~Oris Sicht~

Etwas sagte ihr, dass es morgen war.
Vielleicht ihr dröhnender Kopf?
Oder das nicht vorhandene Pulsieren ihrer Kette?
Ori schmatzte leise und setzte sich dann auf.
Sie bemerkte erst nach einigen Sekunden, dass Daelars Kopf irgendwie auf ihren Schoß gekommen war.
Vorsichtig rutschte sie vom Bett, während sein Kopf auf ihre Decke gebettet liegen blieb.
Dann begann sie, das Zimmer nach der Kette abzusuchen.
Sie konnte sie nirgends finden.
Nach einer Stunde erfolglosen Suchens ließ Ori sich wieder auf ihr Bett fallen, vergaß allerdings, dass dort noch jemand lag.
Diesem Jemand rammte sie gerade den Kopf in den Bauch.
Mit einem Schmerzenslaut fuhr Daelar hoch und im nächsten Moment flog die gesuchte Kette durch die Luft.
Ori sprang auf und fing die Kette gerade rechtzeitig ab, denn sonst wäre sie wohl an der Wand zersplittert.
"Fuh..." Ori setzte sich auf den Bettrand und drückte den kühlen Stein erleichtert gegen ihre warme Brust.
"Und? Geht es dir wieder gut?" Daelars Hände legten sich auf ihre Hüfte und zogen sie an seinen muskulösen Oberkörper.
"So gut, wie es mir gehen kann." Ori legte eine Wange an seine. "Wieso hattest du die Kette?"
"Haben? Ich? Alles, was ich habe, ist ein wilder Schlaf.", scherzte Daelar und sah über ihre Schulter in ihr Gesicht. "Legst du dich noch ein wenig neben mich oder war's das für heute?"
"Wenn du schon so fra-" Ori wurde von einem Horn unterbrochen.
Daelar stöhnte.
Warum jetzt, wo man mit ihr reden konnte?
"Heute Abend, versprochen." Ori sagte zweimal ein Wort und - schwupp - trugen sie ihre Lederrüstungen.
Auch dieses Mal lief Ori rot an.
"Steht dir.", schaffte sie, ihr Kompliment zu sagen.
"Hm." Daelar grinste sie an. "Mit Verlaub, meine Liebe, ich weiß, was dir besser stehen wird."
"Was?" Ori legte ihren Kopf schief.
"Ist dir diese Rüstung wichtig?"
"Nur eine von vielen, warum?"
Grinsend zückte Daelar einen seiner Dolche. "Mach die Augen zu."
Ori tat wie geheißen und Daelar umgriff den Kragen ihres ledernen Brustschutzes.
Mit seinem Dolch schnitt er dann einen V-Ausschnitt, der beinahe bis zum Bauchnabel reichte.
"Kannst wieder gucken.", flüsterte Daelar ihr zu und legte eine Hand auf einen Teil ihrer Haut, den er soeben sichtbar gemacht hatte.
Ori sah an sich herab und schien doch am meisten von seiner Hand irritiert zu sein.
Lachend zog Daelar sie zurück. "Und? Gefällt es dir so besser?"
"Wenn man die Ränder umnähen würde, warum nicht?" Ori grinste schief. "Es schützt halt nicht sonderlich."
"Aber für 'Zuhause' kannst du das doch sicher tragen.", meinte er und zog die verbliebenen Ärmel wieder auf ihre Schultern, als sie sich anschickten, hinunterzurutschen und Oris Oberkörper zu entblößen, auch wenn die Assassine selbstverständlich Unterwäsche trug.
"Ja, das schon." Ori wandte sich ab, um loszugehen. "Ich überlege es mir, in Ordnung?" Mit den Worten ersetzte sich der zerschnittene Brustschutz durch einen neuen.
"Du überlegst dir, ob du freizügiger herumlaufen willst?", hakte Daelar nach und setzte einen gespielt pädophilen Blick auf.
Ori nickte, dachte bei der Entscheidung allerdings auch an Senzajin.
Wenn er heute mittag nicht wiederkam, würden die anderen ihn suchen müssen...
Sie sah zu seinem Zimmer, welches sich direkt neben ihrem befand.
