9. Türchen
Und schon sind wir beim neunten Türchen angekommen. Frohen zweiten Advent euch allen und auf eine gute zweite Dezemberwoche.
So und jetzt viel Spass beim Lesen :)
Einen ganz lieben Gruss
AliBDJ :)
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Der Abgrund und das Licht – Part 3
„Bitte Nora, öffne einfach deine wunderschönen Augen. Ich werde nicht zulassen, dass sie dich weiterhin belästigen. Ich vermisse dich“, hörte sie Luciens Stimme aus weiter Ferne. Er flehte sie an, nicht von ihm zugehen, hiess das, dass sie nicht tot war? Dass sie nicht gesprungen war? Ihr Magen zog sich zusammen und dann erst begriff sie den Rest seiner Worte. Er vermisst mich? Ein Kribbeln durchfuhr sie. Konnte das denn sein? Nora musste zu ihm. Sie musste ihn fragen, ob er das wirklich ernst meinte.
„Lucien? Wo bist du?“ Und wieder war alles dunkel. Der blaue Himmel war auf einmal verschwunden. Kein Gezwitscher, kein plätscherndes Wasser war mehr zuhören, nur diese schreckliche Dunkelheit, die ihr Angst machte und ihr sagte, wie alleine sie war. Niemandem konnte sie sich anvertrauen, seit langem nicht mehr. Das wollte sie einfach niemandem antun. Wie würde jemand reagieren, wenn er hörte, dass man nicht mehr leben wollte? Wenn man hörte, wie jemand über den eigenen Tod nachdachte und keine Scheue zeigte, sich dies wirklich anzutun? Nein, Nora wollte niemanden mit ihren Problemen belasten, aber trotzdem wollte sie, dass Lucien in ihrer Nähe war. Er war der Einzige gewesen, der sich wirklich für sie interessiert hatte. Sie vermisste ihn auch, doch was war, wenn die Worte von vorhin, nicht echt waren? Was war, wenn sie sich alles nur eingebildet hatte und niemand sie vermisste? Lebte sie den wirklich noch? Aber wenn ja, wo war sie und weshalb sah sie nichts ausser dieser Dunkelheit?
Nora wusste nicht mehr, was sie glauben und fühlen sollte. Sie wusste nicht mehr, was echt oder unecht war, alles fühlte sich so surreal an und doch spürte sie einen sanften Druck an ihrer linken Hand. Woher kam dieser? Was geschah nur mit ihr? Konnte sie denn nicht einfach aus ihrem furchtbaren Leben verschwinden? Nora hatte nur diesen einen Wunsch gehabt, diesen einen verdammten Wunsch und nun war sie in dieser Dunkelheit gefangen? Nein, so hatte sie sich das alles nicht vorgestellt. Sie wollte sich in den Tod stürzten und dann tauchte Lucien hinter ihr auf und redete auf sie ein. Er hatte sie dazu gebracht, ihm die Wahrheit zu sagen und sie hatte ihn dazu gebracht, dass er sein Meeting verpasste. Sie hatte ihm die Karriere versaut. Er konnte sie einfach nicht mehr mögen.
Wieso wollte sie ausgerechnet von diesem Dach springen? Oder wieso hatte sie sich nicht einfach in die Badewanne gesetzt und sich die Pulsadern aufgeschlitzt? Alles hörte sich besser an, doch sie wollte nur von diesem Dach springen. Sie hätte sich die Adern aufschneiden können, das wär kein Problem gewesen. Der Schmerz der sie dann für einen kurzen Moment aufschreien lassen hätte, hätte sie herzlich willkommen geheissen. Sie hätte zugesehen, wie sich ein scharfes Messer langsam den Weg durch ihre Haut bahnte und eine triefende Blutwunde hinterliesse. Sie wäre mit dem Geruch von Metall und Blut in ihrer Nase von dieser Welt gegangen. Es wäre der sichere Tod gewesen, denn auch Lucien hätte sie nicht rechtzeitig finden können.
Aber Nora wollte nur von diesem einen Dach springen. Bucklands wollte ihr Leben zur Hölle machen, dann sollten sie auch sehen, wie die Hölle aussah. Sie sollten sehen, wie es sich anfühlte, jeden Tag aufs Neue alle diese Schikanen zu ertragen. Sie alle sollten sehen, was sie davon hatten und nun? Wieso war Lucien um diese Zeit an dem Gebäude vorbei gelaufen? Wieso wollte sie sich bei ihm entschuldigen, als sie sah, dass er auf dem Weg zu ihr war? Weshalb war sie nicht gleich gesprungen? Sie wollte nicht mehr Leben, aber als Lucien auf sie einredete, hatte sie kurz gezögert und er nutzte diese Möglichkeit schamlos aus. Hatte er denn nicht gesehen, wie sehr sie litt? Er war ihr bester Freund und er wollte, dass sie weiter litt. Weshalb nur? Bedeutete ihm ihre jahrelange Freundschaft denn gar nichts?
Nora hatte auf einmal das Bedürfnis laut zu schreien. Wut keimte in ihr auf und sie wollte endlich weg aus dieser elenden Finsternis.
„Aaaa, ich will doch einfach nur, dass diese verdammte Scheisse endlich vorbei ist! Ich will einfach nur weg von hier!“, schrie sie so laut sie konnte und hörte, wie ihre Schreie in der Dunkelheit wiederhallten.
Lucien schreckte auf, als er plötzlich einen harten Schlag auf den Hinterkopf spürte. Er musste eingeschlafen sein, doch nun war er hellwach. Das Bild das sich ihm bot, erschreckte ihn, machte ihm Angst. Nora schlug mit ihren Händen um sich. Sie schien auf irgendetwas einzuschlagen und sich gegen irgendetwas zu wehren.
„Nora, wach auf! Ich bin hier! Wach auf, Nora!“, schrie Lucien und versuchte sie an beiden Armen ins Bett zurück zu drücken. Sie wehrte sich nur noch mehr und wollte sich aus seinem Griff befreien.
„Ich brauch sofort einen Arzt!“, schrie Lucien laut und drückte dabei auf den Notfallknopf neben dem Krankenbett, doch sofort hielt er Nora wieder am Arm fest. Ein lauter Schrei kam von ihr und ein kalter Schauer lief ihm den Rücken runter. Dieser Schrei hörte sich so fremd für ihn an, als käme er nicht von der Nora, die seine beste Freundin war. So viel Schmerz hörte er daraus, er wollte sie am liebsten fest in seine Arme nehmen und sie so lange festhalten, bis sie all die schrecklichen Monate vergessen hatte. Es schmerzte ihm selbst, Nora so zu sehen.
„Was ist passiert?“, wollte der Arzt von ihm wissen, sofort als er ins Zimmer eilte.
„Ich weiss es nicht. Sie hat plötzlich angefangen wild um sich zuschlagen. Sie wacht einfach nicht auf. Bitte, helfen Sie ihr.“ Luciens Stimme zitterte, doch er konnte einfach nicht ruhig reden. Noch immer hielt er Nora an beiden Armen fest, doch sie wehrte sich weiter und ihre Schreie hörten sich immer gequälter an. Seine Sorgen um sie stiegen stetig und er konnte die Tränen in seinen Augen nicht länger zurückhalten. Sie flossen über seine Wange und er wünschte sich, er könnte die Zeit zurückdrehen.
Als es ihr noch gut ging, als sie sich nicht vor ihm zurückzog. Für einen Moment schloss er seine Augen und sofort kamen die Erinnerungen an Weihnachten vor einem Jahr in den Sinn.
Sie alle hatten gelacht. Freunde und Familie waren dabei und alle kannten sie sich schon seit Jahren. Damals ging es Nora noch gut. Den ganzen Abend durch war sie glücklich gewesen und hatte immer wieder über alte Geschichten gelacht. Keiner hätte sich gedacht, dass sich in weniger als einem Jahr so viel verändern konnte und doch war es passiert.
Lucien merkte, dass Nora sich langsam beruhigte und aufhörte sich gegen seinen Griff zu wehren. Sie fiel langsam zurück in ihr Kissen. Er blickte auf sie herab, beobachtet ihre Gesichtszüge, die nun nicht mehr so angstverzerrt waren. Sie entspannte sich und zugleich schien es so, als wäre sie angespannter als zuvor.
„Ich habe ihr noch einmal ein Beruhigungsmittel gegeben müssen, jedoch nicht so stark, wie das letzte. Bitte rufen Sie mich sofort, wenn Ms Stanley aufgewacht ist. Es ist ungewöhnlich, dass es solange dauert und dass ich sie jetzt noch einmal ruhig stellen musste, gefällt mir nicht. Bitte, sobald sich ihr Zustand auf irgendeine Art verändert, sagen Sie mir Bescheid. Ich werde hier sein, sagen Sie einer Schwester, sie solle mich ausrufen lassen“, meinte der Doktor mit besorgter, aber dennoch freundlicher Stimme. Lucien war nicht im Stande etwas zu sagen. Er nickte nur und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Noras Bett. Er nahm ihre Hand in die seine und betete, dass sie bald aufwachte.
Nora lag nun schon seit mehr als einem Tag in diesem Krankenhaus und nun würde es noch länger dauern, bis sie wieder aufwachte. Wie konnte es nur soweit kommen, fragte sich Lucien zum wiederholten Male und noch immer hatte er keine Antwort darauf. Würde er je erfahren, wie es soweit kommen konnte? Würde sie ihm je erzählen, was genau vorgefallen war?
Früher hätte er sofort mit ja auf all diese Fragen geantwortet, doch heute war er sich nicht mehr so sicher. Sie hatte sich niemandem anvertraut, wie es ihr wirklich ging, sie war in sich gekehrt und hatte versucht alleine damit klar zu kommen. Und als sie das nicht mehr konnte, entschied sie sich lieber dafür, sich in den Tod zu stürzen, als mit ihm, ihrem besten Freund, darüber zu sprechen. Es tat Lucien weh, dass sie sich ihm nicht mehr anvertraute, aber er konnte es nicht ändern. Er war Nora auch nicht böse deswegen, wie könnte er auch. Er wusste nicht, wie er in ihrer Lage reagiert hätte, dennoch wünschte er sich, dass sie sich an ihn gewandt hätte.
Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken. Ein kurzer Blick aufs Display verriet ihm, dass es seine Schwester war. Kaum das er den Hörer am Ohr hatte, hörte er die Besorgnis in ihrer Stimme. Ja, nicht nur er machte sich Sorgen um Nora. Wieso glaubte sie nur, dass sie alleine auf dieser Welt war? Woher kam nur dieser Gedanke, fragte er sich.
„Lucien, wie geht es ihr? Ist sie schon aufgewacht?“ Er atmete erst tief durch, wollte sich sicher sein, dass seine Stimme nicht zitterte, doch als er begann, brach seine Stimme und wieder war er den Tränen nah.
„Ich weiss es nicht. Sie ist nicht…aufgewacht, aber… man musste sie wieder ruhigstellen“, flüsterte er in den Hörer. Seine Schwester schnappte nach Luft.
„Was? Aber… weshalb?“
„Ich… Sie hat um sich geschlagen und sich gegen irgendetwas gewehrt. Sie schrie, als würde ihr jemand Schmerzen zufügen, aber sie wachte einfach nicht auf. Es… es war so schrecklich. Ich wünschte, ich könnte ihr helfen, aber…“, sprudelte es aus ihm heraus.
„Lucien, du hilfst ihr, indem du bei ihr bist. Mach dich nicht fertig deswegen. Du wusstest nicht, was in ihr vorging. Woher hättest du wissen sollen, dass sie von diesem Dach springen wollte?“
Eine kleine Pause entstand und er wollte seiner Schwester schon widersprechen, als diese weiterfuhr.
„Du kannst nicht ändern, was passiert ist, aber du kannst ihr jetzt beistehen. Du hast sie gerettet, Lucien. Ohne dich wäre sie nicht mehr hier und ich bin mir sicher, dass sie bald wieder aufwacht und dann wird sie dich brauchen. Sie braucht dich jetzt mehr denn je, also gib nicht dir die Schuld. Nora hatte niemandem gesagt, wie schlecht es ihr geht. Sie wollte das alleine schaffen. Sie wollte nicht schwach sein, aber jetzt braucht sie dich und wenn du dir weiterhin vorwirfst, dass du etwas hättest bemerken müssen, dann hilft ihr das nicht. Sei einfach da, wenn sie dich braucht und auch wenn sie dich wegstösst… Sie braucht dich, auch wenn sie es nicht zugeben würde. Nora ist ein tapferes Mädchen, aber selbst sie braucht mal Unterstützung.“ Die Worte von seiner Schwester stimmten ihn nachdenklich, doch gaben sie ihm zugleich neuen Mut. Er würde für sie da sein, auch wenn es schwer würde, aber Nora brauchte ihn. Sie würde nicht alleine dadurch gehen müssen, nicht mehr. Er drückte ihre Hand und musterte ihr Gesicht.
„Danke. Ich weiss nicht, was ich ohne dich machen würde“, sagte er ins Telefon.
„Du würdest in Selbstmitleid baden und dir Selbstvorwürfe machen“, antwortete seine Schwester. Ja, sie kannte ihn einfach zu gut.
„Ich muss jetzt Schluss machen, aber du rufst mich sofort an, wenn sie aufgewacht ist.“
„Natürlich. Pass auf dich auf“, sagte er noch und beendete das Telefongespräch. Noch immer blickte er zu Nora. Sie sah so zierlich aus, als würde sie bei der geringsten Berührung zerbrechen, aber Lucien wusste es besser. Sie war stark, hatte noch nie gerne Schwäche gezeigt und deshalb hatte sie das alles verheimlicht. Er schüttelte den Knopf.
„Auch wenn ich nicht einverstanden bin, dass du mir nichts erzählt hast, ich bin dir nicht böse und ich werde dich nie wieder alleine lassen, Nora. Ich bin für dich da. Du kannst mir alles sagen“, flüsterte er ihr zu und gab ihre einen Kuss auf die Stirn.
Ein leises Stöhnen liess Lucien aufhorchen. Nach dem Gespräch mit seiner Schwester, hatte er noch eine Weile nachgedacht und war wahrscheinlich irgendwann eingeschlafen. Er rieb sich mit der Hand übers Gesicht und spürte einen sanften Druck an seiner anderen Hand. Sofort war er hellwach. Er blickte auf seine Hand und dann sah er, wie sich Noras bewegte. Er konnte es kaum glauben. Sein Blick wanderte von der Hand zu ihrem Gesicht und als er sah, wie sich ihre Lider langsam öffneten, konnte er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nora wachte endlich auf und dann sah er in ihre wunderschönen Augen. Er konnte es kaum erwarten, doch der Glanz darin war einer Leere gewichen, die ihm Angst machte. Sein Lächeln drohte zu bröckeln, er zwang sich jedoch dazu, es aufrecht zu erhalten.
„Hei, endlich bist du wach. Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht, Nora“, sagte er leise. Sie blickte ihn an, doch nichts regte sich in ihr. Kein Lächeln, sie sah ihn nur mit einem ausdruckslosen Blick an.
„Ich werde jetzt den Arzt holen“, meinte Lucien noch immer mit sanfter Stimme, doch innerlich schrie er. Es machte ihm mehr als nur Angst, dass sie ihn so ansah. Noch nie hatte er diesen Blick von ihr gesehen, so leblos und ohne Gefühl, als wäre ihr alles egal. Als gäbe es nichts, das noch lebenswert wäre. Er hätte alles ertragen können: Sie hätte ihn schlagen können, auf ihn losgehen können, aber sie tat einfach gar nichts. Sie sah ihn nicht einmal richtig an. Er hielt es nicht aus, er musste aus diesem Zimmer und deshalb kam es ihm gerade recht, dass er den Doktor holen musste.
Lucien schloss die Tür hinter sich und fast auf der Stelle gaben seine Beine unter ihm nach. Diese Emotionslosigkeit machte ihn fertig und liess seine neuaufkeimende Hoffnung in Luft auflösen. Er hatte mit vielem gerechnet, aber sie so zusehen, war schlimmer als er gedacht hatte. Bucklands hatte Nora in die Tiefe gerissen und ihn zog es mit, denn wenn sie nicht mehr glücklich war, ging es auch ihm nicht gut. Er liebte diese Frau und Gott bewahre, dass ihm diese missen Typen nicht in die Quere kamen, denn er wusste nicht, ob er sich dann noch zurück halten könnte.
Langsam rappelte er sich wieder auf und ging den Gang entlang. Jeder Schritt kostete ihn enorme Kraft, auch wenn er Noras Gefühlslosigkeit kaum aushielt, sich von ihr zu entfernen war noch unerträglicher. Er wollte bei ihr sein und zugleich weit weg. Er wollte ihr helfen und zugleich machte es ihm eine riesen Angst. Aber Nora brauchte ihn jetzt, egal was in ihr vorging, egal wie leblos sie sich jetzt fühlte, er musste jetzt um jeden Preis für sie da sein.
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