54.
Eric hielt inne, wägte ab.
Er hatte wirklich keinen Bedarf, mit Lexa zu sprechen. Bleiben oder gehen?
Sie hatte sich entschuldigt. Immerhin.
Aber er war zu neugierig, was sie zur Einsicht gebracht hatte, also hielt er inne und wendete sich ihr doch wieder zu.
“Hattest du mir nicht vorgeworfen, dass ich dir nachstelle? Jetzt bist du diejenige, die mir hinterherrennt. Was soll das? Sag, was du zu sagen hast und dann geh. Ich habe keinen Nerv mehr, für dein kindisches Benehmen.”
Er hatte definitiv nicht vergessen, was sie ihm unterstellt hatte und würde nicht kleinbeigeben.
Dieses Mal nicht.
Sie blieb an der erhöhten Hauskante stehen, sah ihn bittend an.
“Nimmst du meine Entschuldigung an? Es tut mir wirklich leid.”
“Wenn das jetzt jedes Mal so läuft, wenn wir Differenzen haben, wird unsere Zusammenarbeit auf Dauer nicht funktionieren, dass ist dir schon klar, oder?”
Eric sah Lexa forschend an. Meinte sie ernst, was sie sagte?
Er ging ein paar Schritte auf sie zu. Jetzt konnte er erkennen, dass sie zwei Flaschen Bier bei sich trug, die in ihren zittrigen Händen klimpernd aneinanderschlugen. Bestimmt wegen der schneidenden Kälte, hier oben auf dem offenen Dach. Noch wahrscheinlicher war aber, dass ihr Zittern von Nervosität herrührte. Angst wäre ebenfalls eine Möglichkeit.
Ihren sonst so unnachgiebigen Blick hielt sie gesenkt. Ihre hängenden Schultern unterstrichen ihre defensive Körperhaltung noch zusätzlich.
Als wäre sie am liebsten gar nicht hier.
Zähneknirschend beschloss er, ihr nochmals eine Chance zu geben.
Normalerweise war er ein überaus konsequenter Mensch. Überschritt jemand eine bestimmte Grenze bei ihm, war der Ofen aus.
Und sie hatte diese Linie inzwischen nicht nur übertreten, sondern regelrecht niedergewalzt. Aber bei Lexa war es etwas anderes.
Er konnte sie nicht einfach mit Ignoranz strafen, sie würden zusammenarbeiten müssen.
Er musste über seinen Schatten springen und seinen Teil dazu beitragen. Ob er nun wollte oder nicht.
Lexa lag noch mehr auf dem Herzen, das sah er ihr an. Aber sie wirkte nicht so, als ob sie von allein mit der Sprache rausrücken würde.
“Haben wir ein Problem miteinander?”, fragte er mit scharfem Tonfall.
Sie schien seine Frage entweder zu ignorieren oder sie traute sich nicht, eine Antwort zu geben.
Instinktiv wich er ein paar Schritte zur Seite, gab ihr mehr Raum. Es wirkte, als würde hinter ihrer Stirn ein Kampf stattfinden.
“Also ja. Gut. Sagst du mir auch welches? Es geht dir nicht nur um das beschissene Kleid, also raus mit der Sprache.”
Zögernd hob sie den Blick.
Er konnte ihre Zerrissenheit darin sehen. Oh ja, da war noch viel mehr im Argen, als er anfangs dachte.
“Ich möchte bitte, dass du mich zurück an den Zaun versetzt. Auf meinen alten Posten. Du findest jemand Besseren für die Initianten. Bitte lass mich gehen.”
Eine tiefe Verzweiflung schwang in ihren leisen gesprochenen Worten mit.
Eric glaubte, sich verhört zu haben. Überrascht über ihre befremdliche Aussage, sah er sie an. Fast wäre ihm keine Antwort eingefallen, so überrumpelt war er von ihrer plötzlichen Kehrtwende. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.
“Okay. Warum willst du zurück?”
Er würde einen Teufel tun, sie zurückzuschicken.
All die Arbeit, die er schon investiert hatte, wäre umsonst gewesen. Die anderen Fraktionen sowie ihre eigene, waren bereits informiert. Man konnte den massiven Stein, der jetzt einmal ins Rollen gekommen war, nicht ohne weiteres wieder stoppen. Max würde ihm den Kopf abreißen, wenn Lexa hinschmeißen würde.
Er musste zusehen, dass er sie wieder auf Spur brachte, und zwar schnell!
Betont langsam trat er näher zu ihr, stellte sich dicht neben sie.
Wortlos zog er sich seine Uniformjacke aus und legte sie Lexa um die Schultern.
Sie fror wie ein junger Hund und würde sich hier oben noch den Tod holen, so luftig wie sie angezogen war.
