51.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Lexa zusammen mit ihren Freunden, die Party des großen Festes verließ. Wankend hielt sie sich an Tina fest, die immer noch über den platten Witz von Raphael lachte, den er vor wenigen Sekunden gerissen hatte. Dieser bog kichernd mit Mira im Arm ins Untergeschoss ab. Die drei Verbliebenen hielten auf die Treppen zu, die sie in ihre Stockwerke bringen sollten. Sie wichen einem torkelnden Ferox aus, um von diesem in seinem Rausch nicht umgerannt zu werden, aber trotzdem streifte Lexa eine Person hinter sich und drohte zu stürzen. Eine große Hand griff in letzter Sekunde nach ihrem Oberarm und hielt sie fest, damit sie nicht fiel und sich unweigerlich verletzte. Lexa blickte auf, um demjenigen zu danken, sah sie direkt in ein Paar blaugraue Augen, die unverwechselbar zu Coulter gehörten. Wortlos half er ihr, sich wieder sicher aufzurichten, und ging sofort, ohne ein Wort zu verlieren, weiter. "Oh schau an, der edle Ritter hilft seiner holden Maid", kicherte Tina betrunken vor sich hin. Lexa verdrehte die Augen. "Ach halt die Klappe und geh weiter." Eric war schon in der Menge verschwunden, sie konnte ihn nicht mehr sehen, als sie sich auf der ersten Stufe noch einmal umsah.
In ihrer Wohnung angekommen, streifte sie sich sofort die hohen Hacken von ihren schmerzenden Füßen. Ihr geliehener Jumpsuit flog ebenfalls in hohem Bogen, in die nächstbeste Ecke. Sie war ziemlich angeschickert und wollte sich nur noch abschminken und dann sofort in ihr Bett fallen. Mitten in der Bewegung hielt sie inne. War das Blut, da an ihrem Arm? Wo kam das her? Sie besah sich ihren Körper, fand aber keine Verletzung an sich. Das Blut war frisch, sie konnte es noch verschmieren. Würde es da bereits länger kleben, wäre es bestimmt schon getrocknet. Lexa versuchte, sich zu erinnern, was oder wen sie zuletzt mit diesem Arm berührt hatte. Aber ihr fiel auf Anhieb keine Situation ein, in der das Blut hätte an ihren Arm gelangen können. Doch, da hatte es einen Moment gegeben. Eric hatte sie an diesem Arm gehalten, als sie vorhin gestolpert war. Dabei streifte sie sein Hemd in Bauchhöhe, aber warum sollte er frisches Blut an seiner Kleidung haben? Ohne sich weiter Gedanken zu machen, wischte sie das fremde Blut mit einem Stück nassem Toilettenpapier weg und fuhr damit fort, sich bettfertig zu machen.
Viele Stockwerke unter Lexas Wohnung hing ihr damaliger Peiniger weiterhin baumelnd von der Decke. Lucien, Edgars ehemaliger Ausbilder und allen voran Coulter, hatten sich stundenlang erbarmungslos an ihm ausgetobt. Doch er war standhaft geblieben. Er konnte sich mittlerweile denken, um was es den beiden ging.
Jegliches Zeitgefühl war ihm inzwischen abhanden gekommen. Bestimmt war er schon seit mindestens einem Tag hier unten, in diesem vor Dreck starrenden Verlies. Das Kribbeln in seinen Händen spürte er schon länger nicht mehr. Die blutenden, aufgeplatzten Striemen, die das Kabel auf seinem Rücken, bis hinab an seine Oberschenkel gerissen hatte, brannten wie Feuer. Seine geschwollene Zunge klebte wie ein Fremdkörper unangenehm an seinem Gaumen. Der leere Magen hing ihm sprichwörtlich in den Knien, aber Edgar rechnete nicht damit, dass er von den beiden Anführen, dieser von Korruption und Vetternwirtschaft durchsetzten Fraktion, etwas zu erwarten hatte. Zu allem Übel hatte ihm dieses miese Schwein Coulter, irgendetwas Spitzes unter die Nägel seiner großen Zehen getrieben. Es war eine unfassbare Qual, sich jetzt aufrecht zu halten. Sobald er es nicht schaffte, drohte er sich die Schultergelenke auszukugeln. Das überhebliche Grinsen, welches dieser Psycho im Gesicht hatte, als er ihm die kleinen, Nagelförmigen Gegenstände unter die Zehennägel trieb ... Es hatte sich ihm unwiderruflich ins Gedächtnis gefressen. Immer wenn er die Augen schloss, sah er Coulters selbstverliebte Fratze vor sich. Mit welch morbiden Freude er ihm die Schmerzen zufügte. Emotionslos, ohne mit der Wimper zu zucken.
