Als Ori mit ein wenig Essen und Trinken in ihr Zimmer trat, lag Daelar bereits bewusstlos auf ihrem Bett.
Überrascht, dass die Späher schneller als sie gewesen waren, stellte sie das Tablett ab und schloss die Tür, bevor sie sich auf den Bettrand setzte und sein schlafendes Ich betrachtete.
Sein Gesicht hatte einen friedlichen Ausdruck, doch die Anspannung von den Schmerzen der Folter war deutlich zu sehen.
Ori beugte sich vor und küsste ihn kurz, dann winkelte sie seine Beine an, legte einen Arm in die Kniehöhlen und hob seine Füße mit der anderen Hand an.
Nach einer Weile wollte sie schon aufgeben, doch dann entspannte sich Daelars Körper und seine Augen öffneten sich.
Erst sahen sie verwirrt hin und her, dann richteten sie sich auf Ori, die seine Beine vorsichtig sinken ließ.
Er war wach, ab jetzt musste sie nur noch gut Theater spielen...

~Daelars Sicht~

Einfach weg.
Kaum aufgewacht war die Erinnerung an alles, was vor seinem Erwachen geschehen war, schlicht und ergreifend weg.
Er spürte etwas an seinen Beinen und sah dorthin.
Eine junge Blutelfe saß dort und hatte offenbar seine Bewusstlosigkeit beendet, denn sie legte seine Beine wieder zurück auf die weiche Decke und sah ihm prüfend ins Gesicht.
Nichts.
Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er sie kannte oder ähnliches...
Alles, was er sah, war eine ihm unbekannte Elfe - ganz klar im ausgewachsenen Alter - mit rückenlangen blonden Haaren und felgrünen Augen, an deren Rändern eine hauchdünne violette Linie war. Ihre schlanke Gestalt wurde hauptsächlich von schwarzem Leder bedeckt und ihre Dolche hatten die gleiche leuchtende Farbe wie ihre Augen.
Ein Lächeln schlich in ihr schmales Gesicht. "Endlich bist du wach..."
Sogar ihre Stimme strahlte Sanftheit aus.
So sehr, dass es schon einschläfernd wirkte.
"Was ist passiert?" Er setzte sich auf und rieb sich seine Schläfen. "Ich weiß nichts mehr...Kann mich nicht erinnern...Nicht mal..." Er wagte einen zögerlichen Blick in ihr lächelndes Gesicht. "...an dich..."
"Nach dem Unfall habe ich nichts anderes erwartet." Sie stand auf und brachte ein Tablett zu ihm. Ein Glas Wasser wartete förmlich darauf, von ihm ausgetrunken zu werden. "Du bist mit ein wenig Leerenenergie in Kontakt geraten und sie hat deine Erinnerungen aufgesogen, wie es scheint. Ähnliches habe ich oft erlebt."
"So ist das..." Das erklärte natürlich einiges. Er nahm das einladende Glas Wasser und stürzte es herunter. "Ich schätze, dann musst du wohl uns beide vorstellen."
Die Elfe lachte leise und schob das Tablett näher zu ihm. "Ich fange einfach mit mir an. Ich bin Ori Leerenlicht und zwanzig Jahre alt. Ich bin Anführerin des Ordens 'Leerentod' - welcher nebenbei auf dem Tod meiner Schwester basiert - aber dieser ist streng geheim. Alles andere wirst du die Tage über mich herausfinden."
Er nickte und merkte sich ihren Namen.
Ori.
Irgendwie niedlich...
"Und ich?", fragte er weiter.
"Du bist Daelar Sonnenläufer, einundzwanzig Jahre alt und mein Freund." Sie lächelte ihn schief an. "Du bist ziemlich verschlossen, deswegen kann ich nicht mehr über dich erzählen, aber auch das kannst du für dich selbst herausfinden."
"Daelar Sonnenläufer...", murmelte er leise und fragte dann lauter: "Wieso heißt du denn Leerenlicht und nicht genau wie ich Sonnenläufer?"
"Noch sind wir nicht verheiratet." Ihr leises Lachen zerstörte den einschläfernden Effekt ihrer Stimme.
"Dann sollte man das bald mal nachholen.", grummelte er leise und umarmte sie.
Für einen Moment erstarrte sie, dann legte sie ihre Arme um ihn.
Ori.
Das war also der Name seiner Liebe?
Sein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig, als er versuchte, sich an seine Beziehung mit ihr vor seinem Unfall zu erinnern.
Ob sie eine gute Beziehung hatten, wie sehr sie zueinander standen...
Erfolglos.
Eine warme Hand auf seiner Brust ließ ihn nach unten sehen.
Ori lächelte ihn wissend an.
Er öffnete gerade den Mund, um sie zu fragen, was er sich fragte, doch sie kam ihm zuvor.
"Ich weiß, was du denkst, Daelar, und glaub mir, mach dir keinen Kopf." Ihr Lächeln wurde zu einem schiefen Grinsen. "Jeder Neuanfang ist wunderbar, nicht?"
"Wie du meinst..." Er grinste sie an. "Ich bin nur gerade noch ein wenig verwirrt..."
"Oh, das darfst du gern." Sie löste sich von ihm, als ein Horn ertönte. "Abendessen...willst du mit oder lieber erstmal oben bleiben?"
"Ich hätte nichts dagegen, zu gucken, ob ich noch Freunde hier habe." Grinsend stand er auf und sah sich um. "Ähm...muss ich so nach unten, oder habe ich hier irgendwo Kleidung...?"
"Oh, kleinen Moment..." Er beobachtete, wie Ori zu einer Kommode wuselte und nach ein paar Sekunden ein Kleiderbündel zu ihm warf. "Da. Ich hoffe, das passt dir noch..."
Daelar lachte und zog sich die neuen Sachen über.
Es war zwar alles eng anliegend, passte allerdings perfekt und schon fast zufrieden sah er, wie Ori rot anlief.
Offenbar sah er nicht wie die letzte Schlabberbacke aus in diesen Sachen.
"Du voran." Er grinste seine Freundin an und machte eine Geste Richtung Tür.
Ori nickte nur und trat hinter der Tür auf eine Art Balkon, allerdings war dieser Balkon offenbar Teil des inneren Hauses und nicht des äußeren.
Mehr erschrocken als neugierig sah Daelar, wie Ori auf die Brüstung kletterte anstatt zu der Treppe zu gehen.
Sie lehnte sich gerade nach vorn, als er endlich reagierte.
Daelar stürzte nach vorn und bekam gerade noch ihre Schultern zu fassen, bevor sie nach unten stürzte.
"Du solltest vorsichtig sein, Ori." Er drückte sie an sich und spähte nach unten. Es war nicht wirklich hoch, aber trotzdem. "Du könntest dich verletzen."
"Glaub mir, ich weiß, was ich tue." Ori drückte ihm lächelnd einen Kuss auf die Wange und nutzte seine Überraschung, um sich aus seinem Griff zu befreien und zu springen.
Für einen Moment verfluchte Daelar seine Überraschung, dann schwang er sich ebenfalls über die Brüstung und landete erstaunlich sanft neben Ori.
Sie lächelte ihn erfreut an. "Siehst du? Gar kein Problem mit dieser Brüstung."
"Merk ich mir.", meinte er und ohrfeigte sich gedanklich selbst.
Wieso überraschte ihn ein Kuss seiner Freundin?
Das war doch normal.
"Ah-ah." Oris Stimme riss ihn wieder zurück zu ihr. "Nicht in Gedanken versinken, mein lieber Freund, das Essen wartet schon auf dich."
"Auf uns, meinst du wohl." Er nahm ihre Hand und drückte sie kurz, während er lächelnd in ihre hellen Augen sah.
"Dann auf uns." Sie lächelte zurück und zeigte dann mit dem Kopf auf eine große Tür, hinter der sich offenbar der Essenssaal befand.