Normalerweise wäre sie dort hineingegangen, um seinen Duft einzuatmen, den er dort zu verbreiten pflegte, doch diesmal hatte sie erstaunlich wenig Lust dazu.
Vielmehr wollte sie bei Daelar bleiben.
"Er kommt schon noch." Daelar umarmte sie, jedoch lag eine verwirrende Ungeduld in seiner Geste der Zuneigung, deren Wahrhaftigkeit sich Ori mittlerweile nicht mehr sicher war. "Du wirst ihn noch oft genug sehen."
"Hm.", machte sie nur, löste sich aus seinen Armen und sprang wieder über die Brüstung.
Die Tür zum Saal stand noch offen, viele Assassinen strömten lautlos hinein, doch etwas war anders als sonst.
Sie ertappte sich dabei, wie sie beim Betreten des Saals ihren Blick über die Tische schweifen ließ, um Senzajin zu finden.
Doch der rotäugige Elf war nirgendwo zu finden.
"Beruhige dich bitte." Daelars Hand wuschelte durch ihre Haare und zersauste sie noch mehr als ohnehin schon. "Er kommt noch."
"Du wiederholst dich.", murmelte Ori und ging zu ihrem üblichen Platz, auf dem schon ein Tablett bereitlag.
"Ich habe es einfach mal mitgenommen, weil ihr nicht kamt.", erklärte Katlynn den überraschenden Umstand. "Aber jetzt seid ihr ja da."
"Ja, jetzt sind wir ja da.", murmelte Ori und setzte sich.
Sie saß eine Weile einfach nur da und starrte verträumt ins Nichts - welches recht ironisch schien, kletterte die Leere selbst an der Wand des Saals, auf die sie sah - und merkte so nicht, wie Daelar sich ebenfalls setzte und zu essen begann.
"Ist etwas passiert?" Thandurils Stimme drang plötzlich laut in ihr Bewusstsein.
"Huh?" Ori sah überrascht auf und zu dem Elf, der recht ungeduldig wirkte.
"Ich habe dich öfters gefragt, ob etwas passiert ist.", wiederholte Thanduril seine Worte.
"Ach nein..." Ori sah zu ihrem Essen und fing an, Interesse daran vorzutäuschen.
"Mehr oder weniger.", erwiderte Daelar hingegen und sah an Ori vorbei zu Thanduril. "Es ging wie gesagt nur um diese Kette. Sagen wir...wir haben uns ein wenig...verstritten."
"Wegen einer Kette?", fragte Luca ungläubig.
"Wegen einer Kette und ihrer Aura.", bestätigte Daelar ihm.
"Reden wir von etwas anderem." Ori verdrehte unauffällig die Augen. "Du bist also schon von deinem Trip zurück? Was habt ihr gefunden?"
"Leichen." Luca schauderte. "Meine kleine Schwester auch..."
Sakura legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte ihn mitleidig und gleichzeitig tröstend an.
Luca nickte ihr nur kurz zu.
Ori schwieg.
Sie wusste ja, wie das war, jemanden zu verlieren.
Allerdings hatte Luca wenigstens ihre Leiche gefunden.
Nicht so wie sie.
"Ich..." Beunruhigt von der Gegenwart irgendeiner dunklen Präsenz stand Ori auf. "Ich gehe mal...Gucken, was ich heute machen muss..." Sie wandte sich ab und wollte gehen, doch irgendwie stolperte sie, fiel und die Kette rutschte über ihren Kopf, als wären Oris mittlerweile hochgesteckten Haare und ihre langen Ohren kein Hindernis für sie.
Plötzlich überkam sie das Bedürfnis, Senzajin zu sehen wie eine Welle, die gegen eine Klippe schlug.
Für Daelar empfand sie keinen Funken Liebe mehr.
Verwirrt setzte sie sich auf und wollte nach ihr greifen, doch sie hielt wenige Millimeter vor der Kette inne.
Ihr Blick wurde von einem schaurigen Gefühl zu Daelar gelenkt.
Sein hasserfüllter Blick erinnerte sie an Senzajin.
Thanduril, Katlynn und die anderen starrten ihn ebenfalls irritiert an.
"Ich weiß Bescheid."
Drei einfache Worte, jedes einzelne ging Ori durch Mark und Bein.
Sie hatte einen katastrophalen Verräter in ihre Reihe aufgenommen.