Es wurde viel erzählt, über den jüngsten Anführer, den die Ferox jemals hatten. Er war immer davon ausgegangen, dass sie völlig übertrieben und aus der Luft gegriffen waren. Aber er hatte sich eines anderen belehren lassen müssen. Dieser Kerl war tatsächlich so brutal und erbarmungslos wie berichtet wurde. Dieses kranke Arschloch hatte, ohne zu zögern, all seine Freunde und Unterstützer abknallen lassen, wie unnützes Vieh.
Er befand sich in einer misslichen Lage. Denn er musste zusehen, dass er hier lebend rauskam. Wer hätte denn ahnen können, dass die Ferox wesentlich brutaler waren, als man gemeinhin annahm. Wenn er wenigstens ein bisschen Schlafen könnte. Aber dieser Raum, in dem sie ihn zurückgelassen hatten, war grell erleuchtet. Unfassbar lautes Gebrülle, welches der Bezeichnung Musik nicht würdig war, dröhnte aus riesigen Boxen, die nur wenige Meter vor ihm aufgebaut waren. Der fiese Schmerz, den seine aufgehängte Position zu Folge hatte, zog sich stechend durch seine Arme. Hinunter in die völlig überdehnten Schultern. Sein gesamter Oberkörper war von Schlägen, Tritten und Erics vorhergegangenen Peitschenhieben mit dem Kabel, gezeichnet. Stille. Die Musik war aus, obwohl er sich da nicht sicher war. Es schien, als würde sie in seinem Kopf wie ein Echo, weiter schallen. Das Licht wurde ausgeschaltet, es war mit einem Mal stockdunkel. Leichte Panik stieg in ihm auf, was würde jetzt passieren? Minutenlang starrte er zitternd ins Dunkel. Immer in Erwartung, dass ihn jemand angreifen und noch weiter verletzen würde. Ein Ruck des Schreckens durchzuckte ihn, als unerwartet die überlaute Musik und das grelle Licht zeitgleich erneut angingen.
Drei Stunden Schlaf mussten ausreichen, beschloss Eric. Er wollte keine Zeit verschwenden und diesen fraktionslosen Abschaum endlich zum Reden bringen. Also war er kurz nach Sieben morgens, schon wieder runter in den abgeschirmten Nebenraum des Folterkellers gegangen und hielt Edgar mit Psychoterror auf Trab. Er fand harte Rockmusik eigentlich gut, aber was Lucien für diesen Kerl rausgesucht hatte, war mehr als grenzwertig. Er glaubte, dass man dieses rhythmuslose Geschrammel Death Metal nannte, aber da er solch beschissene Musik nicht hörte, kannte er sich da nicht aus. Auch nachdem er sich in dem eigentlich Schallgeschützen Raum Ohrenstöpsel einsetzte, war der grässliche Krach fast nicht auszuhalten. Ihm lief die Zeit davon. Er musste diesen Bastard zum Reden bringen, bevor irgendwer mitbekam, was hier unten vor sich ging. Er hatte weder Max Genehmigung für ein solches Verhör, noch wussten die Candor über die Verhaftung Edgars Bescheid. Er würde einiges zu erklären haben, wenn er aufflog. Die Elektronik des Raumes war von ihm so programmiert worden, dass in bestimmten Intervallen, Musik und Licht an und wieder ausgingen. Vielleicht machte das ja den blonden Vergewaltiger mürbe. Es klopfte. Das musste Lucien sein. Jemand anderes wusste nicht von dieser Sache hier. Die Tür öffnete sich, der erwartete Glatzkopf trat ein. "Wie sieht es aus? Redet er?" Ohne Lucien anzusehen, antwortete Eric ihm. "Ich war noch nicht wieder bei ihm. Mach die Elektroschocks bereit. Es wird Zeit, den Vogel zum Singen zu bringen." Lucien sah seinen Vorgesetzten fragend an. "Meinst du, dass ist nötig? Lass ihn einfach noch ein bisschen hängen, dann wird er schon von alleine sagen, was du hören willst." "Für den Mist habe ich keine Zeit. Er muss so schnell wie möglich von hier verschwinden. Außer natürlich, du übernimmst danach das Gespräch mit den Candor und Max. Wenn du schon dabei bist, kannst du ihnen dann auch gleich erklären, warum du Lexas Vergewaltigung verschwiegen und das Ranking der Initiation frisiert hast."
Lucien senkte den Blick, Eric hatte ihn in der Hand. Er hing da mit drin, diesen Umstand nutze Eric gnadenlos zu seinem Vorteil aus. Widerstrebend setzte sich Lucien in Bewegung, um Erics Befehlen Folge zu leisten. Es war ihm ein Rätsel, warum sich Eric solch eine Mühe wegen diesem unwichtigen Obdachlosen machte. Er konnte Lexa ohnehin nichts mehr anhaben und man sollte die Vergangenheit ruhen lassen. Was also, bezweckte Coulter damit? Tat er all das womöglich nur aus Rache, lag seinem Vorgesetzten tatsächlich so viel an Lexa? Lucien konnte es sich fast nicht vorstellen. Eric hatte doch nie die Belange von anderen, über seine eigenen gestellt. Dieses ihm völlig fremde Verhalten widersprach seiner Natur gänzlich. Der ehemalige Ausbilder hielt von der ganzen Sache hier, rein gar nichts. Aber bei Eric biss er mit seiner Sichtweise auf Granit. Dieser ließ sich nicht im Geringsten, von seinem einmal eingeschlagenen Weg abbringen. Auch wenn es der vermeintlich Falsche war. Schon zum wiederholten Male schoss der Strom heftig durch Edgars geschundenen Körper. Lucien hatte schon mehrfach eimerweise Salzwasser über den weiterhin an der Decke Festgemachten geschüttet, um die Leitfähigkeit zu erhöhen. Der geschwächte Körper des Fraktionslosen bebte und zitterte wie im Wahn.