Die Flaschen, die sie weiterhin in ihren klammen Händen hielt, nahm er ihr ab. Öffnete eine nach der anderen und reichte ihr eine davon.
Eric wollte keinen Druck ausüben. Er schwieg und wartete ab, bis sie bereit war, von selbst das Wort zu ergreifen.
Nach kaum einer Minute machte es den Anschein, als ob sein Plan aufging. Es hatte gedauert, aber sie sprach.
“Ich kann das hier nicht. Ich kann nicht mit dir arbeiten, ich bin nicht gut genug. Ich …”
Sie kam ins Stocken. “... Ich kann dir nicht vertrauen!”
Jetzt war es also raus.
Aber sie war noch nicht fertig.
Tief atmete sie durch, ihr weißer Atem stieg hoch in den tiefschwarzen Nachthimmel. Nachdem sie sich kurz sammelte, sprach sie mit zittriger Stimme weiter.
“Ich weiß nie, ob du mich anlügst, ob du mich hintergehst. Wann man normal mit dir reden kann oder ob man am besten die Flucht ergreift. Du bist gemein und hinterhältig. Ich kann mit so jemandem nicht arbeiten. Ich kann so jemandem wie dir, nicht vertrauen! Erst recht nicht, wenn ich ständig Angst haben muss, dass du jeden Moment meine Wohnung betrittst und keine meiner Grenzen akzeptierst.”
Die Überwindung, die es gekostet hatte, ihm das alles geradeheraus ins Gesicht zu sagen, sah er ihr an. Sie jetzt zur Schnecke zu machen, würde sie nur in ihrer Entscheidung bestärken.
Also musste er den einfühlsamen Anführer mimen und sich zusammenreißen.
Es gab nicht viel, in dem er sich schwertat. Aber mitfühlende, emotionale Ansprachen waren nicht unbedingt etwas, was er beherrschte.
“Alles, was du brauchst, ist genau das, was du gerade bewiesen hast. Mut.”
Wieder schwieg sie, aber plötzlich regte sie sich doch. Zweifelnd sah sie zu ihm auf.
Sein Zeichen, fortzufahren.
“Verstehe ich das also richtig? Du gibst auf?”
Die Fragen aller Fragen bei den Ferox, der stolzen Kriegerfraktion. Ein Ferox gab nicht auf.
Unter keinen Umständen.
Niemals.
Würde sie jetzt mit ja antworten, würde er in den sauren Apfel beißen müssen.
Dann hatte sich nicht nur Max fatal in ihr getäuscht, sondern auch er. Unter dieser Voraussetzung hatte er einen folgenschweren Fehler begangen, für den schlussendlich er die volle Verantwortung übernehmen musste.
In ihr arbeitete es.
Er sah sie unverwandt an.
Seine Frage hatte sie offensichtlich zum Nachdenken gebracht.
Er nahm einen Schluck von dem Bier in seiner Hand, ohne aber den Blick von ihr zu nehmen.
Der fahle Mondschein ließ ihr kurzes Kleid unter seiner, ihr viel zu großen Jacke glitzern. Ihre zartgeschminkten Lippen hielt sie fest aufeinandergepresst. Die dunkel getuschten Lider gesenkt.
Endlich kam etwas von ihr.
“Ich möchte nicht aufgeben, aber ich weiß nicht, wie ich mit dir zusammenarbeiten soll, wenn ich mich ständig von dir hintergangen, bedroht und kontrolliert fühle.”
Nachdem sie endete, sah sie ihm mit ihren dunkelblauen Augen fest in seine. Er widerstand dem Drang, ihrem durchdringenden Blick auszuweichen.
Sie hatte irgendetwas an sich, was ihn überraschender Weise, unsicher werden ließ. Dieses völlig unerwartete Gefühl war ihm neu.
Schnell sammelte er sich. Fokussierte sich wieder auf ihr Gespräch und versuchte, alles andere auszublenden.
Sie wiederholte, dass sie ihm nicht vertraute. Das war also ihr größtes Problem. Aber das war ihm schon vorher klar gewesen.
Sie drehten sich im Kreis, so war das nicht zielführend.
Er musste die Situation beruhigen, sie wieder einfangen.
“Ich habe dich nie hintergangen. Ich schütze dich, bilde dich aus und achte darauf, dass du keine Scheiße baust. Das ist meine Aufgabe als Ausbilder. Erinnere dich an deinen Kampf gegen David. Glaubst du, dass ich das gleiche, was ich für dich gemacht habe, auch für jemand anderes getan hätte? Sicher nicht.”
