30.
„12 Minuten!! Du hast Four in 12 Minuten komplett zerlegt! Wer hat dich trainiert? Und jetzt komm mir nicht mit irgendwelchen Ausreden! WER?"
Raphael war völlig außer sich, überschwänglich nahm er seine Freundin in die Arme.
Um die beiden herum, laute Jubelrufe. Von allen Seiten wurde Lexa auf die Schultern geklopft, wurde sie mit Anerkennung und Glückwünschen überhäuft.
Auch Mike und Tina hatten sich inzwischen durch die Massen zu den beiden durchgekämpft.
„Jetzt lass sie doch mal in Ruhe, sie muss auf die Krankenstation. Raphi! Lass sie!" Tina musste laut werden, um sich Gehör beim völlig extatischen Mechaniker verschaffen zu können.
Schlussendlich packte sie ihre Freundin einfach am Arm und schleifte sie mit sich.
Weit kamen sie nicht, zwei Wachen schnitten ihnen den Weg ab.
„Sie kommt mit uns, wir bringen sie zu Dr. Jenner."
Tina musste das wohl so hinnehmen, machte sich aber daran, ihnen zu folgen.
Schnell stellten die Wachen allerdings klar, dass Begleitung nicht erwünscht war.
Vor den Kopf gestoßen, blieb die Brünette stehen und fühlte sich ausgeschlossen.
Seitdem Lexa auch nur einen Fuß ins Hauptquartier gesetzt hatte, ging das jetzt schon so.
Andauernd wurde Lexa von Wachen oder Anführern in Beschlag genommen und war dann teilweise tagelang, wie vom Erdboden verschluckt.
Was ging hier vor?
Und warum sagte Lexa kein Wort dazu?
Sie war doch sonst nicht so maulfaul und herumkommandiert werden, lag ihr eigentlich auch nicht. Sie erkannte ihre beste Freundin nicht wieder.
Suchend sah sie sich nach ihren Kumpels um.
Ihr Blick blieb an Eric hängen, der etwa 10 Meter entfernt, von der exakt gleichen Wache etwas gesagt bekam, die gerade Lexa abgeführt hatte. Nur war diese jetzt nicht mehr bei ihm.
Sie sah verwundert dabei zu, wie beide zügig in Richtung des Ausgangs verschwanden.
Tina fasste gerade den Entschluss, den beiden heimlich zu folgen, als von hinten auf einmal grölend Mike auftauchte und sie ohne Rücksicht auf Verluste mit sich zerrte.
Wieder war es May, mit der sie in den leeren Fluren des modernen Krankentraktes unterwegs war. Humpelnd folgte sie dieser, als sie zurück zu dem Behandlungszimmer gingen, wo Lexa vorhin von einer der Wachen abgeliefert worden war.
Die Krankenschwester öffnete die Tür, schon konnte sie sehen, dass sie bereits erwartet wurden.
Mit dem Rücken zu ihnen stand Eric, die Arme vor der Brust verschränkt.
Als er ihr Eintreffen bemerkte, drehte er sich langsam zu ihnen um und musterte Lexa ausgiebig.
„Wie lautet der Befund?" Emotionslos wie immer, stellte er seine Frage. Ließ dabei Lexa aber nicht aus den Augen.
Dieser war seine ausgiebige Begutachtung sichtlich unangenehm, sie wich seinem Blick aus und hoffte darauf, dass er endlich damit aufhören möge.
Zu Lexas Verwunderung reichte May wortlos ihr Tablet an Eric weiter.
Das mit der ärztlichen Schweigepflicht schien wohl nicht für Eric zu gelten. Sie kannte ihre Befunde selber noch nicht einmal, aber Hauptsache der große Anführer wusste Bescheid.
Genervt verzog sie ihr Gesicht und schob den Unterkiefer nach vorne. Diese andauernde Bevormundung seinerseits, ging ihr gehörig auf den Sender.
