18.
Der große Schluck Whiskey, der ihm die Speiseröhre runter rann, brannte sich in seiner Kehle den Weg frei. Was ein Scheißtag.
Aber wenigstens wusste Eric jetzt endlich, wer dem Blondchen an den Kragen wollte.
Aiden, dieser verlauste Abschaum. Den Haftbefehl hatte er schon bei den Candor beantragt, auch Max war von ihm auf den neuesten Stand gebracht worden.
Alles nahm seinen Lauf und nichts würde ihn davon abhalten, diesen hinterhältigen Spitzel über den Jordan zu schicken.
Und Janine, ja die würde ihre Quittung auch noch bekommen. Niemand besaß das Recht, sich in die internen Angelegenheiten seiner Fraktion einzumischen. Auch wenn sie sich gerne in der Position der eigentlichen Führerin dieser Stadt sah, er hatte da noch ein gewaltiges Wörtchen mitzureden.
Das schien sie in ihrer Eitelkeit wohl vergessen zu haben.
Lexa würde so lange wie es nötig war in ihrem Krankenzimmer bleiben, er hatte die gesamte Station abriegeln lassen.
Niemand kam mehr rein oder raus, ohne dass er sich persönlich bei Eric an- und abmelden musste.
Er ging kein Risiko mehr ein, wenn es um seine Schülerin ging.
Zu seiner Überraschung war sie diskussionslos einverstanden gewesen, die kommenden Tage dort unten zu verbringen und das war ihm nur recht.
Denn nachdem er endlich seine Hand wieder hatte, wollte er nur noch verschwinden und nicht darüber nachdenken, in welcher Situation er sich gerade eben befand.
Er konnte verstehen, dass sie emotional reagierte in Anbetracht der Tatsache, dass sie dem Tod erneut gerade so von der Schippe gesprungen war.
Aber Händchenhalten war nicht seins. Er ließ es ihr durchgehen, wie schon so einiges davor. Natürlich war er viel zu nachsichtig mit ihr, er wusste es. Aber trotzdem - sie schaffte es jedes Mal auf Neue, ihn zu Dingen zu bringen, die ihm in keinster Weise ähnlich sahen.
Sein Tablet schepperte vibrierend auf dem Glastisch, auf dem er es vorhin abgelegt hatte.
Max versuchte, ihn zu erreichen. Eric stellte das fast geleerte Glas ab und nahm seinen ständigen Begleiter zur Hand, las die eingegangene Nachricht.
Sofort sprang er auf, schnappte sich seine Uniformjacke, die an der Garderobe hing und stürzte raus auf den weiß beleuchteten Flur.
Sein Ziel war erneut die Krankenstation.
„Was ist passiert?!“
Eric ließ konzentriert den Blick über die hektischen Ärzte und Pfleger gleiten, die aus dem Krankenzimmer neben ihm, aus und ein gingen.
Um Lexa konnte es sich nicht handeln, die lag einen Flügel weiter hinten.
Max zog ihn zur Seite, zu einem ruhigeren Fleckchen.
„Richard. Es geht ihm zunehmend schlechter. Sie wissen nicht, ob er die Nacht überlebt.“
Eric machte große Augen, „Richard? Ich dachte es handele sich nur um eine Lappalie? Was hat er?“
Max schien ehrlich besorgt um ihren Anführer Kollegen zu sein, rieb sich abwesend über die kurz rasierten Haare.
„Sie wissen es nicht und genau das ist das Problem. Es scheint keinen Zusammenhang zwischen seinen anfänglichen Symptomen und den jetzigen zu geben. Ich befürchte, dass auch hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht, Eric. Jemand will diese Fraktion destabilisieren, uns die Kontrolle nehmen. Wenn unsere Mitglieder davon Wind bekommen, oder die anderen Fraktionen … das endet in Chaos und Revolte. Und das alles kurz vor dem Tag der Initiation!“
Eric sah seinen Vorgesetzten an, er suchte nach irgendeiner Art Zuversicht in dessen Gesicht.
Fand aber nur Sorge und die Angst vor dem sich anbahnenden Kontrollverlust.
Genau damit hatte Eric gerechnet. Auf ihn konnte er also nicht zählen.
Armselig, wie schnell der große Fraktionsführer im Angesicht einer Gefahr den Schwanz einzog. „Ich kümmere mich darum. Habe ich deine volle Unterstützung?“ Eric sah ihm fest in die dunklen Augen, die bei weitem nicht mehr so unnachgiebig zurückblickten, wie sonst.
