66. Kapitel - Farbfacetten
„Ich hasse dich bis in alle Ewigkeit", zischte sie wutentbrannt, als sie sich unter den ungläubigen Blicken der zum Glück nicht allzu zahlreichen Anwesenden in der großen Halle an den Frühstückstisch setzte.
Von James war ein mühsam unterdrücktes Grunzen zu hören, während Sirius ein unglaublich schadenfrohes Grinsen vom einen bis zum anderen Ohr aufsetzte und Lily sie mit offenem Mund anstarrte.
„Mach den Mund zu, sonst klaut dir der Ghul, den ich gleich auf Sirius loslasse, noch alle Zähne", keifte Anne ihre Freundin an, die daraufhin zusammenzuckte und einen hilflosen Blick zu ihrem Mann warf, dem bereits die Lachtränen übers verzerrte Gesicht liefen, das von heftigen Bauchschmerzen durch nicht länger zu unterdrückendes Lachen herrührte.
Lily konnte nicht anders, sie musste miteinstimmen und sich vom Kichern schütteln lassen, wenngleich nicht so schamlos und schallend, wie Sirius und James.
Die wenigen Hogwartsangehörigen, die am Frühstückstisch erschienen waren - nur Madam Pomfrey, Madam Pince, die Bibliothekarin und Professor Vektor, die das Arithmantiklehramt nach Annabel Hawthorpe übernommen hatte, waren im Moment anwesend - sahen sie recht ratlos und verwundert an, der ein oder andere Mundwinkel schnellte verstohlen nach oben, doch getrauten sie sich beim Anblick von Annes rot angelaufenem, zornigem Gesicht nicht wirklich in das Gelächter mit einzustimmen.
Wutschnaubend verschränkte Anne die Arme vor der Brust und wartete, dass die anderen sie fertig ausgelacht hatten.
Alle ihre Kleider hatte sie in selber Weise gemustert vorgefunden: giftgrün kariert, mit orange-weißen Blumen und roten Punkten darauf. Sie sah lächerlich aus. Nicht einmal ein überzeugter Hippie des vergangenen Jahrzehnts wäre so unter die Leute gegangen!
Lily hatte sich inzwischen die Hand vor den Mund geschlagen, aber auch das half nicht, das Lachen abzuschütteln und ihre angestrengte Gesichtsfarbe konkurrierte mit der ihres Haares. James rang mittlerweile bedenklich nach Luft und schnappte sich ein Glas Kürbissaft, um sich abzukühlen.
Sirius legte schließlich versöhnlich den Arm um ihre Schultern und schob die Kaffeekanne zu ihr hin, die er extra für sie bei den Hauselfen geordert hatte.
„Diese Versöhnungsnummer zieht nicht bei mir", maulte sie und versuchte seinen Arm abzuschütteln.
„Komm schon, du hast eine Wette verloren, nicht den Weltuntergang verursacht", scherzte er.
Als er jedoch den Anflug einer Träne in ihrem Augenwinkel erkannte, während sie bemüht geradeaus starrte, um ihre überbordenden Gefühle zu unterdrücken und zugleich verkrampft mit den Fingern an der Tischdecke herumzupfte, hatte er Bedenken, vielleicht zu weit gegangen zu sein.
Murdoch hatte ihn gestern ermahnt, jede Farbe sei in Ordnung, außer dunkelgrün, so weit wäre sie noch nicht. Aber ihre heftige Reaktion ließ ihn zweifeln, ob er nicht lieber mit Einfacherem hätte anfangen sollen, als diesem wilden Muster. Nun hatte er ein schlechtes Gewissen ihr gegenüber, wie sie da in mühsamer Beherrschung am Tisch saß, den Kopf zwischen die Schultern gezogen und den Tränen nahe.
Er tat sich schwer damit, ihren Gemütszustand einzuschätzen. Die körperlichen Verletzungen waren, abgesehen von den verbliebenen Narben, alle verheilt. Aber er wusste bis heute nicht, was in ihr alles zerbrochen war. Sie sprach nicht darüber, das hatte sie noch nie getan, jedenfalls nicht mit ihm. Er konnte deshalb nicht mehr tun, als Murdochs Urteil zu vertrauen. Nun gab er James einen mahnenden Stoß mit dem Ellbogen und sie brachten das Frühstück ohne weitere Zwischenfälle in leicht angespannter Schweigsamkeit hinter sich, lediglich unterbrochen von Harrys hellem Gegiggel und Gebrabbel.
Es stellte sich aber bald heraus, dass seine Sorge unbegründet war.
Trotz ultimativer Schamgefühle wagte sie sich an diesem Tag mit ihm und den Potters hinaus in die Gärten und an den schwarzen See und sogar Remus, der am Nachmittag zu Besuch kam und klugerweise lediglich kurz die Augenbrauen hochzog, jedoch auf einen weiteren Kommentar oder gar Gelächter verzichtete, sondern stattdessen Sirius einen abstrafenden Blick zuwarf, begrüßte sie freundlich und gewohnt liebenswert.
