche meines Mantels, ehe ich mir diesen umlege.
»Du hast nicht wirklich vor, dorthin zu gehen, oder?«, fragt Thor.
»Ich muss«, sage ich. »Finnegan ist mein Bruder.«
»Er könnte gefährlich sein.«
»Du hast mir selbst gesagt, er hat eine zweite Chance verdient«, sage ich und winde mir meinen Schal um den Hals. Ich greife nach den Handschuhen. »Und wenn nicht... dann habe ich ihn wenigstens noch einmal gesehen.« Ich öffne die Tür.
»Lass mich mitkommen«, verlangt Thor und versperrt mir mit seinem Arm den Weg.
»Nein. Das muss ich alleine mit ihm klären. Du bleibst hier, und morgen fahren wir gemeinsam nach Dorset. Ich komme bald wieder, versprochen.«
Wirklich überzeugt sieh er nicht aus. Er hält bereits Mjölnir in der Hand.
»Vertrau mir einfach«, bitte ich ihn.
Sein angespannter Gesichtsausdruck lockert sich. Trotzdem zögert er, auch, nachdem er die Tür wieder freigegeben hat. »Pass auf dich auf. Und auch auf ihn. Sollte er dir irgendwie Schaden zufügen...«
»Ich komm schon klar.«
Es ist bereits dunkel, als ich aus der Haustür trete, und noch dunkler und kälter, als ich an der U-Bahn-Station in der Nähe der Union Chapel aussteige.
Von außen sieht die Kirche wenig spektakulär aus. Ein hoher Turm in der Mitte, zwei kleinere Seitenschiffe, ein Rosenfenster über dem Haupteingang. Der gotische Baustil erinnert mich an das Pembroke College in Oxford, und sofort wird mir etwas kälter. An der Tür stehen Eintrittszeiten, über die ich schon weit hinweg bin, doch trotzdem lässt sich die Tür öffnen.
Zwei Dinge überraschen mich. Von innen wirkt die Kirche riesig. Vor mir sind Reihen von Holzbänken, in den Seitenschiffen oben und unten ebenfalls, und über mir müssen sich auch noch Sitzplätze befinden. Außerdem ist um die Kanzel herum eine Bühne aufgebaut, mit Lausprechern, Scheinwerfern, Kabelrollen und Musikinstrumenten. Wenn ich mich recht erinnere, gehört so etwas nicht in eine konventionelle Kirche. Dann ist da die Orgelmusik. Die Akustik ist atemberaubend. Ich erwische mich dabei, wie ich einige Minuten lang im Mittelgang des Kirchenschiffs stehe, das Rosenfenster an der gegenüberliegenden Wand anstarre und der Musik lausche. Doch ich kann nicht einordnen, wo sie herkommt.
Ich gehe vorsichtig ein paar Meter den Mittelgang entlang. Sie hallen auf dem Boden wider, und abrupt stoppt das Orgelspiel. Ich halte den Atem an. Schritte nähern sich, es klingt, als würden sie eine Treppe hinuntersteigen. Und dann erscheint eine Person vor mir, die ich vermutlich nicht auf den ersten Blick erkannt hätte, wäre ich nicht darauf vorbereitet gewesen, sie hier zu sehen.
»Finnegan«, sage ich, und meine Stimme wird tausendfach verstärkt und durch das Kirchenschiff getragen.
»Kleine Schwester«, sagt er.
Für eine unbestimmte Zeit mustern wir uns gegenseitig. Das Bild von ihm, das ich nach seinem Verschwinden behalten habe, und sich in meinen Gedanken festgesetzt hat, kann trügen, doch irgendwie hatte ich ihn fröhlicher in Erinnerung. Die hohlen Wangen und das kantige Gesicht passen nicht in dieses Bild. Doch seine Augen strahlen immer noch etwas Wärme aus. Das sind nicht die Augen eines Geisteskranken. Leider weiß ich es besser.
»Wieso hast du mich herbestellt?«, frage ich so leise wie möglich.