Es war beeindruckend, wie viel Leid und Schmerz der menschliche Körper doch aushalten konnte, ging Eric durch den Kopf. Während er ein weiteres Mal den Knopf betätigte, sah er interessiert dabei zu, wie die kontrollierte Elektrizität ihren Gefangenen augenblicklich zum Krampfen brachte. Eric hatte ihm vorher eine dreckige Socke in den Mund gestopft, damit er sich nicht die Zunge abbiss. Die würde er schließlich noch brauchen, wenn er sein Geständnis ablegte. Im Augenwinkel bemerkte Eric, wie Lucien jedes Mal zusammenzuckte, wenn er erneut Strom durch den Gefangenen jagte. Er hatte ihn schon vorher zurechtweisen müssen. Er hätte nicht erwartet, dass der ehemals so taffe, grobschlächtige Kerl, mit den Jahren so verweichlicht war. Wütend ob der Schwäche seines Kollegen, bedachte er diesen mit einem vernichtenden Blick. "Es steht dir frei zu gehen, Lucien." Lucien wich nicht zurück. Antworte mit festem, dringlichem Tonfall. "Du bringst ihn um, Eric. Noch einen Stromstoß packt er nicht. Lass es gut sein." Wieder fing er sich einen abwertenden Seitenblick seines Vorgesetzten ein. Eric hatte genug, von dessen mädchenhaftem Verhalten. "Verpiss dich und heul woanders rum, aber lass mich meine Arbeit machen, wie ich sie für richtig halte!"
Lucien schüttelte verständnislos den Kopf, verließ dann aber schlussendlich zügig den trostlosen, dunklen Raum. Noch während er sich entfernte, konnte man das elektrische Summen eines weiteren Stromstoßes und die gepresst klingenden Laute Edgars, hören. Ein unsägliches, kehliges Geräusch, welches einem das Blut in den Adern gefrieren ließ, folgte. Die schwere Tür fiel ins Schloss. Zurück blieben Eric und sein wehrloses Opfer. Allein in dem Kalten, verwahrlosen Raum. Der junge Anführer erhob sich und riss dem Fraktionslosen das dreckige Stück Stoff aus dem Mund. "Willst du, das ich aufhöre?" Edgar nickte kraftlos, konnte seinen Blick nicht einmal heben, so erschöpft und geschwächt, wie er mittlerweile war.
Eric wartete ab. Sein Körper war schon am Ende, aber der Geist noch nicht. Aber viel fehlte nicht mehr. Elektroschocks waren eine feine Sache, wenn man sie richtig einsetzte. Er kannte ihre Wirkung nur zu gut. In der Anführerausbildung wurde auch er massiv gefoltert. Es war ein überaus wichtiger Teil des Drills, der einem in diesen zwei Jahren erwartete. Die Durchfallquote war hoch. Nicht jeder vorher hochgelobter Anwärter, überstand die volle Ausbildungszeit. Selbst Todesfälle waren schon vorgekommen. Nur die härtesten unter ihnen, schafften es bis zum Schluss. Diese durften sich nach all den Qualen und Herausforderungen, zurecht als Anführer vereidigen lassen. Doch dieser Kerl hier war kein ein fertig ausgebildeter Ferox. Geschweige denn, dass er das Privileg genossen hatte, auf solche Situationen wie diese hier vorbereitet worden zu sein. Dementsprechend war sein Körper und Geist kurz davor zu kollabieren. Es fehlte nur ein kleiner Schubs, der ihn über die Klippe, hin zur völligen Aufgabe brachte. Eric stellte sich breitbeinig, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen vor seinem Opfer auf. Sah ihn unentwegt, mit eiskaltem, starrem Ausdruck an. Edgar wurde allmählich klarer im Kopf, hob wie in Zeitlupe zögernd den Blick. Blutunterlaufene, müde Augen trafen auf den unnachgiebigen Blick des blonden Anführers, der keinerlei Anstalten machte, von ihm abzulassen. Weder jetzt noch in Zukunft.
Eric konnte in diesem kurzen Moment dabei zusehen, wie in Edgar Winstons glasigen Augen etwas brach.
Er den Fuß über die Klippe der endgültigen Aufgabe hob.
Und fiel.
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