Gegen die Pritsche hinter ihm gelehnt, begann er vorzulesen: „multiple Kontusionen der Extremitäten, contusio Bulbi links, ..."
Lexa verstand überhaupt nichts von dem, was er da vorlas. Es waren auf jeden Fall eine Menge Verletzungen, soviel war klar.
„Eric, ich bin keine Ken, geht das auch so, das ich es verstehe?"
Kurz blickte er zu ihr rüber, ignorierte May's dreckiges Grinsen und fing noch einmal von vorne an.
„Du hast überall Prellungen, unter anderem eine schwere Prellung des linken Augapfels, der Rippen beidseitig, linke Schulter, Unterarme, Gesicht und so weiter.
Eine leichte Gehirnerschütterung und drei deiner rechten Mittelhandknochen sind gebrochen."
„Ach, na dann."
Gespielt unbeeindruckt, seufzte Lexa auf, hielt sich weiterhin die kalte Kompresse aufs linke Auge und setzte sich vorsichtig auf die Liege, neben der von Eric.
Sie hatte bereits Schmerzmittel erhalten, aber nachdem ihr Adrenalinspiegel inzwischen etwas abgeflaut war, spürte sie, dass Four ganze Arbeit geleistet hatte.
„May wird dich versorgen, du wirst eine Nacht hierbleiben. Morgen hast du frei."
Er wandte sich zum Gehen, stoppte dann aber kurz vor der Tür und drehte sich nochmal in ihre Richtung.
Eine Sekunde sah er sie nur an, dann fing er doch an zu sprechen.
„Gut gemacht."
„Ein Lob vom großen Meister! Wow." Beeindruckt von Erics Bemerkung machte sich May an die Arbeit.
Sie kannte ihn schon eine Weile, er war ihr Ausbilder in der Initiation gewesen und sie hatte ihn schon oft behandelt. Aber noch nie zuvor hatte sie mitbekommen, dass er je jemanden für irgendetwas lobte.
May hatte gearbeitet und somit den Kampf nicht mitverfolgen können, aber dass diese schmale Blondine hier, Four tatsächlich ausgeknockt hatte, war schon beachtlich.
Doch an Lexa war der Kampf gegen den ehemaligen Altruan nicht spurlos vorüber gegangen. Sie war diesmal schwerer verletzt als letztes Mal.
Zwar sah es nicht danach aus, denn heute war sie nicht so blutverschmiert wie letztens, aber die stumpfen Verletzungen waren nach diesem Kampf weitaus zahlreicher und schwerer.
Besonders die Verletzung des linken Auges machte ihr Sorgen.
Zwar hatte Dr. Jenner es sich kurz angesehen, nachdem er mit der Behandlung von Four fertig gewesen war, aber trotzdem sah die Verletzung echt übel aus.
Das musste unbedingt unter Beobachtung bleiben, sonst drohte im schlimmsten Falle eine Netzhautablösung.
Vorsichtig tupfte May an Lexas Augenhöhle entlang, um sie sauber zu machen. Ein paar kleinere Verletzungen im Gesicht der Blonden mussten noch versorgt werden, dann würde sie sich um den Rest kümmern.
Natürlich war der überraschende Sieg Lexas über Four, das beherrschende Thema der letzten Tage gewesen.
Jetzt war er in der internen Rangliste von seinem letztjährigen 7. Platz auf den 12. abgerutscht, eine Demütigung für den Leiter der Überwachungszentrale.
Jeder Gang durch die Fraktion, glich für ihn jetzt einem einzigen Spießrutenlauf.
Wenigstens konnte er es bisher vermeiden, auf Eric zu treffen. Für diesen Mistkerl war es bestimmt ein Triumph gewesen, ihn so wehrlos am Boden zu sehen.