»Ich wollte dich sehen. Mutter hat es mir jahrelang verboten.«
»Aber auf diese Weise?«
»Wie sonst hätte ich deine Aufmerksamkeit bekommen können?«
Ich schließe die Augen, um mich für einen Moment zu sammeln. »Drei Menschen«, sage ich. »Drei Menschen sind gestorben. Deinetwegen und durch dich. Was haben sie dir getan?«
Er senkt lächelnd den Blick und spaziert durch die Reihen der Holzbänke. »Wusstest du, dass diese Kirche nicht nur eine Konzerthalle, sondern auch eine Anlaufstelle für Obdachlose ist?«
»Lenk nicht vom Thema ab.«
»Nein, ich will auf etwas hinaus. Ich kam also in diese Stadt, nachdem ich mich von Mutters Klauen befreit habe...«
»Sie liebt dich mehr als du denkst«, werfe ich ein.
»Sie wollte uns unter ihrer Kontrolle haben. Deshalb bin ich abgehauen. Weil ich es nicht ertragen konnte. Wie kannst du mir das übel nehmen? Erst letztes Jahr hast du das gleiche getan. Als ich nach London kam, hatte ich nichts. Nicht einmal jemanden, bei dem ich unterkommen konnte, so wie du. Ich konnte mich alleine durchschlagen. Und irgendwann hörte ich von dieser Kirche, ging dort hin, hatte eine warme Mahlzeit, und irgendwie... irgendwie war ich dankbar dafür. Ich habe mich akzeptierter und aufgehobener gefühlt als in den ganzen neunzehn Jahren davor.«
»Finnegan...«
»Unterbrich mich nicht!«, fährt er mich an.
Ich verstumme.
»Natürlich dauerte es nicht lange, bis ich einen von ihnen berührte.« Er macht eine Puff Bewegung mit seinen Händen. »Innerhalb einer Woche starb der Mann. Ich weiß nicht einmal mehr, welche Krankheit ich ihm auf den Hals gehetzt habe. Ich stand unter Schock. Doch Pfarrer Jones nahm sich Zeit für mich. Ich erzählte ihm von dem Fluch. Er glaubte mir aufs Wort. Er half mir, es zu verstehen. Und mit seiner Hilfe«, er deutet mit dem Zeigefinger nach oben, »schaffte ich es, es zu kontrollieren.«
»Der Fluch hat nichts mit deinem Gott zu tun.«
Finnegan dreht sich wieder zu mir. »›Eine offene Gemeinschaft, die den Glauben in herausfordernden Zeiten erforscht und neu belebt.‹ Das ist das Motto dieser Gemeinde. Deshalb habe ich nach dir gesucht. Damit auch du deine Kräfte verstehen lernst. Du brauchst Vertrauen in dich selbst. Du musst glauben.«
Ich glaube nur an das, was ich sehe. Und das ist mein entfremdeter Bruder, der offensichtlich den Verstand verloren hat. Doch wie könnte ich ihm helfen? »Mutter gibt Vater die Schuld an allem«, sage ich.
»Und du weißt, dass das stimmt.«
Ich blicke zur Seite. »Es war ein Unfall.«
»Und deshalb vergibst du ihm? Für seine Unvorsichtigkeit? Ich hege keinen Groll mehr gegen ihn. Weil ich meine Kräfte zu schätzen gelernt habe. Nein, im Gegenteil, ich bin ihm sogar dankbar dafür.«
»Dann sag mir, warum die Toten?«
»Weil du nur so wissen konntest, dass ich es war.«
»Und wenn du Vaters Glauben entsagt hast, wieso dann die Hinweise? Die Kette? Die Runensteine?«
Finnegan lächelt. »Kinderspielereien. Ich wusste, dass du sofort eine Verbindung zu unserer Kindheit schaffst. Und du bist schlau. Schlau genug, niemandem zu vertrauen. Ist das der Grund, warum du deinem großen, blonden Freund nichts über mich erzählt hast? Über Vater? Darüber, wie der Fluch zu uns kam?«
»Er sucht nur nach Informationen, die Vater ihm geben kann«, weiche ich aus. An Thor will ich in dieser Situation gar nicht denken.