Er benötigte von Max die absolute Entscheidungsgewalt. Nur dann würde alles schnell genug gehen und er würde die unweigerlich bevorstehende Handlungsunfähigkeit seiner Fraktion verhindern können.
Es gab keinen Nachfolger für Richard - nicht einmal im Ansatz. Und momentan stand mit Lexas Ausfall auch noch die Initiation auf der Kippe.
Auch er würde die Neuen nicht betreuen können, wenn Richard ausfiele. Und zu zweit konnten Four und Amar die Initianten nicht ausreichend betreuen.
Ganz zu schweigen, von der massiven Mehrarbeit für ihn und alle anderen Anführer.
Und gerade dieser Punkt, würde ihnen auf Dauer das Genick brechen. Die Ausbildung zum Anführer dauerte ganze zwei Jahre, solange würden sie nicht warten können.
Max rang mit sich, aber Eric blieb keine Zeit abzuwarten.
Natürlich wusste er, welch weitreichende Konsequenzen diese Entscheidung für Max bedeuteten. Er gab de facto all seine Befugnisse und die komplette Leitung der Ferox an Coulter ab und trat damit einen Schritt zurück.
Genau genommen machte er seinen designierten Nachfolger mit dieser Entscheidung zum temporären Fraktionsführer. Wenn nicht sogar final.
Wenn es publik werden würde, dass Eric die Fraktion leitete, bedeutete es das Ende für Max. Nicht nur im übertragenen Sinne.
Max zögerte, hob dann aber seinen Blick.
Kaum vernehmbar, aber laut genug damit es Coulter hören konnte, sprach er die Worte aus, die sein Sargnagel sein würden, wenn etwas schieflief.
„Ja Eric, du hast meine volle Unterstützung. Lass uns in mein Büro gehen, dort klären wir alles Nötige.“
Keine halbe Stunde später war alles Wichtige von Max in die Wege geleitet worden.
Eric konnte endlich damit beginnen, Ordnung in das heillose Chaos zu bringen, welches im Moment über seine Fraktion hereinbrach.
Max würde inzwischen die anderen Anführer in Kenntnis setzen. Nicht nur über den besorgniserregenden Gesundheitszustand von Richard, sondern auch darüber, dass Eric fürs Erste der oberste Befehlshaber der Ferox war. Niemand konnte vorhersehen, wie sie auf diese Information reagieren würden. Aber Eric machte sich darüber keine weiteren Gedanken. Selbst wenn sie mit Max Entscheidung nicht einverstanden waren, würden sie diese akzeptieren müssen.
Es war schon seit geraumer Zeit beschlossene Sache gewesen, dass Eric den Schwarzen früher oder später beerben würde.
Nur dass es so schnell gehen würde, damit rechnete niemand. Ganz besonders nicht Janine und genau darin lag Erics Vorteil.
Max war schon immer der Diplomatischere von ihnen gewesen, zog mit Worten ins Gefecht, anstatt die Konfrontation zu suchen. Eric tickte da anders. Wer nicht hören wollte, musste eben in letzter Instanz am eigenen Leib zu spüren bekommen, dass es keinen Sinn machte, sich mit ihm anzulegen.
Er sah auf die Uhr, es war schon spät. Trotzdem nahm er sein Tablet zur Hand, um eine Nachricht zu verfassen und verließ kurz darauf sein Büro.
Sein Ziel war das Wohngebäude.
*
Verschlafen blinzelte Tina ihr Tablet an. Wer nervte sie mitten in der Nacht mit einer Nachricht? Und seit wann piepte dieses Ding, wenn es eine Mail empfing, obwohl es eigentlich ein stummer Begleiter war?
Mit unkoordinierten Bewegungen tastete Tina nach ihrem Tablet, endlich hatte sie es in den Fingern. Sofort sprang ihr der Absender ins Auge. Eric Coulter.
Noch im gleichen Moment saß sie kerzengerade im Bett.
War etwas mit Lexa oder Raphi? Nie zuvor hatte sie eine Nachricht von einem der Anführer erhalten.
Schnell öffnete sie die Mail, überflog deren kurzen Inhalt.
Sie sollte in ihr Wohnzimmer gehen. Tina stutzte.
In ihr Wohnzimmer?
Erst jetzt fiel ihr der Lichtschein auf, der durch die geschlossene Schlafzimmertür ins Innere des Schlafraumes drang.
War er etwa hier, in ihrer Wohnung?
Was zur Hölle wollte er in ihrer Wohnung?!
Schnell zog sie sich einen Bademantel über und trat auf leisen Sohlen in den Flur.
Sie lauschte, konnte aber kein Geräusch ausmachen.
„Ich habe nicht ewig Zeit, hör auf rumzuschleichen und komm her.“ Die tiefe Stimme ihres Anführers fuhr Tina durch Mark und Bein. Eine Hand auf ihr Herz gepresst, versuchte sie wieder zur Ruhe zu kommen.
Mit rasendem Puls ging sie zögerlich in ihr hell erleuchtetes Wohnzimmer.
Tatsächlich, da stand er, lässig an die Wand gelehnt, mit vor der Brust verschränkten Armen und sah sie ungeduldig an.
„Setz dich.“
Tina tat wie ihr geheißen und setzte sich auf ihr Sofa.
Sah ihm staunend dabei zu, wie er in ihre Küche ging, und ihren Kühlschrank öffnete, als ob er noch nie etwas anderes getan hätte.
Tina fragte sich, ob ihm eigentlich klar war, wie sehr er sich gerade danebenbenahm.
Eric kehrte mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern zurück, stellte diese vor Lexas Freundin ab und schenkte beiden etwas davon ein.
Tina traute sich nicht, ihn zu fragen, warum er hier war und sie mitten in der Nacht aus dem Bett schmiss, also wartete sie ab, ob er sie endlich einweihte.
Aber sie nutzte die wenigen Sekunden, in denen er sie aus den Augen ließ, um ihre Haare zu richten, die ihr mit Bestimmtheit in alle Richtungen abstanden.
Vor ihr stand ein Anführer! Schlimm genug, dass er das Chaos in ihrer Wohnung zu Gesicht bekam.
Nachdem er sich endlich ihr gegenüber auf einen Hocker setzte, fing er endlich an zu reden.
„Du hast deine Weiterbildung mit Bestnote abgeschlossen, das qualifiziert dich somit für eine höhere Position innerhalb deiner Verwendung. Erzähl mir, was du über Logistik und Warentransport unserer Fraktion weißt. Über all den Mist, den du den ganzen Tag an deinem Schreibtisch treibst. Überzeug mich.“
Tina kam sich vor, wie in einem schlechten Film.
War das sein Ernst?
Dafür war er hergekommen? Mitten in der Nacht?
Wie spät war es, halb zwei?
Sie griff nach dem Glas, fast hätte sie dessen Inhalt verschüttet, so sehr zitterte ihre Hand.
Bestimmt bemerkte er es.
Wie hielt es Lexa nur mit diesem unfassbar einschüchternden Kerl aus?
Seine bloße Präsenz schnürte ihr die Kehle zu. Sie wusste nicht was und wie sie antworten sollte.
All ihr Wissen war mit einem Mal wie weggeblasen.
Aber sein ernster Blick machte ihr unmissverständlich klar, dass er nicht um diese Uhrzeit hierhergekommen wäre, wenn er keinen triftigen Grund haben würde.
Also sammelte sie sich, versuchte ihre Nervosität auszublenden und zählte alles auf, was ihrer Meinung nach für ihn relevant sein könnte. Angefangen von ihren monatlichen Inventuren der Bestände und die Koordinierung der Lagerhaltung, bis hin zu der Korrespondenz mit den anderen Fraktionen.
Er unterbrach sie nicht, hörte ihr aufmerksam zu und ließ sie während ihres Monologes nicht eine Sekunde aus den Augen. Als sie ihres Wissens am Ende angelangt war, trank sie ihr Glas mit einem Zug aus und wartete auf eine Reaktion seinerseits.
Doch er sah sie nur weiterhin mit distanziertem Blick an und schien nachzudenken.
„Morgen früh um acht in meinem Büro. Diese Unterredung bleibt unter uns, verstanden?“
Tina war sich nicht sicher, was das alles zu bedeuten hatte, nickte nur und sah ihm anschließend dabei zu, wie er ohne ein weiteres Wort ihre Wohnung verließ.
Sein Glas stand nach wie vor unangetastet auf dem Tisch. Warum hatte er sich das Getränk eingeschenkt, wenn er schlussendlich doch nichts davon trank?
Die Brünette saß wie angewurzelt auf ihrem Sofa und starrte das Türblatt an, durch das ihr Anführer gerade verschwunden war. Ein Sturm an Möglichkeiten, Vermutungen und Fragen raste durch ihren Kopf.
Wie sollte sie jetzt noch ein Auge zu bekommen?
Langsam erhob sie sich, löschte das Licht im Wohnzimmer und ging zurück in ihr Schlafzimmer. Sie musste zumindest versuchen zu schlafen.
Irgendetwas sagte ihr, dass der kommende Tag ein langer werden würde.
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