Kapitel 19 | Ein Schatten der Leere
Nach mehr oder weniger als einer halben Stunde schlief Ori.
Im Schlaf war sie auf den Rücken gerollt und ihr Brustkorb bewegte sich langsam auf und ab.
Eine Hand war mittig auf dem breiten Bett gelandet, als sie sich gedreht hatte.
In dieser Hand befand sich die mysteriöse Kette.
Der Stein schimmerte stärker, glitzerte und der Glanz ihrer glatten Oberfläche verschwamm wie ein Bild des Mondes auf einem See, in den man einen Stein geworfen hatte.
Das runde Dunkel in der Mitte des leuchtenden Steins verursachte den schaurigen Eindruck, dass es wie ein...Auge war.
Daelar betrachtete die Kette gebannt, als sie von einer violetten Aura eingehüllt wurde.
Die Aura brachte die Kette vorsichtig zum Schweben.
Sie verließ Oris Hand und legte sich auf seine Handfläche.
Schaudernd stellte er fest, dass die Halterungsseite sanft gegen seine Handfläche pulsierte.
Plötzlich verstand er selbst nicht, was er tat.
Er setzte sich auf, unsagbar langsam, stand auf und zog sich eine schwarze Hose an.
Dann ging er wie in Trance zur Glastür, öffnete sie, trat in die kühle Luft, schloss die Tür hinter sich wieder und wandelte weiter, bis zur Brüstung.
Dort blieb er stehen, als würde er auf etwas warten.
Daelars Herz begann wild zu klopfen und erst dann wurde ihm bewusst, dass er endlich wieder Kontrolle über seinen eigenen Körper hatte.
Er fuhr herum.
Ein Wesen - Nein, eine Leerenelfe schwebte auf ihn zu.
Ihr Zehen berührten fast den Boden, doch das kümmerte die schwebende Elfe herzlich wenig.
Ihr eher merkwürdiges Gewand, das stilmäßig her an eine Banshee erinnerte, waberte in den Farben der Leere um sie herum. Die in Spitzen endenden Säume waren von Leerenenergie umgeben und hielten den Stoff so elegant über dem Boden, erinnerten jedoch entfernt an einen Oktopus.
Die blassschwarzen Haare der Elfe fielen in sanften Wellen über ihre linke Schulter und die blassblauen Augen musterten Daelar.
Ein sanftes Lächeln zierte die Lippen der schlanken, blassgrauhäutigen Gestalt.
Daelar staunte über die Schönheit dieser Elfe.
Dann ersetzte jedoch Überraschung sein Staunen.
In ihrem Gesicht waren dieselben Tätowierungen wie auf Oris Rücken, nur verliefen sie von ihren Schläfen bis mittig zu ihren Wangen.
Als die Elfe wenige Zentimeter vor ihm lautlos und sanft auf dem Boden aufkam, erwartete er etwas wie "Gib mir die Kette oder ich zwinge dich dazu", aber sie schien voller Überraschungen zu sein, denn ihre erste Frage war "Naaa?".
Daelar sah verwirrt zu ihr hinab. "Kennen wir uns?"
"Schon lange.", flüsterte die Elfe und lehnte sich vor, um mit einem Finger über seine nackte Brust zu streichen.
Erst nach wenigen Nanosekunden bemerkte er, dass sie etwas schrieb.
D.
H.
A.
N.
I.
A.
"D-Dhania?!" Er konnte es nicht glauben.
Das war also der Grund, dass Ori nichts gesagt hatte!
Sie wollte nicht, dass er Dhania traf.
Sie musste diese Schönheit kennen und geahnt haben, dass er sich in sie verlieben würde.
Na ja, das glaubte er zumindest.
"Die einzig wahre.", nickte sie grinsend.
"D-Diese Kette gehört dann wohl dir..." Noch ein wenig perplex hielt er ihr die Kette entgegen. "Verzeih mir, mein Gedächtnis ist-"
"Ich weiß, ich weiß." Ihre Stimme war fast wie ein wispernder Wind. "Es ist meine Schuld. Aber das wird nicht wieder vorkommen. Ich kann die Leere jetzt kontrollieren."
"Also habe ich deine Leere berührt?", fragte Daelar und legte den Kopf schief, als sie die Kette nicht nahm.
"Ja, so kann man das sagen." Dhania schüttelte den Kopf. "Gib die Kette Ori zurück, sie gehört ihr."
"Aber dein Na-" Er unterbrach sich selbst, als Dhania eine Kette umdrehte, die der in seiner Hand glich, aber ihre Kette hatte die Form eines Naaru.
Auf der Halterungsseite ihrer Kette stand "Ori".
"Was für eine Beziehung habt ihr beide?", fragte Daelar neugierig. "Ihr scheint euch sehr gut zu kennen, wenn ihr Ketten von dem jeweils anderen tragt."
"Ori..." Dhania lächelte ihn glücklich an. "...ist meine wunderbare kleine Schwester."
"Sehr emotionale, meinst du wohl.", grinste Daelar.
"Sie hat jedes Recht dazu."