»Und was, denkst du, sind das für Informationen? Worüber könnte Vater mehr Bescheid wissen als darüber, wie man Dinge verflucht und Leben ruiniert?«
»Das will er nicht. Er denkt–« Die Infinity-Steine. Ohnegleichen in ihrer Zerstörungskraft. Drei bisher gefunden. Sechs insgesamt. Was hat Thor mit ihnen vor? Will er sie zerstören, wenn er sie einmal gefunden hat? Halt, darüber brauche ich mir im Moment keine Gedanken zu machen. Und ich weiß mit Sicherheit, dass ich Finnegans Angebot nicht annehmen kann. »Ich werde nicht hierbleiben«, sage ich mit fester Stimme. »Und du auch nicht. Komm mit mir zu Vater, und vielleicht hat er mittlerweile einen Weg gefunden, den Fluch rückgängig zu machen.«
»Das denkst auch nur du«, spottet er. »Ich will diese Kräfte nicht loswerden. Ich brauche sie.«
»Finnegan, du weißt, dass es falsch ist, andere Menschen zu töten.«
»Das müsstest du ja wissen.«
Ich weiß, worauf er anspielt. Das Kindermädchen. In meinen Manteltaschen balle ich die Hände zu Fäusten. »Ich war zehn. Und niemand wusste von dem Ausmaß meiner Kräfte. Gerade Daisy nicht.«
Finnegan steigt auf die Bühne hoch und lehnt sich an die Kanzel. »In Ordnung, dann. Wenn du meine Hilfe nicht brauchst, dann renn ruhig weiter davon. Versteck dich auf ewig in diesen Handschuhen. Erzähl weiter Lügen.« Seine Augen wandern in der Kirche umher. »Und sag deinem Freund, er hätte nicht herkommen müssen. Es gibt keinen Grund zur Sorge. Ich würde dir niemals wehtun. Auf Wiedersehen, Eira.« Mit diesen Worten verschwindet er hinter einem Vorhang.
Schwankend drehe ich mich um. Wie betäubt gehe ich den Weg zurück zur Tür. Draußen schlägt mir die kalte Oktoberluft entgegen, und nachdem ich die schwere Holztür hinter mir habe zufallen lassen, setze ich mich auf die Steinstufen vor dem Eingang, schlinge die Arme um meinen Oberkörper und atme zittrig ein und aus.
Eine Gestalt löst sich aus dem Schatten des Nebeneingangs.
»So weit geht also dein Vertrauen in mich, ja?«, frage ich trocken, und mein Atem bildet kleine Wölkchen in der kühlen Abendluft.
»Ich vertraue dir, Eira. Doch ihm nicht.« Thor hockt sich vor mich hin. »Wie war das Gespräch?«
Ich weiche seinem Blick aus. »Hätte besser nicht laufen können. Doch zumindest wird er, jetzt, wo er mit mir geredet hat, mit dem Töten aufhören. Hoffe ich.«
»Auch, wenn es heißt, jeder hätte eine zweite Chance verdient, bedeutet das nicht, dass er diese auch ergreift. Dein Bruder hat sich dagegen entschieden.«
Meine Stimme versagt. Thor hat Recht. Doch es fällt mir schwer, die schmerzhafte Wahrheit, die in seinen Worten liegt, zu akzeptieren. Finnegan hat eine Entscheidung getroffen. Wie konnte ich nur glauben, dass er immer noch derselbe ist, nach all den Jahren? Die Kräfte haben ihn verändert, genauso, wie sie mich verändert haben. Und damit wären es schon zwei Familienmitglieder, von denen ich mich heute entfremdet habe.
Ich sollte wütend auf Thor sein, dass er mir einfach so gefolgt ist, obwohl ich ihn gebeten habe, das nicht zu tun. Doch irgendwie bleibt die Wut fern, und ich bin auf irgendeine Art dankbar, nicht alleine sein zu müssen. Mit Jenna kann ich über so etwas nicht reden, und sonst habe ich niemand anderen. Aber Thor versteht mich, ohne mir seinen Weg der Problemlösung aufzuzwingen. Vor vier Tagen war er noch ein Fremder, der mein Auto zerstört hat, und mir doch vom ersten Moment an vertraut hat. Ich konnte ihm nicht die gleiche Art des Vertrauens entgegenbringen. Und er verstand es auch noch und war nicht wütend auf mich. Wieso muss er nur so verdammt liebenswürdig sein?
Auch jetzt zieht er mich sanft, aber bestimmt, am Arm hoch. »Der Stein ist zu kalt, um lange darauf sitzen zu bleiben. Wenn du nichts dagegen hast, lass uns nach Hause gehen.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro