20.
Das änderte alles.
Diese fünf simplen Wörter, stellten Erics eigentliche Theorie mit einem Mal komplett in Frage.
Er erinnerte sich, Miras Mutter war eine Unbestimmte gewesen. Er hatte sie damals in einem kleinen, dunklen Kämmerchen unterhalb der Weberei gefunden, zusammen mit weniger als einem Dutzend weiterer Amite. Darunter sogar ein gesuchter ehemaliger Ferox, der von den Baumkuschlern aufgenommen und durchgefüttert worden war.
Vor seinem inneren Auge sah er, wie er zusammen mit seiner Truppe, die etwa zehn Personen die schmale Holztreppe herauftrieb und sie sich vor dem Gebäude hatte aufstellen lassen. Nacheinander überprüfte er sie mit einer speziellen Gerätschaft der Ken, auf etwaige Unbestimmtheit.
Bei Bailey und einem Mann mittleren Alters schlug das Gerät schließlich an.
Er hatte die Zwei und den flüchtigen Ferox vortreten lassen. Er erinnerte sich noch dumpf daran, dass ein Mädchen, er schätzte sie rückblickend auf etwa zwölf Jahre, weinend und wild um sich schlagend einen seiner Männer von dessen Pflicht abhalten wollte, was natürlich ein völlig sinnloses Unterfangen der Kleinen gewesen war.
Er selbst war es gewesen, der der Frau schlussendlich eine Kugel zwischen die Augen jagte.
Ihre Tochter schrie, weinte und trat um sich wie eine Furie.
Er meinte sich zu erinnern, dass sie ihn sogar mit einem Tritt erwischte, aber das Leid, das er unvermeidlich verursachte, diente einem höheren Zweck.
Der Schutz der Fraktionen vor dem Ungehorsam der Unbestimmten.
Diese unterwanderten in einem unglaublichen Ausmaß die Bevölkerung und stellten durch ihr Eigensinnigkeit eine immer größer werdende Gefahr für das System dar.
Da sie sich weder integrieren noch umerziehen ließen, mussten sie beseitigt werden.
Ihr Einfluss auf den Rest der Einwohner Chicagos würde sonst ins Unermessliche steigen.
Die Folge wäre eine Auflehnung dieser, gegen die bestehende und in seinen Augen erfolgreiche - ja, unumgängliche Gesellschaftsform. Dies durfte keinesfalls toleriert werden.
Somit war die Beseitigung aller Unbestimmten unausweichlich, auch heute noch.
Er stellte den Bilderrahmen zurück an seinen Platz.
Das Wissen, dass er für den Tod von Miras Mutter verantwortlich war, stellte seine bisherige Meinung zu der Unschuld von Lexas Freundin in Frage.
Er würde sich deren Akte noch einmal genauer ansehen müssen. Jetzt nachdem er neue Erkenntnisse gewonnen hatte, musste er ihre Beteiligung in dem ganzen Komplott, schlussendlich doch in Erwägung ziehen.
Zurück in seinem Büro, bestand seine erste Tat darin, Miras Akte erneut Seite für Seite durchzugehen.
Dank der jetzt uneingeschränkten Befugnisse, die er als Fraktionsführer genoss, bekam er auch Zugriff auf die Datenbanken der Ken. Somit konnte er jede Akte einsehen, ohne irgendwann auf geschwärzte Passagen stoßen zu müssen, die ihm die Arbeit erheblich erschwerten.
Aber zu seinem Bedauern fand er nichts, was ihn in diesem Fall voranbrachte.
Mira war von den Amite zu den Ferox gewechselt. Ihre Initiation hatte er selbst geleitet und auch aus dieser Zeit war ihm nichts Nennenswertes hängengeblieben. Eine durchschnittliche Initiantin mit durchschnittlichen Leistungen.
Er rief den Testbericht auf, ungläubig las er den kurzen Text erneut.
Miras Simuationstest verlief demnach normal, aber sie zeigte in der Simulation die typische Herangehensweise einer Amite. Bei der am nächsten Tag folgenden Bestimmungszeremonie wählte sie aber die Ferox.
Die Entscheidung, die man als 16-jähriger Teenie während der Zeremonie traf, war bindend und unumkehrbar. Beim Test erhielt man lediglich eine Empfehlung, welche der fünf Fraktionen zu den eigenen Persönlichkeitsmerkmalen passend war.
Welche der Kasten man aber am nächsten Tag auswählte, war schlussendlich eine Wahl, die man für sich selbst treffen durfte.
Oft genug kam es vor, dass verliebte Pärchen nicht getrennt werden oder Kinder ihre Eltern nicht zurücklassen wollten.
Meist jedoch rächte sich die falsche Entscheidung schon nach wenigen Monaten. Entweder sie bestanden die Initiation nicht oder sie konnten sich in der von ihnen gewählten Fraktion nicht auf Dauer einfügen.
Aber Mira war da anscheinend eine Ausnahme.
Niemals wäre Eric darauf gekommen, dass die Ferox die falsche Heimat für die Krankenschwester wären.
Aber weshalb war sie nicht bei den Amite geblieben?
Warum wechselte sie die Fraktion, wenn sie doch augenscheinlich bei ihrer Gruppe besser aufgehoben war?
Anstatt Antworten auf seine Fragen zu bekommen, häuften sich diese nur noch weiter an.
Er würde nicht umhinkommen, Lexas vermeintliche Freundin zu einem Vier-Augen-Gespräch einzubestellen.
*
Ihr war sterbenslangweilig.
Seit inzwischen zwei Tagen lag sie schon sinnlos in diesem kargen Krankenzimmer und guckte Löcher in die Luft. Ihre einzige Abwechslung bestand in den kurzen Besuchen der Schwestern und einem mauen Sportprogramm, welches sie anfing, um sich ein wenig die Zeit zu vertreiben.
In Anbetracht ihrer jetzt unermesslichen Freizeit, hatte sie sich Bücher von einem Pfleger bringen lassen.
Lexa las schon seit Stunden in einem Buch, welches sie zwar nicht nachvollziehen konnte, da es lange Zeit vor dem Krieg verfasst worden war, aber es ließ den Tag schneller vergehen und das war im Moment das wichtigste.
In gerade einmal drei Tagen startete die Initiation.
Lexa hoffte, dass Eric sie vorher endlich aus diesem Raum entließ, der sich mittlerweile wie ein Gefängnis für die Ausbilderin anfühlte.
Wie es wohl Raphael in seiner Zelle erging?
Lexa kam sich schäbig vor, sie jammerte hier auf verdammt hohem Niveau. Ihr Kumpel musste seit über fünf Tagen in einer kalten, dunklen Zelle vor sich hinvegetieren.
Sie genoss wenigstens die Annehmlichkeiten eines halbwegs bequemen Bettes und Kontakt zu dem medizinischen Personal, das ab und an kurz hereinschaute und sich manchmal mit ihr unterhielt.
Lexa sah auf die Uhr auf ihrem Tablet. Es war später Nachmittag, ob Eric vielleicht heute auf eine kurze Stippvisite vorbeikommen würde?
Seit seinem letzten Besuch hatte er sich nicht mehr blicken lassen.
Sie hätte ihn nicht anfassen sollen. Jedes Mal, wenn sie ihm körperlich zu nahekam, nahm er anschließend sofort Reißaus und ging ihr aus dem Weg.
Sie war ein solcher Dummkopf, sie wusste es doch besser!
Warum machte sie also jedes Mal aufs Neue die gleichen Fehler?
Lexa hörte Schritte in dem Gang vor ihrer Tür. Sie hob den Kopf in Erwartung, dass sich jeden Moment die Tür zu ihrem Zimmer öffnen würde.
Ja, die Klinke wurde heruntergedrückt, endlich wieder etwas Abwechslung in ihrem öden Tagesablauf.
Lexa traute ihren Augen kaum, er war es tatsächlich!
Coulter trat, seinen Blick auf sein Tablet gesenkt durch den Rahmen der Tür und sah, nachdem er die Tür hinter sich schloss, endlich zu ihr rüber. Lexa freute sich, ihn zu sehen, schämte sich aber noch im selben Moment dafür.
Wie oft hatte sie sich schon gewünscht, ihm niemals über den Weg gelaufen zu sein.
All die Male, in denen sie ihm am liebsten den Schädel eingeschlagen hätte. Ganz zu schweigen von all den Momenten in dem sie ihn regelrecht hasste, weil er sie wie seine persönliche Sklavin herum scheuchte und sie behandelte wie eine minderjährige.
Was hatte sich geändert?
Lexa wusste es nicht. Nur, dass sie ihn auf irgendeine ihr unangenehme Art vermisste.
Jetzt stand er vor ihr, starrte weiterhin wortlos auf sein Tablet und zog sich mit der Rechten einen Stuhl heran.
Lexa versuchte sich an einem scheuen, „Hi, Eric.“
Er blickte kurz zu ihr auf, nickte nur und senkte seinen Blick danach gleich wieder.
Sie wartete ab. Unsicher wie er heute wohl gelaunt war und was er wohl von ihr wollte.
Endlich ließ er das Tablet in seinen Schoß sinken und widmete ihr seine Aufmerksamkeit.
„Du liest?“ Ungefragt griff er nach dem Buch, welches Lexa neben sich abgelegt hatte, und las den Titel auf dem Buchrücken. „Gullivers Reisen. Interessante Bettlektüre.“
„Ja, ein bisschen langatmig hier und da, aber ich hab’ ja Zeit. Liest du eigentlich?“
Ihre unangebrachte, persönliche Nachfrage ließ ihn kurz innehalten und zu ihr sehen, doch er fing sich schnell wieder.
Lexa erkannte anhand dieser kaum nennenswerten Reaktion, dass ihn diese private Frage kurz aus dem Konzept brachte.
Aber er wäre nicht Eric, wenn er sich nicht ebenso schnell wieder unter Kontrolle haben würde. Ohne ihr eine Antwort zu geben, kam er zum Grund seines Besuchs.
„Ich habe ein paar Fragen an dich. Antworte mir wahrheitsgemäß und lass nichts aus. Ich werde das Gespräch aufzeichnen.“
Er tippte kurz auf seinem Tablett herum und legte es dann auf das kleine Beistelltischchen neben Lexas Bett. Diese sah fragend von dem Tisch zu Eric und hoffte auf eine Erklärung, die er ihr aber schuldig blieb.
„Mira Bailey. Seit wann und woher kennst du sie? Wie steht ihr zueinander?“
Lexa sah ihn nur weiterhin fragend an. Mira?
Warum drehte sich dieses augenscheinliche Verhör um Mira?
Was hatte das zu bedeuten?
Eric legte den Kopf schief, forderte sie mit einer Geste auf, endlich zu antworten.
Lexa verbarg ihre Irritation nicht, antworte ihm aber wahrheitsgemäß.
Sie hatte Mira durch Raphael kennengelernt, die inzwischen seit knapp zwei Jahren ein Paar waren. Sie mochte die kleine Krankenschwester gerne. Ihre freundliche, zurückhaltende Art und ihr nettes Lächeln, welches sie immer in ihrem hübschen Gesicht trug, machten das Auskommen mit ihr leicht.
Lexa wunderte sich weiterhin, warum Eric sie wegen ihr befragte. Aber vielleicht würde sie nach diesem Gespräch von ihm erfahren, was der tiefere Sinn dahinter war.
„Hat sie mit dir oder jemand anderem, je über ihre Familie gesprochen?“
Eric ließ sie nicht aus den Augen. Lexa kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er sie gerade analysierte. Er versuchte, anhand ihrer Wortwahl, Gestik und Mimik herauszufinden, ob sie die Wahrheit sagte oder Informationen zurückhielt.
„Nein nie. Ich weiß nur, dass ihre Mutter starb, als sie noch ein Kind war.“ Die Ausbilderin hielt seinem bohrenden Blick stand.
„Hat sie etwas über deren Tod erzählt?“
Seine Stimme klang ruhig, fast gelangweilt. Lexa konnte keinerlei Emotionalität aus dieser heraushören und damit auch nicht genau sagen, ob er die Frage nur als Ablenkung stellte oder ob sie wirklich von Belang war.