Sie hörte ihm aufmerksam zu, jetzt konnte er härtere Geschütze auffahren. Lexa gab nicht auf, das wurde ihm jetzt klar. Sie brauchte nur einen Schubs in die richtige Richtung, damit sie wieder auf den richtigen Weg fand.
Ein paar aufbauende Worte.
Zu guter Letzt aber auch Taten seinerseits, selbst wenn sich alles ihn ihm dagegen sträubte. Ihr erneuter Streit und vielleicht auch, dass er sie danach komplett ignorierte, hatte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der Bahn geworfen.
Sie war tatsächlich noch labiler, als er anfangs annahm.
Die Ausbilderin hatte unglaubliche Angst zu versagen und seinen Ansprüchen nicht gerecht zu werden. Das Ungefragte besorgen des Kleides, schien für sie wie eine Art Bestätigung gewesen zu sein. So wie sie aussah, war sie nicht gut genug. Alles, was sie ausmachte, lag womöglich unter seinen Erwartungen.
Er musste umdenken, wenn er solche Fehler in der Zukunft vermeiden wollte.
Das Blondchen war ganz sicher wesentlich sensibler, als sie sich sonst immer nach außen hin, gab.
Er knüpfte an seinen letzten Satz an. “Alles, was ich tue, hat einen Sinn, auch wenn du es noch nicht nachvollziehen kannst. Vertrauen ist ein großes Wort. Entweder du vertraust mir oder eben nicht. Ich bin nicht dein Kumpel, aber auch nicht dein Feind. Du musst dir klar werden, was du wirklich willst. Eine Chance ergreifen und daran wachsen oder sie ungenutzt wegschmeißen und es später bereuen, wie du es schon so oft getan hast. So oder so werde ich dich ausbilden und mit dir arbeiten. Da hast du keine Wahl. Und sei dir sicher, ich bilde nur die Besten aus. Du wärst nicht hier, wenn ich es nicht abgesegnet hätte. Du bist die Erste, bei der ich zugestimmt habe, und du wirst die Einzige bleiben.”
Damit wendete er sich ab. Sah in die Ferne, über die Dächer der Stadt hinweg.
Wenn seine Worte bei ihr ihre beabsichtigte Wirkung entfalteten, würde er es früh genug merken. Sie sollte begreifen, dass sie ihm sehr wohl vertrauen konnte.
Auch wenn es ihr verständlicherweise schwerfiel.
Ihm kam etwas in den Sinn, was er damals von seinem Mentor Frank in der Ausbildung zum Anführer gesagt bekam.
Auch er war einmal an dem gleichen Punkt gestanden, an dem sich gerade Lexa befand.
Niemals würde er die Worte vergessen. Diese Sätze waren es gewesen, die ihn durch diese harte Zeit getragen hatten.
Nie hatte er damit gerechnet, aber jetzt würde er sie an Lexa, seine Schülerin weitergeben.
Tief sah er ihr erneut in die Augen. Ging einen Schritt auf sie zu und legte ihr seine große Hand fest auf ihre im Vergleich schmale Schulter.
“Es gibt genau drei Dinge, die du nie vergessen darfst.
Erstens: Kenne deinen Wert.
Zweitens: Kontrolliere deine Emotionen.
Drittens: Gib niemals auf.”
Nachdem er wieder auf seinen vorherigen Platz zurückgegangen war, sah Lexa zögerlich zu ihm rüber.
Er hatte mit allem Recht, was er sagte. Mit jedem einzelnen, verdammten Wort.
Am liebsten hätte sie geheult vor Scham.
Ja, er hatte sie vor Augen der gesamten Fraktion aus dem Ring getragen. Ihr die beste medizinische Versorgung zuteilwerden lassen, obwohl sie nicht in der Position dafür war.
Er hatte den Kerl der sie so zugerichtet, ja fast umgebracht hatte, mit dem Tode bestraft und damit in Kauf genommen, selber in Bedrängnis zu geraten.
Ihre tolle Wohnung durfte sie nur durch sein Zutun beziehen.
Auch ihren elitären Posten als Initiantenausbilderin schuldete sie ihm. Und sie bereitete ihm zum Dank, alle paar Tage eine Szene, nur weil er seinen Job machte.
Sie war nicht nur dumm. Sie benahm sich undankbar und zickig.
Unschlüssig auf ihrer Oberlippe kauend, stand sie frierend im eisigen Wind und wusste nicht, was sie sagen, geschweige denn, tun sollte.
Frenetischer Jubel aus dem Gebäude unter ihren Füßen und aus der Stadt, die dunkel vor ihnen lag, wehte zu den beiden hoch.
Das neue Jahr hatte begonnen.
Leise wagte sie einen fast verzweifelt wirkenden Vorstoß. “Gutes Neues Jahr, Eric.”
Keinerlei Reaktion bei dem Anführer. Dieser blickte weiterhin ohne jede Regung in die Ferne. Über die Dächer der Fraktionsgebäude hinweg.
Lexa beschloss, die Karten auf den Tisch zu legen. Ein letzter Versuch die Wogen zu glätten.
“Ich werde mich bemühen, nicht mehr so zu sein. Ich war dumm, mein Verhalten ist dumm. Ich will nicht aufgeben, aber ich weiß nicht, wie ich deinen riesigen Ansprüchen genügen soll. Ich bin nicht wie du.”
Er wendete sich ihr wieder langsam zu. Das leichte Schmunzeln in seinem Gesicht wirkte auf den ersten Blick deplatziert.
Lexa war irritiert, warum grinste er?
“Du bist nicht dumm. Dein Verhalten ist die Folge deiner Erfahrungen und deiner Unsicherheit.
Und da ist noch etwas, in dem ich dich berichtigen muss. Du bist zu viel mehr fähig, als du jetzt denkst. Und wir sind uns ähnlicher als du annimmst. Das ist der Grund, warum ich dich nicht gehen lasse. Du ziehst das jetzt durch, verstanden? Du genügst meinen riesigen Ansprüchen absolut, deswegen bist du hier. Du und nicht irgendwer anderes. Du wurdest von Max und mir persönlich ausgewählt. Und jetzt trink dein Bier. Das Thema ist beendet und ich will nichts mehr davon hören.”
Lexa atmete innerlich durch.
Dass Eric ihr, ihr Verhalten nicht nachtrug, ließ eine Last von ihr abfallen.
Sie nahm einen großen Schluck von ihrem Bier und wollte ihm genau das sagen, aber er kam ihr zuvor.
“Der nuttige Fetzen steht dir übrigens, du solltest sowas öfter tragen.”
Verwundert sah ihn Lexa an, hatte sie gerade richtig gehört?
“War das jetzt ein Kompliment, Eric?”
“Das bleibt deiner Sichtweise überlassen. Nimm es wie du willst.”
Mit offenem Mund ließ er sie stehen. Hielt mit schnellem Schritt auf die Tür zu, die ins Innere des Gebäudes führte und sah sich nicht mehr um.
Fantasierte sie? Hatte Eric Coulter eben tatsächlich ihr Aussehen gelobt?
Sollte sie sich jetzt freuen oder eher Angst haben? Hatte das etwas zu bedeuten? Und wenn ja, was?
Er sagte auch, dass sie sich ähnlicher waren, als sie vermutete. Und dass sie seinen Ansprüchen gerecht wurde.
Was genau meinte er damit?
Die Blonde war jetzt noch verwirrter als zuvor.
Sie wollte keinesfalls etwas in das Gespräch hineininterpretieren, was nicht der Realität entsprach. Aber so ziemlich jedes Wort, welches er am Schluss sagte, hatte in ihren Ohren so zweideutig geklungen. Sie wusste beim besten Willen nicht, was sie davon halten sollte.
Was verflucht noch mal, war los mit ihm?!
Er war ihr Anführer, wieso machte er ihr Komplimente?
Ihr Aussehen ging ihn einen verdammten Scheißdreck an!
Wo war seine Selbstdisziplin geblieben? Wie hatte er zulassen können, dass er so sehr die Kontrolle verlor?
Dann steckte er ihr auch noch, wie ähnlich sie sich doch waren ...
Er konnte es nicht zu fassen.
Ohne Umwege ging er zu seiner Wohnung.
Er musste sich sammeln und dann irgendeine Lösung finden, diese Frau aus seinem Kopf zu bekommen. Sie nahm mittlerweile einen viel zu großen Stellenwert darin ein.
Es war ein riesiger Fehler gewesen Edgar hierher zu bringen.
Er hatte sich von seinen Gefühlen leiten lassen. Genau den gleichen Mist fabriziert, den er Lexa vorhielt.
Erlaubte ihnen, die Führung zu überlassen. Es war genau das passiert, was niemals hätte passieren dürfen. Er ließ seine Gefühle, über seinen Verstand hinweg zu. Alles, was er sich seit seiner Jugend mühevoll antrainiert hatte - wie weggeblasen.
Das war absolut inakzeptabel und durfte nicht mehr vorkommen.
Er musste Edgar loswerden, und zwar so schnell wie möglich.
In blindem Aktionismus hatte er sich von seiner Wut und einem völlig fehlplatzierten Beschützerinstinkt leiten lassen. Wie er aber Lexa aus dem Kopf bekommen sollte, war ein anderes Thema.
Zuerst musste er sich selbst wieder in den Griff bekommen.
Sie und alle anderen, durften nichts davon mitbekommen. Unter keinen Umständen.
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