"Natürlich hat sie das, aber..." Er lehnte sich so zurück, dass seine Ellenbogen auf der Brüstung lagen. Dhania rückte ein wenig näher, vorsichtig, dass sie nicht in die Nähe der Kette kam. "Ich frage mich, was ich jetzt machen soll. Ori liebt Senzajin und er liebt sie und ich-"
"Ich liebe dich.", unterbrach und beendete Dhania seinen Satz gleichzeitig.
"Was?" Daelar wandte sich ihr zu und sah nur noch, wie ihr Kopf näher kam, dann lagen ihre Lippen schon auf seinen.
Es verging eine Ewigkeit, bis Daelar den Kuss kurz erwiderte, dann aber unterbrach, um Dhania verwirrt anzusehen. "Ich verstehe nicht ganz..."
"Wieso du Ori geliebt hast?", schlug Dhania schmunzelnd vor, als der ehemalige Waldläufer verstummte.
Er nickte.
"Das ist einfach." Dhania kicherte. "Das l-"
"Daelar?"
Der Angesprochene zuckte zusammen.
Zu seiner Erleichterung war es nicht Ori.
Langsam drehte sich Daelar um, darauf bedacht, Dhania zu verstecken.
Es war Sakura.
"Ah, Sakura Blütentänzer." Er sah sie überrascht und ruhig an, doch sein Herz hämmerte wie wild geworden gegen seinen Brustkorb. "Das war dein Name, wenn ich mich nicht irre, nicht wahr?"
Dhania stieß Luft aus und murmelte etwas.
"Dlep", hatte sie gesagt, Thalassisch für "In Ordnung".
Daelar musste sich Mühe geben, nicht in Gelächter auszubrechen.
"Genau." Das Fuchsmädchen lächelte. "Zu solch später Stunde bist du also noch draußen? Und lässt Ori allein im Bett?" Sakura grinste. "Um dann auf dem Balkon Selbstgespräche zu führen?"
"Du hast zugehört?" Daelar lief rot an.
"Eine Weile, ja." Sakura kam näher und machte ihn noch nervöser. "Dieser Senzajin liebt Ori und sie ihn und so." Sie sah zu ihm auf. "Warst du deswegen so eingeschnappt?"
"Ich mag es einfach nicht, wenn mir nicht geantwortet wird.", gab Daelar ehrlich zu. "Und du hast sie ja gesehen. Sie hat sich nicht mal bewegt."
"Na ja, gezittert hat sie schon.", erwiderte Sakura und hob einen Finger. "Und um genau zu sein, bist du ihren Fragen ausgewichen. Du hast ihr mehrmals in die Augen geguckt und dich ziemlich merkwürdig benommen."
"Ich lese Gefühle in den Augen anderer." Daelar sah seufzend in Sakuras Augen. "Du hast eben geweint. Außerdem bist du nicht nur verzweifelt, sondern auch hoffnungslos. Ich weiß, Nyanien sieht aus, als könnte man nichts retten, aber wir haben mächtige Leerenelfen wie Thanduril unter uns. Wenn er schon euch wiederbeleben konnte, warum nicht auch die Welt?"
"Guter Einwand." Sakuras Blick schweifte nach Norden, dorthin, wohin der Balkon ausgerichtet war. "Ich hoffe nur, dass Eulania nicht in eine Falle tappt."
Daelar nickte langsam.
"Ach ja, bevor ich es vergesse..." Sakura sah wieder zu ihm. "Diese starke Energie von diesem Nichts...kommt die von der Kette da?" Sie zeigte auf Oris Kette.
"Vielleicht. Ich habe keine Tastsinne für Leerenenergie." Daelar zuckte mit den Schultern. "Aber es kann ja sein, dass die Umgebung auf dich reagiert."
"Echt?" Sakuras Augen wurden überraschend groß, dann wurde sie blass. "Ich geh dann am besten zurück zu den anderen..."
Daelar nickte wieder und die Nyanierin eilte davon.
"Hast du gut eingefädelt, mein Lieber." Dhanias Arme schlangen sich um seine Brust und drückten ihn kurz an sie. "Aber du bist müde. Ich komme die Tage nochmal vorbei." Sie drehte Daelar zu sich um und küsste ihn erneut. "Vergiss nicht, Ori zu lieben."
"Das könnte schwer werden." Die beiden grinsten.
"Nicht mit der Kette." Dhania berührte nur sein Handgelenk, in dessen Hand sich das Schmuckstück befand. "Gib sie Ori. In dem Stein ist ein Teil meiner Seele. Als mein Seelenverwandter dürfte es kein Problem sein, dass du dich in den winzigen Teil von mir verliebst."
"Ich hoffe es." Daelar hob eine Hand und spielte mit Dhanias langen schwarzen Haaren. "Wie lange muss ich so tun?"
"Bis Ori vor unseren Eltern steht." Dhania zog ihre Augenbrauen zusammen. "Was sie getan haben, werde ich ihnen nie verzeihen." Sie sah zu Daelar hoch. "Das erzähle ich dir demnächst. Schlaf gut, Daelar."
Noch ein Kuss, dann begann Dhania wieder zu schweben, doch diesmal schwebte sie davon.
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