56.
Lexa befand sich mitten im Training, als unvermittelt ihr neues Armband vibrierte. Sie hatte eine Nachricht erhalten.
Kurz hielt sie inne und las die Mitteilung.
Eric.
Er wollte, dass sie zu ihm kam.
Er hatte nur Standortkoordinaten mitgeschickt. Stutzig las Lexa die Nachricht erneut, aber es half nichts. Sie musste ihr Training abbrechen und an dem Ort erscheinen, an dem er sie haben wollte.
Zügig versetzte sie also die Halle wieder in ihren ursprünglichen Zustand und beeilte sich, um ihn nicht unnötig lange warten zu lassen.
Schon mehrfach hatte sie ihre Position mit den angezeigten Koordinaten in ihrer Mail abgeglichen. Sie war hier richtig. Einmal quer durch das Hauptquartier und das äußere Areal war sie gelaufen, jetzt stand sie vor einer verschlossenen Tür, mit der Aufschrift ‚Krematorium’. Zweifelnd sah sie sich um.
Keine Menschenseele befand sich hier. Keine der sonst patrouillierenden Wachen, niemand der ihr bestätigen konnte, ob sie hier richtig war.
Still erhob sich das unscheinbare Gebäude vor ihr aus dem Dunkel. Nur dumpf wurde es von einzelnen Spots an dessen verklinkerten Seiten beleuchtet.
Der von feinem Nieselregen durchzogene Wind frischte auf, Lexa fröstelte.
Verunsichert hielt sie ihren Arm unter den Scanner.
Eigentlich sinnlos, kam es ihr in den Sinn, denn hierzu hatte sie keinen Zutritt. Zu ihrer großen Verwunderung schnappte die Tür aber auf und sie konnte eintreten.
Warum in aller Welt bestand Eric darauf, dass sie hierherkam? Dann auch noch so spät abends?
Alles um sie herum war stockdunkel, nur vereinzelt brannten Leuchten, die den dunklen Raum vor ihr nur unzureichend erhellten.
Ihr kam der Gedanke laut nach Eric zu rufen, aber sie verwarf ihn schnell wieder. Was, wenn das sowas wie ein Test war?
Es war bestimmt besser, erst einmal die Lage zu sondieren. Vielleicht fiel ihr ja etwas Ungewöhnliches auf. Also schlich sie regelrecht tiefer in den Raum hinein. Darum bemüht, keine unnötigen Geräusche zu erzeugen. Viele weitere Türen gingen von ihrer jetzigen Position aus, ab. Nur kurz nahm sie diese in Augenschein, ging lautlos voran.
Lexa sah sich weiter um. Inzwischen hatten sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt, sie konnte Einzelheiten jetzt besser erkennen.
Konzentriert nahm sie mit schnellem Blick alles unter die Lupe, was ihr wichtig erschien.
Da standen zwei Stühle, direkt vor der Reihe der Verbrennungsöfen, in denen normalerweise Leichen eingeäschert wurden. Erneut stellte sich ihr die Frage, warum sie hierherkommen sollte.
In ihrem rechten Augenwinkel registrierte sie eine Bewegung.
Sofort huschte die Ausbilderin zur Seite und suchte hinter einer mannshohen Tonne Schutz.
“Ich bin’s, Lucien. Komm raus Lexa. Eric wird gleich hier sein.”
Ihr war nicht wohl dabei.
Was, wenn das eine Falle war? Was sollte sie tun?
Sie blieb erstmal, wo sie war. Sicher war sicher.
Ihr ehemaliger Ausbilder kam auf sie zu.
“Komm her. Das ist keine Prüfung oder so.”
Lexas ehemaliger Ausbilder war nur noch wenige Schritte entfernt. Sie spürte ihren Puls rasen.
Ohne ihre Umgebung auch nur eine Sekunde aus dem Blick zu lassen, ließ sie sich von Lucien zu den Stühlen begleiten.
“Setz dich. Dauert noch kurz.” Auch er nahm Platz.
Lexa fragte ihn unsicher, was hier vor sich ging, aber er verwies darauf, dass sie Geduld haben musste.
Die Blonde vernahm Geräusche links von ihr. Konnte aber nicht erkennen, um wen es sich bei der Person handelte, die da auf sie beide zukam.
Als sie Luciens Hand auf ihrem rechten Bein spürte, zuckte sie bei dessen Berührung kurz zusammen, sah alarmiert zu ihm. Dieser blickte sie mit seinen tiefliegenden, dunklen Augen eindringlich an. Fast glich es einem Starren.
“Lass niemals zu, dass Angst dein Handeln steuert. Angst ist nur ein Gefühl. Du kannst es zulassen und dich davon leiten lassen oder du bist diejenige, die handelt. Triff deine Entscheidungen überlegt. Und zögere niemals. Schau mich an, Lexa. Du bist eine Ferox. Lasse dich nicht von einem Gefühl beherrschen, lasse dich nicht von Erinnerungen beherrschen. Niemals!”
Was verdammt, wollte er ihr damit sagen?
Verunsichert sah sie wieder der Person entgegen, die auf sie zusteuerte. Erstarrte noch in derselben Sekunde.
Lexa meinte, ihr Herz höre in diesem Moment, auf zu schlagen, als sie den Mann erkannte, der teuflisch grinsend auf sie zukam.
Edgar Winston.
Sie musste sich zwingen, weiter zu atmen.
'... Lass dich nicht beherrschen, lass dich nicht beherrschen …'
Wie ein Mantra betete sie gedanklich Luciens eben gesagte Worte herunter. In der Hoffnung, dass sie ihr zu helfen vermochten.
“Hallo Lexa, lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir? Gut siehst du aus. Ich habe dich schon vermisst. So jemanden wie dich, findet man schließlich kein zweites Mal. Besonders nachdem unser erstes Mal so verdammt gut war.” Sein diabolisches Grinsen bescherte Lexa Gänsehaut am ganzen Körper.
Seitdem sie ihn wiedererkannte, schossen ihr unentwegt Erinnerungsfetzen durch den Kopf.
Kleine zusammenhangslose Schnipsel. Ihre Schreie. Seine Hände auf ihrem Körper.
Der Schmerz. Die Scham. Die bohrenden Blicke der anderen. Das Blut. Die Schuld.
Lexa wurde sich viel zu spät bewusst, dass sie zitterte.
Erst nur die Hände, dann zitterten auch ihre Beine unkontrolliert.
Sie ließ sich beherrschen, sie verlor sich selbst in ihrer Angst.
Luciens Worte waren weg.
Sie sah nur noch Edgar.
Ihre größte Furcht vereinnahmte ihre Gedanken.
Er bewegte den Mund.
Er sprach, aber sie hörte nur Rauschen.
Ihr eigens Blut, dass heftig pulsierend durch ihre Adern schoss. Er redete noch immer, aber sie nahm nur das viel zu schnelle hämmern ihres eigenen Pulses wahr.
Aus dem Schatten des arrogant lachenden Edgar, trat unerwartet eine weitere Person.
Wesentlich breiter und größer, als der im Gegensatz dazu schmächtig wirkende Fraktionslose.
Edgar sprach ungerührt weiter.
Er schien die Anwesenheit des Mannes hinter sich, nicht zu bemerken. Lexa saß wie erstarrt auf ihrem Stuhl. Konnte nicht einmal blinzeln. Jede Faser ihres Körpers war wie in einem Krampf erstarrt. Als ob sie von einer unbekannten Macht ausgeschaltet worden wäre.
Die Ausbilderin war für äußere Reize nicht mehr empfänglich.
Sah nur noch ihren größten Albtraum vor sich stehen, der sich verhielt, als hätte er jedes Recht dazu, hier zu sein.
Jetzt erst erkannte sie die Person hinter Winston. Es war Eric.
Die Hände hinter seinem Rücken verschränkt, stand er nur etwa einen Meter von Edgar entfernt.
Er sah seiner Schülerin direkt in die Augen.
Lexa war nicht mehr in der Lage klar zu denken.
Doch Erics durchdringendes, fast schon hypnotisierendes Starren, zwangen die schonungslosen Klauen der Angst, von ihr abzulassen. Die Geißel, die sie seit Jahren fest in ihrer Angst gefangen hielt. Ihre Handlungen und ihren Geist blockierten.
Lexas Aufmerksamkeit richtete sich auf Eric, löste sich von dem anderen.
Als ob er sie aus Edgars Bann ziehen wollte, bohrten sich seine blaugrauen Pupillen in sie. Ihre Blicke trafen sich.
Es war ihr, als ob ihr Anführer ihr direkt, bis ihre Seele blicken konnte. Er hatte sie schon einmal so angesehen, sie erinnerte sich.
‘Erstens: Kenne deinen Wert. Zweitens: Kontrolliere deine Emotionen.
Drittens: Gib niemals auf. ‘
Sie sah zu Edgar.
Langsam löste sich der Nebel in ihrem Kopf auf, stellte die Verbindungen wieder her. Ihre Ohren hörten seine Stimme. Er redete irgendetwas von Luciens Kopf, der rollen würde und mehr wirres Zeug.
Lexa atmete bewusst ein und wieder aus. Ihr Puls beruhigte sich etwas.
Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie zugerichtet und verdreckt Edgar aussah. Als hätte er vor kurzem erst die Prügel seines Lebens kassiert.
Langsam entspannte sich ihre verkrampfte Haltung. Sie musste sich aber weiterhin bemühen, nicht wieder eine Gefangene ihrer eigenen Schwäche zu werden.
“... Ich lasse mich nicht von dir beherrschen, ich kenne meinen Wert ...”
Unwissentlich hatte sie die Worte laut ausgesprochen.
Sofort unterbrach Edgar seinen Monolog und sah überrascht zu Lexa. Mit eiserner Mine starrte diese ihn in Grund und Boden.
“Ach Süße, du stehst doch darauf, beherrscht zu werden. Oder täusche ich mich? Du erinnerst dich doch sicher noch an die Nacht, in der du die Beine für mich breit gemacht hast.”
Eric, der bisher regungslos hinter ihm stand, trat unbemerkt näher an Edgar heran.
Lexa konnte sehen, wie er seine Arme nach vorne nahm.
Etwas Metallisches blitzte in seiner rechten Hand auf.
Noch bevor Edgar mitbekam, was hinter seinem Rücken geschah, war es schon zu spät.
Eric nahm seine linke Hand nach oben, legte sie in einer schnellen Bewegung an Edgars Stirn und zog dessen Kopf mit Kraft nach hinten zu sich.
In seiner Rechten hielt er sein Kampfmesser, welches er immer mit sich führte.
Er hatte, seitdem er sich im Raum befand, seinen Blick nicht von Lexa genommen.
Sie hatte absolut alles richtig gemacht. Von dem Moment, an dem sie eingetreten war bis zu dem Augenblick, als sie ihre größte Angst überwunden und Edgar in die Schranken verwiesen hatte. Er war stolz auf sie.
Auf die Tatsache, dass sie stärker war, als sie annahm und das jetzt hoffentlich endlich begriff.
Ihr dies klarzumachen, war der einzige Grund gewesen, warum Edgar weiterhin am Leben war. Aber dessen Licht war kurz davor, zu erlöschen. Er würde in die Dunkelheit gehen.
Dorthin, wo er schon vor Jahren hätte enden sollen.
In einer flüssigen Bewegung führte Eric das schwere Messer, mit Druck einmal quer über Edgars überstreckten Hals.
Nicht schnell genug, um ihm den Schmerz und das Gefühl zu nehmen. Schön langsam.
Er würde mit jeder Faser den Verlust seines Lebens spüren.
Und Lexa sollte die letzte Person sein, die er in seinem verschwendeten Leben sah.
Ein heißer Schwall frischen Blutes ergoss sich über dessen ramponierten Körper.
Rann an seinem verdreckten Shirt herunter. Der dreckige Stoff saugte sich innerhalb von Sekundenbruchteilen mit der Flüssigkeit voll, riesige Flecken breiteten sich darauf aus. Besudelte den rissigen Betonboden, Erics Schuhe und dessen Hand, die das Messer weiterhin fest umschlossen hielt.
Der Schock über den unvermuteten Angriff von hinten, ließ Edgar keine Zeit sich zu wehren oder das Unvermeidliche abzuwenden.
Mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund ergab er sich röchelnd seinem längst überfälligen Schicksal.
Klaffend öffnete sich die riesige Wunde an seinem Hals. Immer weiter sprudelte der Lebenssaft aus der durchtrennten Arterie, versorgte sein Gehirn dadurch nicht mehr mit dem lebensnotwendigen Sauerstoff.
Eric ließ seine rechte Hand sinken. Das Blut seines Opfers rann von dieser, auf die Schneide des Messers hinunter.
Tropfte Fäden ziehend zu Boden, wo sich bereits eine Pfütze bildete.
Er wartete, bis sich Edgar nicht mehr rührte, und ließ ihn anschließend rücksichtslos zu Boden fallen.
Die ganze Zeit über, hatte er seinen Blick nicht von der Ausbilderin genommen.
Sie hatte weder geblinzelt, weggesehen oder hatte gar eingreifen wollen.
Auch jetzt saß sie weiterhin regungslos auf ihrem Stuhl. Starrte ihren ehemaligen Peiniger nach wie vor an, als ob sie noch nicht begriff, was da gerade passiert war. Jetzt hob sie ihren Blick endlich, sah stattdessen ihn an.
Er konnte nicht genau definieren, welche Emotionen ihre Augen im Moment ausdrückten.
Kalt. Ihr Blick war eiskalt und leer. Wortlos stieg er über die Leiche des Fraktionslosen, ging an Lexa vorbei, auf ein überdimensionales Waschbecken zu, welches sich mehrere Meter entfernt befand, um sich seine mit Blut besudelten Hände zu waschen.
Als er zurückkehrte, war Lucien schon dabei, sich um seine Hinterlassenschaft zu kümmern. Eric ging zu Lexa, die weiterhin regungslos auf ihrem Stuhl saß und wie in Trance wirkte.
