2.
"Wo gehen wir hin?"
Schon zum zweiten Mal fragte Lexa ihren Anführer, was eigentlich ihr Ziel war, aber wie auch schon vorher, gab er ihr keinerlei Rückmeldung.
Lief wortlos in schnellem Schritt vor ihr her und präsentierte ihr statt einer Auskunft, nur seine breite Rückansicht.
Eine Grimasse ziehend lief sie ihm weiterhin folgsam hinterher. Langsam könnte er mal wieder einen Gang runterschalten.
Sie hatte ihm doch nichts getan, zumindest nichts von dem sie wusste.
Sein extrem distanziertes Verhalten war für die Ausbilderin nicht nachvollziehbar und solange er dies nicht aufklärte, tappte sie nach wie vor im Dunkeln. Eric kam endlich zum Stehen, öffnete eine Tür und bedeutete ihr, voranzugehen.
Lexa trat ein und erkannte den Raum, in dem sie stand, sofort wieder. Es handelte sich um den großen Besprechungsraum, in dem sie damals ihren Eignungstest absolviert hatte.
Wie beim letzten Mal lag ein Tablet eingeschaltet an einem der Plätze. Kaum das sie realisierte, dass sie jetzt wohl ihre abschließende Prüfung ablegen würde, hörte sie hinter sich schon, wie die Tür geschlossen wurde.
Eric zog die Sache mit der beleidigten Leberwurst weiter eisern durch.
*
Max saß in seinem Büro, ihm gegenüber Erics dünner Assistent. „Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern. Danke für die Information Aiden, du kannst jetzt gehen.“
Sofort kam der unscheinbare, junge Mann der Aufforderung nach und verließ zügig das Arbeitszimmer des obersten Anführers der Ferox.
Grübelnd dachte der Schwarze über das kurze, aber informative Gespräch nach, welches er gerade mit dem gebürtigen Ken geführt hatte.
Sollte dessen Auskunft tatsächlich der Wahrheit entsprechen, so würde er nicht nur mit Eric ein Wörtchen zu reden haben, sondern auch mit dessen Schülerin. Dann konnte er auch gleich alles andere mit den zweien besprechen. Es hatte sich leider so einiges angesammelt, was eines klärenden Gesprächs bedurfte.
Er wunderte sich sowieso schon seit geraumer Zeit, was bei den beiden vorgefallen war. Seit der Nacht des Jahreswechsels stimmte etwas nicht. Auch dass inzwischen ausschließlich Four Lexas Ausbildung betreute, war ihm nicht entgangen.
Es würde am besten sein, wenn er gleich beide einbestellen würde. Vielleicht half eine erzwungene Aussprache, wenn sie schon nicht von alleine auf einen Nenner kamen. Je nachdem wie diese Unterredung verlief, würde man dann weitersehen.
*
Keuchend stützte sich Lexa auf ihren Knien ab. Nachdem sie den Abschlusstest abgelegt hatte, war sie von Coulter wieder eingesammelt worden.
Kurz darauf fand sie sich hier unten, im ihr mittlerweile vertrauten, abgeschotteten Trainingsraum der Elite wieder.
Wie schon Monate zuvor, musste sie erneut einen erbarmungslosen Fitnesstest über sich ergehen lassen. Lexa meinte, sich gegenüber dem letzten Mal verbessert zu haben, aber ihr weiterhin stummer Ausbilder, ließ sich zu keinerlei Kommentar hinreißen.
Schnaufend sah sie Eric dabei zu, wie er irgendwelche Daten in sein Tablet eintrug und griff nach ihrer Wasserflasche, um sich das Warten etwas zu verkürzen.
„Das reicht. Mitkommen.“
Oh, er konnte ja doch sprechen! Sofort folgte sie ihm augenverdrehend in einen angrenzenden Raum, den sie bisher noch nicht kannte.
Mehrere riesige Bildschirme hingen an den ansonsten kahlen Wänden. Eric deutete zu einer kleinen Sitzgruppe mit Tisch, Lexa nahm wie aufgefordert Platz und wartete auf das Kommende. Nach kurzer Zeit erwachten die gläsernen Monitore zum Leben. Verschiedene Daten, Diagramme und Statistiken bauten sich augenblicklich auf. Im Augenwinkel nahm sie wahr, wie Eric ihre Reaktion aufmerksam beobachtete, aber er sagte bislang nichts. Bestimmt setzte er voraus, dass sie wusste, was sie da vor sich sah. Schon wenige Momente später blickte sie aber fragend zu ihm. Sie ahnte zwar, was all diese Werte zu bedeuten hatten, verstand deren Zusammenhänge aber nicht in Gänze.