Sie verbrachten einen herrlichen gemeinsamen Sommertag und wünschten sich nichts sehnlicher als noch viele solcher Tage erleben zu dürfen.
Ab dem nächsten Tag hielt Sirius sich in seinem Eifer zurück und beschränkte sich eine Weile auf einfarbige Kleider in Sommerfarben. Sonnengelb, rosenrot, azurblau, lagunengrün, brombeerlila ... An Harrys Geburtstag durfte sie mitternachtsblau tragen.
Nach einer Weile sprang sie sogar morgens freudig aus dem Bett, um sofort die Schranktüren zu öffnen und nachzusehen, welche Farbe Sirius sich für heute ausgedacht hatte, während er sich grinsend auf die Kissen stützte und sie dabei beobachtete.
Obwohl Dumbledore mittlerweile wieder im Schloss anwesend war und sie aufgrund der Tatsache, nicht verheiratet zu sein, nicht offiziell das Zimmer teilen durften, verbrachte er mittlerweile jede Nacht bei ihr. Unerwartet übertraf dieser Sommer all seine Vorstellungen! Sie lebten Seite an Seite, Tür an Tür mit Lily und James. Nicht so viel anders als zuvor in London und doch war es ein Unterschied wie Tag und Nacht! Das Schloss und seine Umgebung bargen so viele schöne Erinnerungen, so viele vertraute Ecken und Winkel, so viele Menschen, Wesen und Geschichten.
Für ein paar Wochen konnten sie noch einmal unbeschwerte Kinder sein. Mit James durchs Quidditchstadion rasen. Mit Remus und Peter Steine in den schwarzen See schnipsen. Gemeinsam in der Bibliothek sitzen, wo einem der vertraute Geruch nach Pergament und Staub in die Nase stieg. Selbst Annes Klassenzimmer im Kerker hatte seinen Reiz, dort war es schön kühl und sie konnten so viele Dinge ausprobieren, für die während ihrer Schulzeit keine Gelegenheit gewesen war.
Ein ums andere Mal beobachtete er fasziniert, wie sie Inhaltsmengen berechnete, die einzelnen Eigenschaften der Zutaten gegeneinander abwog und Kombinationen testete, von denen er nie zuvor gehört hatte.
„Jetzt verstehe ich, was Slughorn an dir fand", pflegte er zu sagen, wenn sie wieder stundenlang herumtüftelte, in ihren Kesseln rührte, Rezepte notierte und wieder verwarf und darüber die Essenszeiten vergaß.
Manchmal kam Lily mit herunter und schaute ihr über die Schulter oder unterstützte sie beim Schneiden und Präparieren der Zutaten. Über die Wochen verblassten die Sorgen und Gefahren, die sie außerhalb dieser schützenden Schlossmauern alle schon bald wieder erwarten würden.
Der Orden arbeitete mit Hochdruck daran, Todesser aufzuspüren und unschädlich zu machen, aber ihnen allen war bewusst, dass alles nur ein Tropfen auf dem heißen Stein war und nichts erreicht war, solange der Dunkle Lord selbst verborgen und nicht greifbar blieb.
Anne hatte Dumbledore von Henrys Vermutungen berichtet, dass der Orden von innen ausspioniert wurde und der Schulleiter hatte daraufhin mit Sorgenfalten sowohl auf sie, als auch auf die Potters geblickt, bisher aber nichts weiter zu diesem Thema verlauten lassen.
Persephone Willis schickte ihr aus New York mehrere Bücher zum Horkrux-Zauber und sie las mit Grauen darin, wie man durch Abspaltung von Seelenfragmenten eine fragwürdige Art von Unsterblichkeit erreichen konnte. Die Vorstellung, die eigene Seele durch die Ermordung eines Menschen in Stücke zu reißen, verursachte ihr Kopfschmerzen und Übelkeit und dennoch erinnerte sie sich daran, wie sie sich gefühlt hatte, als sie den Todesfluch auf den Vater der Lestranges angewandt hatte: als wäre ein Teil ihrer selbst gestorben. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Voldemort diese Methode angewandt hatte, um einen Teil seiner selbst wegzuschließen, der ansonsten verloren gewesen wäre. Und angesichts seines Machthungers und seines Kalküls hatte sie Bedenken, ob er es bei nur einem Stück belassen hatte.
Aber auch diese Eröffnung und diesen Verdacht beließ Dumbledore erst einmal unerwidert. Sein Gesichtsausdruck zeigte ihr jedoch deutlich, dass er ihren Vermutungen durchaus Bedeutung beimaß und sie hoffte, ihn während des kommenden Schuljahres dazu überreden zu können mit ihr und dem Orden der Theorie weiter nachzugehen. Die bloße Aussicht, damit vielleicht eine Möglichkeit gefunden zu haben, ihren Vater eines Tages zu Fall zu bringen, versetzte sie so sehr in Aufregung, dass all ihre anderen alltäglichen Sorgen dahinter verblassten.
