24. Kapitel - Evangeline
Am Tag vor Sirius Geburtstag, während Sirius sich mit James traf, um an einer Karte des kleinen Örtchens Magacapeton nordöstlich von Oxford zu arbeiten, in dessen Nähe der Orden des Phönix einen Unterschlupf der Todesser vermutete, reiste Anne nach Maple Court, um sich dort in Ruhe ihrer Arbeit am Klavier zu widmen. Zuvor machte sie einen Abstecher nach Bakewell, um ein Geschenk für Sirius zu besorgen, ihren Verlobten.
Sein neuerlicher Heiratsantrag klang ihr noch in den Ohren. Was sollte sie nur machen? Sie hatte ihm versprochen ihn zu heiraten. Aber da war sie davon ausgegangen, dass sie nur noch ein paar Monate zu leben hatte. Dass ihre Ehe nur von kurzer Dauer sein würde, allein dazu gut, Sirius nach ihrem Tod eine Grafschaft zu hinterlassen. Ihn gut versorgt zu wissen. Den Mann, den sie liebte. War das Grund genug, jetzt von ihrem Versprechen zurückzutreten?
Nein.
Aber sie fürchtete sich vor der Ehe. Wenn sie daran dachte, traten ihr die hasserfüllten Blicke vor Augen, die ihre Eltern sich am Ende ihrer Zeit nur noch zugeworfen hatten. Die Streitereien im Salon, wenn sie dachten, sie könnte sie nicht hören, weil man sie auf ihr Zimmer geschickt hatte. Die abgrundtiefe Verachtung, die der Graf in den letzten Jahren seiner Frau entgegengebracht hatte. Dabei hatten auch sie einmal aus Liebe geheiratet und ein Kind bekommen.
Was wohl aus dem Kind der Eastwoods geworden war? Wie war sie bei dem Grafenpaar in der Muggelwelt gelandet? Hatte ihre Mutter sie gegen deren Kind ausgetauscht?
So viele Fragen gingen ihr durch den Kopf, dass sie sich nicht aufs Klavierspiel konzentrieren konnte. Normalerweise lenkte sie das ab, half ihr den Kopf frei zu kriegen und die Welt zu vergessen. Aber heute nicht. Heute wanderten ihre Gedanken wild umher und landeten am Ende immer wieder bei ihrer Mutter.
Sie hatte auch heiraten wollen. Sie hatte einfach nur glücklich sein wollen, sie hätte sogar ihre beste Freundin dafür geopfert.
Um dann stattdessen an einen Mann gebunden zu werden, der ... der was? Hatte ihr Vater die junge Frau geliebt? Hatte er sie überhaupt gemocht? Oder hatte er sie verabscheut, gehasst, missachtet? Hatte er sie überhaupt gesehen? Oder war es ihm völlig egal, Hauptsache eine Frau, die ihm Kinder – treue Anhänger – schenken konnte?
Seufzend schloss sie den Deckel ihres glänzenden Flügels und ging zur Vitrine, um eine verbeulte Keksdose herauszuholen, in der sie ihre Erinnerungsstücke aufbewahrte. Sie kramte so lange darin, bis sie das Foto fand, das sie von Annabel bekommen hatte, an jenem kalten, grauen Abend im Spätwinter, als sie von einem neuerlichen Alptraum gepeinigt bei ihr Unterschlupf gesucht hatte.
Anne fuhr schweißgebadet und schwer atmend in die Höhe. Es dauerte einen Moment, bis sie sich versichert hatte, dass sie in ihrem Himmelbett lag. In ihrem Zimmer unter dem Krankenflügel in Hogwarts. In Sicherheit.
Sie nahm ein Wasserglas vom Nachttisch und tat einen tiefen Zug. Langsam beruhigte sich ihre panische Atmung und der schwere Druck auf ihrer Brust entschwand.
Sie hatte geträumt. Wieder einmal. Seit Dumbledore sie im Herbst auf ihre verzwickte Situation aufmerksam gemacht hatte, hatten ihre Alpträume sich verändert. Nun träumte sie immer wieder davon, wie ihr Vater sie in Besitz zu nehmen versuchte. Mit Haut und Haar. Sie schauderte, als sie an den heutigen Traum dachte.
Die Todesser hatten sie erwischt. Sie hatten sie zu einem alten, gepflegten Anwesen gebracht, das sie nicht kannte. Dort hatte man sie in den Keller gezerrt, in einen Raum mit vergitterten Fenstern, und dort an zwei eisernen Ringen festgekettet, so dass sie – nur mühsam auf Zehenspitzen stehend – von der niedrigen Gewölbedecke baumelte. Sie hatten ihr einen Knebel in den Mund gelegt, der ihren Kiefer blockierte und zwischen Gaumen und Zunge festklebte, so dass sie ihn nicht einfach hinausschieben konnte und kein Wort mehr herausbrachte. Dann hatte man sie sich selbst überlassen.
Ihre Arme waren nach einer Weile taub geworden und sie atmete schwer, weil der Knebel auf ihre Kehle drückte und ihr ganzer Körper sich langsam schmerzhaft verspannte, während sie verzweifelt versuchte, auf den Zehenspitzen zu stehen und die Last von ihren Armen zu nehmen, immer in der Angst, die linke Schulter könnte wieder aus dem Gelenk springen, wie damals im Hospital. Diesen Schmerz wollte sie nicht wieder ertragen müssen.
Langsam wurde es heller im Raum. Draußen schien die Sonne aufzugehen und ein paar fahle Strahlen erreichten durch die vergitterten Fenster den Boden. Immerhin war der Raum nicht so klein, dass er ihre Platzangst auslöste und es war nicht stockfinster. Besser machte der Anblick der rohen Steinwände die Sache aber auch nicht. Sie waren an manchen Stellen feucht und Schimmel kroch über die Steine, wie haariger Pelz.
Sie fragte sich schaudernd, wie lange man sie hier auf diese Weise weichkochen wollte und wie lange sie die Tortur wohl durchhalten würde.
Und dann kam er. Allein.
Er trug einen langen dunkelgrünen Umhang, der hinter ihm über den Boden schleifte und im Licht schimmerte. Sein Gesicht war ebenso blass, wie auf dem Ball. Das dunkle Haar war bei näherer Betrachtung nur noch spärlich und ließ die weiße Haut auf seinem Kopf durchschimmern. Gefährlich funkelten seine unheimlichen Augen sie an wie glühende Kohlen. Als er ihre Pein bemerkte, fuhr er einmal mit dem Zauberstab durch die Luft und der Boden unter ihren Füßen hob sich ein Stück an, so dass sie endlich darauf stehen konnte und ihre Arme nicht mehr ihr ganzes Gewicht tragen mussten.
Sie atmete auf.
Er war groß. Seine Hand fasste an ihr Kinn und schob es ein Stück nach oben, so dass er ihr in die Augen sehen konnte.
„So ist es besser, nicht?", fragte er sanft.
Sie konnte nicht antworten. Sie konzentrierte sich darauf zu atmen.
Dann ließ er sie wieder los und begann sie zu umkreisen.
„Ich kann dir auch den Rest deiner Qualen nehmen", bot er nach einer Weile an.
Sie versuchte zu schlucken, aber es war nichts da, was ihre Kehle hätte befeuchten können.
„Ein Wort von dir genügt."
Sie begann bitter und röchelnd zu lachen. Ein Wort. Sie konnte kein Wort sprechen, selbst wenn sie gewollt hätte. Aber sie wollte nicht. Lieber wollte sie sterben. Vermutlich würde er ihr das jedoch nicht erlauben.
„Findest du das lustig?", empörte er sich und blieb erneut vor ihr stehen. Ganz nah kam sein Gesicht an ihres heran. „Du wirst mir gehören, so oder so", verkündete er.
Zappelnd zerrte sie an den Ketten, die sie an der Decke festhielten.
Er ging um sie herum und sie spürte, wie er behutsam ihr langes Haar über ihre Schulter nach vorne legte und dann ihre Bluse mit einem Ruck am Rücken entzwei riss. Sie zuckte zusammen, als er dasselbe mit ihrer Unterwäsche wiederholte und ihren bloßen Rücken freilegte.
„Schreiben wir es dir auf die Haut, damit du es niemals vergisst", zischte er und begann mit dem Zauberstab das Dunkle Mal auf ihren Rücken zu zeichnen.
Der Schmerz durchfuhr sie mit solcher Wucht, dass sie laut aufjaulte. Jeder Strich bohrte sich in ihre Haut, als würde sie ausgepeitscht. Als würde ein glühendes Messer sie aufschlitzen.
Sie begann zu würgen und verzweifelt nach Luft zu schnappen, als er unerbittlich mit seiner Folter fortfuhr und sie sich dabei die Seele aus dem Leib schrie.
Als er nach quälend langen Minuten fertig war und ihr in das schweißüberströmte Gesicht und ihre tränenverhangenen Augen glotzte, war ein zufriedener Ausdruck in seine Augen getreten. Siegesgewiss lächelte er sie an.
„Siehst du, diese Prozedur hättest du so leicht abkürzen können."
Behutsam wischte er ihr die Tränen aus dem Gesicht. Sie versuchte verzweifelt, es von ihm wegzudrehen. Da packte er sie grob an den Haaren und drehte es wieder zu sich. Sie schlug die Augen nieder und weigerte sich, ihn anzusehen.
„Jetzt wirst du mir doch gehorchen, nicht?", flüsterte er ihr zu und sie sah ihn an.
Mit allem Hass und Abscheu, den sie aufbringen konnte, starrte sie ihm ins Gesicht. „Niemals!", schoss es durch ihren Kopf und auch wenn sie das kleine Wörtchen nicht aussprechen konnte, hatte er es in ihren Gedanken sofort gelesen.
Unbändige Wut erfasste ihn, als er erkannte, dass er sie nicht so leicht brechen konnte. Sein Zauberstab sauste durch die Luft und der Boden unter ihren Füßen verschwand. Sie fiel in ein Loch und wurde gebremst von den Ketten, mit denen sie an die Decke geheftet war. Die linke Schulter knackte und der explodierende Schmerz, der durch ihren Körper schoss, verdrängte die Pein, die ihr misshandelter Rücken ihr bereitet hatte.
Benommen und zitternd saß sie mit angezogenen Knien zwischen ihren Kissen und wünschte sich, vergessen zu können, was sie gerade gesehen hatte.
Vergessen, was sie draußen erwartete. Vergessen, wer sie war und was sie bedrohte.
An Schlaf war diese Nacht nicht mehr zu denken und so beschloss sie, sich hinauszuschleichen und frische Luft zu schnappen. Unterwegs kam sie am Zimmer von Annabel vorbei und sah Lichtschein unter der Tür. Sie war um drei Uhr früh noch wach?
Vorschichtig tapste sie zur Tür und lauschte. Leise Musik war von drinnen zu hören. Also drückte sie behutsam die Klinke herunter und öffnete leise die Tür, um hinein zu huschen. Sofort spürte sie eine Zauberstabspitze am Hals und hob abwehrend die Hände.
„Anne! Hast du mich erschreckt!", fuhr Annabel sie an und ließ den Zauberstab sinken. „Kannst du nicht schlafen?"
„Ich habe schlecht geträumt", berichtete Anne kopfschüttelnd und immer noch zitternd. „Und du?" Sie lauschte und entspannte sich ein wenig. „Du hörst Musik?" Dann fiel ihr auf, welches Stück der Plattenspieler da von sich gab. „Meine Musik?"
Annabel seufzte und ging zurück zu ihrem Schreibtisch an dem sie zuvor scheinbar gesessen hatte, wie eine Kerze und ein halb ausgetrunkenes Weinglas verrieten. Eine Schachtel mit Fotos stand daneben und sie griff nach einem der davorliegenden Bilder.
„Heute wäre mein Hochzeitstag", sagte sie nur und Anne konnte sich denken, warum sie nicht schlief.
Sie zog sich einen Sessel herbei, um sich zu ihr zu setzen. Dann warf sie einen Blick auf das Foto. Es war Annabels Hochzeitsbild.
„Wie war er?", fragte Anne leise.
„Er war ... perfekt", hauchte Annabel nur und zog weitere Fotos aus der Schachtel.
„Er war mit seinen Eltern aus Australien eingewandert. Wir hätten nicht weiter von zu Hause fortgehen können, sagte er immer wenn man ihn nach seiner Heimat fragte. Er war so glücklich, als wir nach dem Schulabschluss für ein halbes Jahr dorthin reisten."
Sie blätterten die Fotos durch, die ihre strahlenden Gesichter dieser Zeit zeigten.
Im nächsten Stapel steckten ältere Bilder und Anne erkannte, dass sie in Hogwarts aufgenommen worden waren. Schließlich stoppte Annabel bei einem Gruppenfoto.
Es zeigte eine Handvoll Jugendlicher, darunter Annabel, Eduard und ...
„Das ist ja meine Mutter", rief Anne erstaunt aus und nahm der Freundin das Bild aus der Hand. Da stand sie, direkt neben Annabels zukünftigem Mann, zwischen einigen anderen, die Anne nicht kannte.
Kribbelnde Aufregung ergriff sie und verdrängte die schlechten Gedanken der Nacht. „Hast du noch mehr?", hauchte sie und Annabel lächelte traurig. Sie schob ihr die Schachtel hin und Anne begann Foto um Foto herauszuziehen. Es schien, dass die beiden Mädchen in ihrer Jugend unzertrennlich gewesen waren, so oft waren sie gemeinsam auf den Bildern. Schließlich fand sie auch eines, auf dem ihre Mutter alleine war.
„Annabel", flüsterte sie ergriffen und streichelte das schwarz-weiße Foto, von dem ihre junge Mutter ihr freudestrahlend entgegenwinkte, wie einen Schatz. „Bitte, darf ich das behalten?"
Tränen glitzerten auf dem Gesicht der Lehrerin, als sie antwortete: „Natürlich."
Annes Augen glänzten. Sie wollte gern mehr von ihrer Mutter hören, das war ihr ganz deutlich anzusehen. „Danke! Wer hat die gemacht?", fragte sie, als sie weitere Bilder aus der Schachtel nahm.
„Eduard hatte eine Kamera. Er war ein begeisterter Fotograf."
Das nächste Foto, das sie aus der Schachtel zog, zeigte den attraktiven jungen Slytherin. Hand in Hand mit ... Evangeline Fawley.
„Was ...?" Fragend sah sie in Annabels beschämtes Gesicht.
Die räusperte sich und begann mit belegter Stimme zu erzählen.
„Deine Mutter war meine Freundin, Anne. Wir haben oft gemeinsam in der Bibliothek gesessen. Wir sind gemeinsam zu den Quidditch-Spielen gegangen, wir haben zusammen Hogsmeade besucht und wir haben uns gern über die weniger klugen Mitschüler lustig gemacht. Wir waren unzertrennlich, obwohl wir nicht demselben Haus angehört haben. Wir waren ein bisschen wie Lily Evans und du." Sie hielt einen Moment inne und atmete tief durch.
„Aber eines Tages hat Eve mir erzählt, dass sie von einem Jungen zum Teetrinken eingeladen wurde."
„Eve?", brach es aus Anne heraus. „War das ihr Spitzname?"
„Was?" Annabel wurde aus dem Konzept gebracht.
„Nicht so wichtig, erzähl weiter."
Die blonde Hexe biss sich auf die Lippen.
„Es war ein Schock, als ich erfuhr, dass Eduard Hawthorpe sie gefragt hatte. Ich war schon hoffnungslos in ihn verliebt, seit er in der vierten Klasse zu uns gekommen war. Ich konnte nicht fassen, dass sie sich mit ihm auf ein Date treffen wollte, wo sie doch wusste ..."
Anne machte große Augen. Sie rief sich vor Augen, wie es wäre, wenn Lily ihr Sirius ausspannen würde und konnte es sich einfach nicht vorstellen.
„Aber sie war meine beste Freundin, also hab ich meine Gefühle hinuntergeschluckt. Auch als sie schließlich in der siebten Klasse ein Paar wurden." Annabels Stimme zitterte und Anne konnte nicht fassen, dass ihre Mutter ihrer besten Freundin das angetan hatte.
„Die beiden wollten sogar heiraten, wenn da nicht Eves Eltern gewesen wären. Eduard war ein Halbblut. Sie akzeptierten ihn nicht. Für sie kam nur eine reinblütige Ehe für die einzige Tochter in Frage. Eve war am Boden zerstört."
Anne schwirrte der Kopf.
„Eduard schlug ihr vor, nach der Schule ihre Familie zu verlassen und mit ihm nach Australien zu gehen. Aber sie wollte nicht. Deshalb hat er sie am Ende schweren Herzens gehen lassen."
Annabel seufzte schwer. „Und dann habe ich etwas getan, auf das ich nicht sehr stolz bin."
Fragend sah Anne sie an, aber Annabel hatte die Augen gesenkt und schien tief in Gedanken versunken.
„Ich habe seine Trauer ausgenutzt", gestand sie. „Eve hat kein Wort mehr mit mir gesprochen und ich habe sie nie wiedergesehen."
Anne starrte lange auf das Bild ihrer hübschen sechzehnjährigen Mutter. Was wohl passiert wäre, wenn sie den jungen Hawthorpe hätte heiraten dürfen? Oder wenn sie Voldemort geheiratet und noch mehr Kinder bekommen hätte?
Wäre Evangeline irgendwann so böse geworden, wie er?
Und sie selbst?
Wäre sie geworden wie viele der anderen Slytherins?
Reinblütig, fanatisch, aggressiv, verblendet?
Und warum hatten Evangelines Eltern einer Ehe mit dem Halbblut Tom Riddle zugestimmt, wenn sie die mit Eduard Hawthorpe abgelehnt hatten?
Annabel hört Le Onde von Ludovico Einaudi.
https://youtu.be/18o1806rUsE
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