Endlich bekam er seine Zähne auseinander. „Vor dir siehst du deine Trainingsanalyse. Anhand mathematischer Grundsätze und Algorithmen wertet eine KI deine Daten aus, trifft Vorhersagen und zeigt deine Schwächen auf. Basierend auf diesen Daten, deinem Gewicht, Körpergröße und deiner Ernährung kann ich sehen, ob du tauglich bist oder nicht.“
Ob sie tauglich war?
Was für eine nette Umschreibung, dachte sich Lexa.
Langsam ging ihr sein Benehmen wirklich auf die Nerven. Aber sie ließ sich nichts anmerken und wartete darauf, dass er endlich zum Punkt kam. Da er trotzdem keinerlei Anstalten machte fortzufahren, ergriff sie das Wort. „Und, bin ich tauglich?“
Das letzte Wort betonte sie absichtlich. Er sollte merken, dass sie seine Wortwahl unpassend fand. Völlig unbeeindruckt antwortete er ihr.
„Ja, bist du. Noch ausbaufähig, aber es reicht. Du hast knapp vier Kilo zugenommen, das meiste davon ist Muskelmasse und deine Ausdauer und Kraft haben sich merklich gesteigert. Auch die theoretische Prüfung hast du bestanden. Morgen um neun Uhr findest du dich zum Schießtraining in der dafür vorgesehenen Halle ein. Bring deine Waffen mit.“
Kaum, dass sein letzter Satz beendet hatte, war er schon zur Tür raus. Die Bildschirme schaltete er unterm Gehen aus.
‘Was war das denn?‘, schoss es Lexa durch den Kopf, als sie ihm perplex hinterher sah. Als ob er neuerdings Angst vor ihr hätte. Seine Art und Weise regelrecht vor ihr zu flüchten, war wirklich rätselhaft.
Schießtraining also.
Ob er wenigstens diesmal dabei sein würde? Abwarten.
Sie war eigentlich seine Schülerin, aber seit Wochen wälzte der Anführer ihre Ausbildung auf Four ab. Er übertrug die komplette Verantwortung gerade der Person, den er unter allen Ferox am wenigsten leiden konnte.
Lexa ging nicht in den Kopf, was Erics Intention dahinter war.
Es musste einen Grund geben, aber welchen?
*
Als sie am nächsten Vormittag in der Schießhalle ankam, wartete Coulter schon auf sie.
Links neben ihm, ein Metalltisch mit verschiedensten Handfeuerwaffen.
Rechts, etwas weiter entfernt, ein weiterer Tisch mit unterschiedlichen Langwaffen. Lexa sah diesem Unterricht entspannt entgegen. Sie war eine geübte Schützin. Schließlich war sie ein ausgebildeter Sniper und bildete auch selber an der Waffe aus. Wie gut Eric war, wusste sie nicht. Aber sie ging davon aus, dass er ebenfalls sein Fach beherrschte. Lexa konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass sein übertriebener Perfektionismus nicht in allen Bereichen zum Zug kam.
„Guten Morgen, schön dass du wieder mit mir arbeitest. Wurde auch mal wieder Zeit.“
Ein weiterer Versuch herauszufinden, was mit ihm los war. Nur Sekunden später wusste Lexa, dass es abermals vergeblich gewesen war. Er sah sie nur kurz mit ausdrucksloser Mine an und wies auf den Tisch mit den Kurzwaffen.
„Benenne die Waffen, zerlege sie und baue sie wieder zusammen. Deine Zeit läuft.“
Sofort trat Lexa an den Tisch und begann mit ihrer Aufgabe.
Sie musste einsehen, dass es Zeitverschwendung war, immer wieder zu versuchen ihm auf den Zahn zu fühlen. Eric überwachte jeden ihrer Handgriffe mit Argusaugen und blieb währenddessen weiterhin stumm. Das gleiche Prozedere wiederholte sich bei den Gewehren. Nur die metallischen Geräusche der Waffen und Lexas Stimme waren zu hören.
Die ihr gestellte Aufgabe war eine Leichtigkeit für die Ausbilderin, so etwas beherrschte sie im Schlaf.
Wenn er sie scheitern sehen wollte, musste er sie schon bitten, für ihn zu kochen - aber das hier war nichts, was sie schockte.
„Jede Waffe fünf Einzelschuss. Ein Durchgang.“ Er trat zur Seite und verschränkte die Arme hinter seinem Rücken.
Diese autoritär anmutende Position kannte sie schon von ihm. Andere würde er damit ohne Probleme einschüchtern, aber die Ausbilderin ließ sich davon nicht mehr beeindrucken.