Schon seit ihrem ersten Aufeinandertreffen in ihrer Initiation, waren sie sich spinnefeind. Zwar ging die Feindseligkeit auch damals hauptsächlich von Eric aus, aber Four war mehr als froh, wenn er diesem berechnenden Drecksack, so weit wie möglich aus dem Weg gehen konnte.
Seit der Sache mit den Unbestimmten, war das Tischtuch zwischen ihnen dann endgültig zerschnitten.
Es waren Dinge auf Erics Befehl hin passiert, die nicht mehr gut zu machen, oder gar gerechtfertigt werden konnten.
Was er von Lexa halten sollte, wusste er noch nicht so ganz. Eigentlich kannte Four sie überhaupt nicht. Er wusste über sie genauso viel, wie jeder andere auch.
Ein paar Sachen waren ihm allerdings aufgefallen.
Zuallererst ihr Kampfstil. Natürlich hatte er sich im Vorfeld Videos angesehen, aber ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit war neu gewesen.
Wie ein wildgewordener Stier, hatte sie auf ihn eingedroschen, mit einer Kraft, die er ihr niemals zugetraut hätte.
Außerdem schien sie wohl einen Draht nach oben zu haben, natürlich hatte auch er die Gerüchte der letzten Wochen mitbekommen. Lexa die Ausbilderin vom Zaun, war DIE Attraktion für alle Tratschtanten der Fraktion.
Vielleicht war sie sogar von einem der Anführer trainiert worden. Dies war eigentlich verboten, aber besonders Eric würde er diesen Verstoß gegen geltendes Feroxrecht, ohne weiteres zutrauen.
Dieser würde ohne Zögern, jede sich ihm bietende Chance nutzen, um ihm eins reinzuwürgen.
Umso mehr er darüber nachdachte, umso einleuchtender war der Gedanke. Das würde nämlich auch Lexas regelrechte Eskalation im Ring erklären.
Noch nie vorher war sie so auf einen Gegner losgegangen, solch eine Härte und Gewalt kannte er eigentlich nur von Eric.
So musste es gewesen sein!
Eric hatte die Blonde als seinen verlängerten Arm auserkoren. Hoffentlich war dieser klar, auf wen sie sich da einließ!
Kopfschüttelnd erhob sich Four von dem Schaltpult, am dem er die letzten Stunden verbrachte. Seine Schicht war endlich zu Ende.
Er freute sich schon auf einen gemütlichen Abend auf seinem Sofa und einen Anführer-Kampf im Livestream.
Dann konnte er seine geschundenen Knochen endlich etwas Ruhe gönnen. Außerdem wollte er für die nächsten Tage unbedingt jeden überflüssigen Kontakt zu den anderen vermeiden. Man sah ihm schon von weitem an, dass er als Verlierer den Ring verlassen hatte. Diese Peinlichkeit würde noch lang genug an ihm haften, wie ein klebriger Kaugummi.
Also stand in naher Zukunft nur das Ansehen der Kämpfe, als Zeitvertreib nach der Arbeit zur Debatte.
Richard würde auf Nate treffen. Anführer der Logistik, gegen einen Leitenden Soldaten der schnellen Eingreiftruppe.
Eigentlich war sowieso schon klar, wie der Kampf ausgehen würde. Schon letztes Jahr verlor der Alte seinen Kampf und war gerade so, nicht aus dem Top 10-Ranking abgerutscht.
Sollte er diesen Kampf wieder verlieren, sah es nicht gut aus für ihn.
Es war ein Novum, als Repräsentant der Fraktion, nicht unter den besten zehn Kämpfern zu stehen. Die Folgen waren noch nicht abzusehen, aber der alte Anführer hatte bei seinen Kollegen sowieso schon einen schweren Stand.
Lexa hatte ihren nächsten Gegner zugeteilt bekommen, David.
Die letztjährige Nummer 6 des Rankings. Ein professioneller Kämpfer des FightClubs.
Ein wahres Vieh von Kerl.
Dagegen war Four ein Zahnstocher gewesen.
Noch hatte sie keine Idee, wie sie ihn ausschalten sollte.
Ob Eric für diesen unbezwingbar scheinenden Gegner, auch ein paar passende Tricks auf Lager hatte?
Da kam er schon, langsam lief Lexa ihre Runde aus, kam kurz vor ihrem Vorgesetzten zum Stehen.
Sie war sich unsicher, wie sie ihm gegenübertreten sollte.
Ihr Aufeinandertreffen in dem dunklen Gang, hatte seine Spuren bei ihr hinterlassen, sie fühlte sich in seiner Anwesenheit nicht wohl. Nie konnte sie sich sicher sein, wie er im nächsten Moment reagieren würde.
Lexa beschloss, es heute etwas lockerer angehen zu lassen, er schien nicht so angespannt wie sonst zu sein.
Prüfend sah er sie an.
„Bist du fit genug? Du hast Schmerzen."
Er deutete auf ihr bandagiertes linkes Bein. „Solange du mir nicht gegen das Knie trittst, geht's", grinste sie.
„Musstest du mir eigentlich unbedingt David zuteilen? Hätte es nicht wenigstens Richard sein können?" Flehend sah sie ihren Gegenüber an.
„Damit habe ich diesmal nichts zu tun. Du hast es in die Top 10 geschafft, also schaffst du es auch in die Top 6. Jeder hat eine Schwachstelle. Sie zu finden ist die Schwierigkeit, nicht die Ausführung. Das solltest du als Ausbilderin eigentlich wissen."
„Hast du auch eine Schwachstelle?", forschte Lexa neugierig nach.
„Hätte ich eine, wäre ich nicht auf Platz 1, oder?"
Er wandte ihr seinen breiten Rücken zu und ging zum Ring.
„Heute nur leichtes Sparring und Ausdauer, du bist noch zu angeschlagen. Bewegung!"
Heute schien sie wieder die Alte zu sein, dachte sich Eric.
Er wurde einfach nicht schlau aus ihr! Eigentlich war er davon ausgegangen, dass sie heute zurückhaltender wäre.
Er hatte ihr letztens Angst gemacht, dass war ihm noch an Ort und Stelle bewusst geworden. Vielleicht hätte er, im Hinblick auf ihre Vergangenheit, doch etwas rücksichtsvoller reagieren sollen.
Aber sei es drum, sie waren hier nicht bei den Amite. Wenn er sie jedes Mal mit Samthandschuhen anfassen musste, weil sie sich vielleicht bedrängt fühlte, würde sie die Vergangenheit nie überwinden. Und vor allem war er kein Freund davon, Lexa anders zu behandeln als ihre Fraktionsmitglieder.
Aber warum machte er sich überhaupt Gedanken um ihr seelisches Wohlbefinden?
Schließlich stand für ihn momentan ihre körperliche Verfassung im Vordergrund und nicht, ob sie sich nachts in den Schlaf weinte.
Aus medizinischer Sicht war sie noch nicht wieder hergestellt. Sie humpelte weiterhin und ihre Brüche waren noch nicht vollständig verheilt.
In vier Tagen stand aber schon der nächste Kampf an. Gegen David würde sie so, nicht mal zehn Sekunden überstehen.
Aber jetzt konnte er keine Pairings mehr frisieren, ohne dass es auffiel. Eigentlich konnte ihr jetzt niemand mehr helfen.
Um ehrlich zu sein, war er sich sicher, dass dies ihr letzter Auftritt beim diesjährigen Tournament sein würde.
David ging nicht zimperlich mit seinen Gegnern um, egal wer sie waren.
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Ich wünsche euch allen einen schönen und ruhigen Feiertag.
Wenn euch gefällt, was ich da wieder einmal fabriziert habe, dann lasst gerne ein Sternchen da! Bis nächste Woche! LG Nic
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