Eric legte ihr die gleiche Hand auf die Schulter, die vor wenigen Minuten ein Leben beendete, drückte sie kurz, um so ihre Aufmerksamkeit zu erlangen.
“Komm.”
Sie erhob sich anstandslos und folgte ihm nach draußen.
Wie ferngesteuert lief Lexa hinter ihm her. Er war ein Mörder.
Zwar war ihr das natürlich schon vorher klar gewesen, aber dabei zu sein, wie er ohne jede Emotion das Dasein einer Person beendete, war etwas völlig anderes.
Schon zum zweiten Mal hatte er einem Menschen das Leben genommen, seitdem sie sich hier im Hauptquartier befand. Beide Opfer standen in direkter Verbindung mit ihr.
Eric hatte diese Männer für sie getötet.
Diese nüchterne Erkenntnis zog ihr den Boden unter den Füßen weg.
Ein Mörder lief direkt vor ihr.
Ihr Ausbilder und Anführer.
Der Mann, der all ihre Abgründe und Geheimnisse kannte.
Sie gegen sie verwenden konnte. Wer würde ihr helfen?
Wer würde sich für sie einsetzen? Sich gegen diesen Machthaber stellen, der ohne Skrupel Leben beendete, als ob es das Normalste der Welt wäre?
Sie wusste nicht mehr, was sie denken oder fühlen sollte.
Sie war leer. Da war nichts.
Als würde nur eine Hülle ihrer selbst, hinter dem Anführer herlaufen.
Erst der knirschende Kiesel unter ihren Stiefelsohlen, holte sie wieder ins Hier und Jetzt zurück.
Sie befanden sich auf dem Dach des Wohntraktes. Genau dort, wo sie auch beim Jahreswechsel gestanden hatten.
Eiskalter Nieselregen sprühte ihr ins Gesicht. Sie folgte ihm unter einer Art Unterstand. Zwei kleine Holzkisten standen dort. Auf einer von ihnen lag eine Decke.
Fast, als hätte sie jemand dort für sie vorbereitet. Eric nahm sie, legte ihr den kratzigen Wollstoff um die Schultern und schob sie sanft, aber bestimmend zu einer der Kisten. Lexa setzte sich wortlos.
Bevor auch er sich niederließ, holte er aus einer dunklen Nische neben sich, eine Flasche hervor, schraubte sie auf und setzte sie an seine Lippen. Nachdem er abgesetzt hatte, reichte er ihr die Flasche, aber Lexa reagierte nicht. “Trink. Es hilft. Glaub mir.”
Lexa sah zweifelnd von der Flasche mit dem klaren Inhalt zu ihm. Streckte schlussendlich doch die Hand danach aus und nahm einen Schluck.
Das Zeug brannte wie Feuer. Augenblicklich wärmte der harte Alkohol ihren Rachen. Die Blonde spürte, wie sich der vermutlich Schwarzgebrannte ihre Speiseröhre runter ätzte.
Sie fühlte etwas, nur das war wichtig. Nochmals führte sie die Flasche an ihren Mund. Reichte sie ihm anschließend zurück.
Ohne vorher darüber nachgedacht zu haben ergriff sie das Wort. “Warum hast du das gemacht?”
Eric zögerte nicht, antwortete ihr sofort. “Warum hätte ich es nicht tun sollen?”
“Du hattest nichts mit ihm zu schaffen, er hat dir nichts getan.”
Eric lachte kurz auf.
“Er hat sich an dir vergangen und dich fürs Leben gezeichnet. Das reicht mir völlig als Grund.” Ungläubig sah Lexa zu ihrem Anführer. Mit einem Mal fluteten tausend Gedanken ihren Kopf. Aber nicht einer von ihnen konnte ihr dabei helfen, seine in ihren Ohren kryptische Antwort richtig zu deuten.
Ihr Blick ging in die Ferne, verlor sich dort.
Kein Wort wurde mehr auf dem Dach gesprochen. Jede Silbe wäre zu viel gewesen.
Das Geschehene stand unausgesprochen zwischen ihnen. Eröffnete einen tiefen Graben, aber zeitgleich spannte es auch einen schmalen, wackeligen Steg. Noch traute sich Lexa nicht, diesen zu betreten.
Zu groß die Zweifel, zu spärlich das fragile Konstrukt des Vertrauens.
Etwa 300 Meter entfernt, stieg dunkler Rauch in den wolkenverhangenen Nachthimmel.
Ein Haufen dunkelgrauer Asche, drei bis vier Kilogramm schwer. Ein Gemisch aus Kalzium und anderen mineralischen Substanzen.
Die Atome wurden wieder der Atmosphäre übergeben.
Das war alles, was von Edgar Winston blieb.
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