Lexa trat vor ihr Ziel. Ein an die Wand vor ihr projizierter Gegner. Hob die Pistole, zielte und drückte ab. Sie ließ etwa zwei Sekunden Pause, zielte und zog ein weiteres Mal den Abzug. Alle fünf Schüsse lagen extrem nah beieinander, besaßen einen Streukreis von zwei höchstens drei Zentimetern. Nachdem sie ihre von ihm befohlene Anzahl von Schüssen abgab, wurde das getroffene Ziel durch ein neues ersetzt. Dabei stieg aber der Schwierigkeitsgrad, denn jetzt bewegte sich ihr virtueller Gegner. Nicht besonders schnell, aber ein bewegliches Ziel, war trotzdem schwieriger zu treffen.
Coulter ließ sie weiterhin nicht aus den Augen. Kommentarlos verfolgte er, wie Lexa auch die folgenden Ziele ohne Mühe nahezu punktgenau traf.
Mit großer Genugtuung wechselte sie den Tisch und nahm sich ein halbautomatisches Gewehr, stellte den kleinen Hebel daran auf Einzelfeuer, entsicherte es und legte an.
Wieder peitschten mit kurzem Abstand Schüsse durch die Halle. Während sie mit dem dritten Sturmgewehr schoss, bemerkte sie, wie Eric sich an ihrem mitgebrachten Waffenkoffer zu schaffen machte.
Ohne die dafür notwendige Zahlenkombination, ließ sich dieser aber nicht öffnen.
Umso überraschter registrierte Lexa, wie er den Deckel nach oben klappte und ihr Präzisionsgewehr kritisch in Augenschein nahm. Noch bevor sie nach der vierten Waffe auf dem Tisch griff, sah sie ihn fragend an.
„Woher kennst du die Kombination?“
Er hob seinen Blick langsam, sah sie vielsagend an und wuchtete ihr Gewehr anschließend aus dem gepolsterten Koffer. Natürlich - warum fragte sie auch so dumm? Er war Eric Coulter, er wusste alles. Woher auch immer, aber er wusste es.
Kein Geheimnis war vor ihm sicher, nicht einmal der PIN ihres Waffenkoffers, den außer ihr niemand kannte. War Coulter auch schon in ihrem Kopf?
Woher zum Teufel wusste er diesen Code?!
Mit verärgerter Mine griff sie nach der vorletzten Waffe. Ein altes Jagdgewehr. Solche antiquierte Langwaffen benutzte so gut wie niemand mehr - wer weiß, aus welchem Loch Eric das alte Ding herausgezogen hatte.
Rechts neben ihr zerlegte ihr Ausbilder inzwischen ihr komplettes Scharfschützengewehr. Prüfte aufs genaueste, ob dessen Besitzerin es auch ordnungsgemäß pflegte und reinigte.
Offenbar gab es keinen Anlass zur Beschwerde, denn auch nachdem Lexa ihren letzten Schuss abgab, hatte Eric noch keinen Mucks von sich gegeben. Hinter der vollständig auseinandergebauten Präzisionswaffe stehend, wartete er schweigend bis sie fertig war.
„Zusammenbauen, dann gehen wir aufs Dach.“
Lexa verkniff sich den bissigen Kommentar, der ihr auf der Zunge lag und führte den knappen Befehl schweigend aus. Wieder verfolgte er jedem ihrer Handgriffe mit konzentriertem Blick.
„Darf ich dich auch schießen sehen?“ Wieder einmal war Lexas Sprachzentrum schneller gewesen als ihr restlicher Kopf. Aber die Worte waren schon gesprochen. Vielleicht hatte sie trotzdem Glück und konnte ihn mal in Aktion sehen.
Sie platzierte ihr Gewehr in der dafür vorgesehenen Aussparung im Koffer und sah ihn auffordernd an.
Kurz hielt er den Blickkontakt, trat anschließend tatsächlich an den linken Tisch mit den Handfeuerwaffen und nahm sich eine der Pistolen.
Schoss, ohne lange zu zielen, auf den virtuellen Widersacher.
Alle Schüsse, die er abgab, landeten exakt in der Mitte der Stirn des anderen. Ein Streukreis schien nicht zu existieren. Lexa musste beeindruckt anerkennen, dass sie wohl noch nie zuvor jemanden gesehen hatte, der solch perfekt gesetzte Schüsse abgab.
„Wow, du bist definitiv besser als ich. Wer hat dir beigebracht, so gut zu schießen?“
Ihr Ausbilder sicherte die Pistole, legte sie wieder zurück zu den anderen und sah sie anschließend abermals ausdruckslos an.
„Ich. Ich habe es mir beigebracht.“
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