„Nein. Ich habe mal mit Raphi darüber geredet, aber auch ihm hat sie nichts darüber erzählt. Sie wollte nicht darüber sprechen. Ich vermute ein traumatisches Erlebnis, aber das ist meine persönliche Einschätzung. Eigentlich weiß ich nicht viel von ihr. Sie hielt sich, was ihre Vergangenheit vor dem Wechsel betraf, immer sehr bedeckt.“
Ihr Anführer nickte verstehend, nahm aber den Blick nicht von ihr.
„Hat sie irgendwann etwas zu dir gesagt, was dich irritiert hat? Vielleicht etwas im Zusammenhang mit meiner Person?“
Lexa stutze, unwillkürlich, zog sie ihre Augenbrauen zusammen und fragte sich, ob sie ihn falsch verstanden hatte.
„Nein. Nichts, was mir im Gedächtnis geblieben wäre.“
Sofort spielte sich in ihrem Kopf die Szene ab, als Mira am Abend der Jahreswechsels Eric in Schutz nahm und ihr gut zuredete, doch das verschmähte Kleid zu tragen, welches Eric ihr besorgt hatte. Aber Lexa wollte ihm nicht davon erzählen. Noch heute würde sie am liebsten im Boden versinken, wenn sie daran zurückdachte, wie unmöglich sie sich an jenem Abend ihm gegenüber aufgeführt hatte.
Aber sie hatte ihre Rechnung ohne Eric gemacht.
Als ob plötzlich ein Candor vor ihr sitzen würde, war ihm sofort aufgefallen, dass sie ihm nicht alles sagte, was sie wusste.
Ein fragender Blick, zusammen mit seinen übertrieben hochgezogenen Augenbrauen, zeigte ihr, dass sie gefälligst noch einmal überdenken sollte, was sie gerade eben von sich gab. Händeringend suchte Lexa nach einer Möglichkeit, ihre Antwort so zu formulieren, dass sie nicht so peinlich rüberkam, wie die Situation tatsächlich gewesen war.
„Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit. Sie war auf deiner Seite.“
Erics Augenbrauen zuckten kurz. „Kannst du das näher ausführen?“
Lexas Seufzen war unüberhörbar. „Der Abend des Jahreswechsels, wir hatten Streit, du erinnerst dich?“ Eric nickte.
„Kurz darauf war Mira bei mir, ich habe ihr davon erzählt. Sie hat mir den Kopf gewaschen und für dich Partei ergriffen. Das war‘s.“
Erics Blick hatte einen strafenden Ausdruck angenommen.
Lexa blickte ertappt auf ihre Knie, sie wusste genau, dass sie es niemandem hätte erzählen dürfen. Aber sie war damals so aufgebracht gewesen und Mira hatte sie schlussendlich wieder zur Vernunft gebracht.
„Ich denke wir sind hier fertig.“ Eric griff nach seinem Tablet und tippte kurz darauf herum. Dann sah er wieder zu ihr.
„Es geht niemanden etwas an, wenn wir irgendwelche Differenzen haben, ist das klar?“ Seine Stimme war schneidend geworden, aber er war noch nicht fertig. „Wem hast du noch davon erzählt? Und noch wichtiger, was hast du noch ausgeplaudert?“
„Niemandem. Das war das einzige Mal, dass ich über dich mit jemandem gesprochen habe. Es tut mir leid, kommt nicht mehr vor.“ Coulter sah sie missbilligend von oben bis unten an. Offenbar wollte er noch etwas anfügen, ließ es aber.
An seiner verschnupften Art konnte Lexa erkennen, dass er ärgerlich - wenn nicht sogar sauer war. Also nutzte sie den sowieso schon versauten Moment und fragte nach, warum er sich so für Mira interessierte.
Aber genau wie sie vermutete, bekam sie nur einsilbige Ausflüchte von ihm zu hören.
Da war er wieder, ein Moment, in dem sie ihm am liebsten an die Gurgel springen wollte.
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