Selbst als Sirius begann, sie mit wilden Farbkombinationen und Mustern zu quälen, und sie tagelang in grell gestreiften Klamotten umherlief, die jeden Betrachter geradezu blendeten und deren Anblick die Grenze zwischen Lachreiz und Brechreiz verwischen ließen, sogar dann noch schaffte sie es, mit einem Lächeln auf den Lippen Merlin für diesen wundervollen Sommer und all die Menschen darin zu danken.
Bis schließlich der letzte Tag der Kleiderwette anbrach.
Als Sirius an diesem Tag erwachte, saß sie bereits mit angezogenen Knien neben ihm im Bett und starrte gedankenversunken und auf ihrer Unterlippe kauend ihre Schranktüren an. Seit Henry ihr gestern überraschend seinen Besuch für heute angekündigt hatte, war ihr klar, was kommen würde.
„Anne?" Er richtete sich auf und sah sie aus seinem verschlafenen Gesicht heraus fragend an. „Geht es dir gut?"
Sie seufzte. „Ja."
„Worüber denkst du nach?"
„Darüber, was hinter diesen Türen auf mich wartet."
Die Spur von Angst und Verzweiflung in ihrer Stimme entging ihm nicht. Stirnrunzelnd sah er sie an.
„Anne, ich ...", begann er, wusste aber gar nicht, was er sagen sollte oder wollte.
„Schon gut", antwortete sie da zittrig. „Ich weiß, dass du nicht ausgesucht hast, was ich heute tragen werde."
„Was? Aber wie ...?"
„Henry hat dir geholfen, unsere Wette zu gewinnen. Und er hat dafür verlangt, dass du ihm den letzten Tag abgibst, nicht wahr?"
Verdutzt blieb ihm der Mund offenstehen. Sie waren so diskret gewesen!
„Woher weißt du das?"
Sie lachte freudlos auf. „Ich kenne Henry. Und ich kenne seine Methoden. Ich weiß, welches Kleid für heute bestimmt ist." Ihre Stimme war nur ein Hauch und jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
„Anne ich habe mit Murdoch vereinbart, dass ich einschreiten werde, wenn es dir schlecht damit geht."
Überrascht wandte sie sich ihm zu und sah ihn voller Dankbarkeit an. „Wirklich? Was würdest du dann tun?", fragte sie neugierig.
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Ich finde es nicht gut, was er vorhat. Ich habe gesehen, wie dich das bunte Muster am ersten Tag fertiggemacht hat. Aber wenn ich an deinen Geburtstag zurückdenke, dann muss das hier noch viel schlimmer für dich sein. Und ich will dich nie wieder so leiden sehen!"
Sie lächelte gerührt, konnte es aber nicht lassen, anzumerken: „Das Muster am ersten Tag war eine bodenlose Gemeinheit von dir Sirius!"
Er grinste schuldbewusst. „Ich weiß, und es tut mir leid. Trotzdem: wenn es dir schlecht geht, werden wir heute abbrechen."
Sie schenkte ihm einen wissenden Blick. „Du magst Henry nicht", stellte sie ohne Umschweife fest, woraufhin er seufzte.
„Der Mann ist aalglatt und kalt wie eine Hundeschauze! Er macht es einem nicht gerade einfach, ihn zu mögen. Ich glaube du bist der einzige Mensch auf der Welt, der ihm überhaupt jemals Emotionen entlockt ..."
Ihm kam das Gespräch vor einigen Wochen in den Sinn. Als Anne im Sterben lag, war der alte Heiler emotional geworden. Mehr noch, als am Tag nach James Hochzeit, an dem er ihr mit Gewalt den rettenden Zaubertrank hatte einflößen müssen. Niemals davor oder danach hatte er ihn so erlebt. So menschlich. So demütig. Stets war er ein von sich überzeugter, sturer Eisblock, ein rechthaberischer, unnahbarer, kaltherziger Mensch, abweisend und gefühllos. Vermutlich musste man in seiner Position so sein, um nicht verrückt zu werden. Aber in Annes Nähe, war er anders. Ganz anders!
„Das ist heute kein Teil einer lustigen Wette mehr, Sirius", erklärte sie ihm daraufhin. „Es ist Teil meiner Therapie. Wie soll ich Voldemort jemals wieder gegenübertreten, wenn allein der Gedanke an die letzte Begegnung mich so sehr niederdrückt, dass ich kaum aufstehen kann? Wenn ich beim Anblick eines dunkelgrünen Kleides zusammenbreche?"
Sprachlos sah er sie an.
„Ich muss es endlich hinter mich bringen", sagte sie da schon und stieg aus dem Bett, um zum Kleiderschrank zu gehen.
Als sie die beiden Flügeltüren öffnete, hing nur ein einzelnes Kleid darin.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro