58. Kapitel - Der Steinkauz
Der Blick aus dem Fenster auf die das Schloss umgebenden Ländereien, die Tribünen des Quidditch-Stadions, die vom Sonnenlicht geküssten Mauern und Tore, die glitzernden Brunnen und verschlungenen Wege, entfachten in ihr den brennenden Wunsch hinauszustürmen, den Sommerwind zu spüren und die steilen Dächer und Zinnen des Schlosses zu umfliegen, so wie sie es früher schon getan hatte. Ihr Animagus hatte ihr die Freiheit beschert, zu jeder Zeit den Menschen entfliehen und die Stille und Einsamkeit der Lüfte genießen zu können. Und er war für allerlei makabre Scherze zu gebrauchen gewesen. Sie betrachtete die Wände ringsum und lächelte in der Erinnerung an die vor Aufregung prickelnden Zeiten, die sie und ihre Freunde hier verbracht hatten.
***
„Lauf!" Sirius markerschütternder Schrei hallte in ihren Ohren wider und lachend verpasste er ihr einen Stoß, dass sie sich beinahe auf die Nase legte, aber sie gehorchte und stolperte atemlos hinter Peter und Remus her, während Sirius sie von hinten anschob und James laut prustend die Nachhut bildete.
Gerade hatten sie sich mit den Slytherins ein hitziges Duell auf dem Flur geliefert, nachdem sie in Kräuterkunde eine ordentliche Ladung Drachendung in Snapes Tasche geschmuggelt hatten. Mulciber und Avery hatten sich ihnen daraufhin vor dem Mittagessen mit Regulus, Barty Crouch jr. und zwei Fünftklässlern aus dessen Dunstkreis in den Weg gestellt und Satisfaktion für ihren Freund gefordert.
Allein die Wortwahl hatte Sirius und James dazu verleitet, sich vor Lachen zu kugeln und den Angreifern für einen Moment äußerst verdutzte Gesichter zu bescheren.
„Findet ihr Ehre und Anstand so lustig?!", polterte Mulciber wütend, während die beiden sich demonstrativ die vom Kichern schmerzenden Bäuche hielten.
„Findest du, Ehre ist was zum Lachen, Padfoot?" James Kopf war bereits ganz rot angelaufen und er schnappte schwer nach Luft. Sirius lachte bellend weiter, so sehr, dass er sich Tränen aus den Augenwinkeln wischen musste.
„Nein, Prongs. Ehre ist eine ganz ernste Sache", presste er sich mit mühsam abgerungenem Ernst ab und prustete sofort weiter.
Anne warf Remus einen funkelnden Blick zu, den dieser verstohlen erwiderte. Sie konnte deutlich erkennen, wie viel Mühe es ihn kostete, sich das Lachen zu verkneifen. Da erging es ihm nicht anders, als ihr selbst und sie kicherte in sich hinein.
James atmete ein paar Mal kräftig durch.
„Siehst du Mulciber, wir lachen nicht über Ehre und Anstand", erklärte er, als stünde ein kleiner Junge vor ihm und kein blonder Zwei-Zentner-Hüne mit zornblitzenden Augen und gezücktem Zauberstab.
„Nur über Eure verzweifelte Suche danach", ergänzte Sirius ungerührt und schnalzte mit der Zunge, was ein erneutes Auflachen von James zur Folge hatte.
Anne genoss das Schauspiel der beiden. Es war, als würden sie an diesen Konfrontationen ihren Spaß haben, dabei wusste sie ganz genau, wie sehr sie die Mitschüler und ihre reinblütigen Ideologien verachteten und schwarze Magie hassten. Sie hatte sich schon mehrfach James flammende Wutreden anhören müssen und war mit ihm in Streit geraten, wenn sie den Standpunkt vertrat, dass die Todesser möglicherweise nur mit ihren eigenen Waffen zu schlagen seien. Tatsächlich bezweifelte sie nicht, dass James im Leben keinen schwarzmagischen Fluch aussprechen würde, trotzdem glaubte sie, dass es einen anständigen Zauberer nicht schlechter machte, wenn er ein paar dunkle Zauber kannte, um sich zu verteidigen. Sirius sagte dazu nichts, ebensowenig wie Remus, aber ihre Blicke sprachen Bände und sie wusste, dass sie mit James einer Meinung waren. Aber das musste sie noch lange nicht davon abhalten, jede Gelegenheit zu nutzen, in der verbotenen Abteilung der Bibliothek zu stöbern und sich selbst gebührend auf das Leben nach der Schule vorzubereiten.
Umso erstaunlicher fand sie es, dass die Jungs sich trotzdem laufend mit ihren Mitschülern bekriegten. Natürlich taten sie das aus genau der Verachtung für schwarze Magie heraus, aber nichtsdestotrotz fochten sie beständig gefährliche Kämpfe aus, nach denen meist der ein oder andere Mitschüler den Krankenflügel aufsuchen musste. War es wirklich besser, sich auf die eine Weise zu verletzen, als auf die andere?
Aber heute steckte sie mittendrin und hatte keine Zeit lange nachzudenken, da keifte Avery schon: „Was wissen Blutsverräter schon über Ehre und Anstand?! Leute wie ihr, die ihre Familie verraten und sich lieber mit Schlammblütern und minderwertigem Halbblut-Gesindel herumtreiben!"
„Halt bloß den Rand", brüllte Sirius daraufhin bedrohlich und zog seinerseits den Zauberstab.
James grinste frech. „Minderwertiges Halbblut-Gesindel? Findest du das nicht ein wenig scheinheilig, wo du gerade von uns Satisfaktion für Schniefelus gefordert hast? Für SCHNIEFELUS!?"
„Ausnahmen bestätigen die Regel", warf Regulus unterkühlt ein und betrachtete nach einem kurzen, bedeutungsschweren Blick auf Anne seinen Bruder mit unverhohlenem Abscheu. „Besser ein vernünftiges Halbblut, als ein gestörter Blutsverräter."
Sirius Blick brannte. Es fehlte nicht viel und er wäre dem Jüngeren an die Gurgel gegangen.
In diesem Moment warf Remus die erste Stinkbombe und übelriechender grüner Dunst legte sich über den Flur. Gerade wollten sie kehrt machen und dem Gestank entfliehen, da traten hinter ihnen Snape und ein untersetzter Sechstklässler namens Bulstrode um die Ecke und schnitten ihnen den Weg ab.
„Protego", rief James im nächsten Augenblick und blockte einen Angriff Mulcibers ab und schon entbrannte ein verbotenes Duell mitten auf dem Flur, in das eine Minute später die Professoren McGonagall und Flitwick mit zornesroten Gesichtern hineinplatzten.
Just als diese den Streit beenden wollten, warf Peter eine weitere Stinkbombe und vernebelte damit die Sicht.
„Lauf!", schrie Sirius also nun verdammt nahe an ihrem Ohr und zog sie mit sich.
Immer noch oder schon wieder vergnügt lachend schloss James zu ihnen auf, aber als nach der nächsten Ecke ein roter Fluchblitz an ihnen vorbeizischte, war klar, dass auch jemand von den Slytherins die Gunst der Stunde zur Flucht genutzt hatte und sie verfolgte.
Remus und Peter huschten vor ihnen in eine versteckte Nische hinter einem Wandteppich, aber Anne wusste, dass darin gerade einmal Platz für die beiden war. Sirius wusste das genausogut und schubste sie weiter geradeaus, während er James signalisierte, in den nächsten Gang nach links abzubiegen.
„Bis nachher Prongs! Komm, hier lang", zischte er, warf einen kurzen Blick hinter sich und zog sie mit sich.
Sie erkannte, dass er den Weg zum Astronomieturm einschlug, aber als sie dachte, mit ihm in den Raum der Wünsche verschwinden zu können, zog er sie einfach weiter und die Treppen zum Turm hinauf.
„Sirius, wo willst du hin?", keuchte sie, aber er lief unbeirrt weiter.
„Wirst du dann schon sehen."
Als sie fast ganz oben angelangt waren, hatte sie Gelegenheit, einen Blick auf ihren Verfolger zu erhaschen. Es war ihnen nur noch eine Person auf den Fersen. Regulus.
Er folgte ihnen mit erhobenem Zauberstab bis zur Spitze des Turms, bis es nicht mehr weiterging. Dann wandte Sirius sich schwer atmend zu ihm um und hob ebenfalls seinen Zauberstab, jedoch ließ er Annes Hand nicht los.
So standen die Brüder sich drohend gegenüber, während er sie zum Zuschauen verdonnerte.
„Was willst du von uns, Regulus? Und erzähl mir nicht, dass du wegen ein bisschen Drachendung hierstehst", fauchte Sirius.
Regulus Blick flackerte kurz zu Anne, dann zurück auf seinen Bruder.
„Also, was führt dich wirklich her?"
„Sirius", zischte Anne und zog an seinem Arm, als ihr gewahr wurde, wie Regulus Zauberstabarm zitterte. „Lass ihn", flüsterte sie, aber Sirius bewegte sich keinen Millimeter.
„Was findest du nur an ihm, Anne?", sprach Regulus da leise aber schneidend. „Wieso gibst du dich mit Blutsverrätern und Schlammblütern ab? Du bist eine Slytherin! Wieso stehst du nicht endlich dazu? Wieso versteckst du dich hinter Muggeleltern, die nicht deine wirklichen sind?"
„Ach, du bist also wegen ihr hier, ja?", geiferte Sirius und drängte sie von ihm weg, zur Brüstung. Anne wehrte sich, aber er ließ sie nicht los.
„Sirius, nicht! Das ist nicht der richtige Moment für Eifersucht", warnte sie.
„Ich bin nicht eifersüchtig auf Euch."
„Ach nein?", giftete Regulus. „Du hast sie doch überhaupt nur angesehen, weil du wusstest, dass ich sie mag!"
Sie hielt die Luft an.
„Erzähl mir nicht, dass du unseren Eltern ein muggelgeborenes Mädchen unter die Augen gebracht hättest."
Ein verletzter Ausdruck huschte über Regulus Gesicht. „Das wäre gar nicht nötig gewesen, weil sie nicht muggelgeboren IST."
„Ach, und deshalb willst du sie jetzt wiederhaben. Nachdem du sie behandelt hast, wie den letzten Dreck."
„Hört auf!", kreischte sie. „Alle beide!"
Da wandte Sirius sich zu ihr um und eine irre Idee durchzuckte ihn. Sie konnte es in seinen Augen aufblitzen sehen und im nächsten Moment gab er ihr einen kräftigen Stoß, der sie über die Brüstung katapultierte und mit einem spitzen Schrei vom Turm stieß.
Regulus wich sämtliche Farbe aus dem Gesicht. Er stand wie in Stein gemeißelt da, den Mund wortlos aufgerissen, die Augen vor grenzenlosem Entsetzen geweitet.
„Nun hat sie keiner von uns beiden", grinste Sirius schadenfroh. „Es sei denn, du pickst sie dir vom Boden auf." Er musste an sich halten, um nicht laut loszulachen. „Vergiss nicht zu atmen", verhöhnte er seinen Bruder, als er sich an ihm vorbeischob und fröhlich pfeifend den Rückweg die Treppen hinunter antrat.
„Du blöder Idiot", kam Anne ihm auf halbem Weg von unten geifernd entgegen. Sie hatte sich verwandelt und war mühelos zum nächsten offenstehenden Fenster hereingeflogen. Aber das konnte Regulus ja nicht wissen. „Wie konntest du nur?! Er ist doch dein Bruder!"
„Du musst nichts auf diese Verwandtschaft geben", grinste er sie an und legte vertrauensvoll den Arm um ihre Schultern, um sie mit sich durch einen kurzen Geheimweg auf die nächsten Gänge zu ziehen. „James ist mein wahrer Bruder. Und er würde nicht so belämmert dreinschauen, wenn ich dich vor seinen Augen vom Astronomieturm stieße."
„Ha ha. Das war echt gemein von dir!"
Er zog eine Grimasse. „Ja, ich schätze der gute Regulus könnte davon Alpträume kriegen. Aber die hat er auch verdient, immerhin wollte er uns mit seinen Kumpels vermöbeln."
Doch schon im nächsten Moment gefror das freche Grinsen auf seinem Gesicht, als sie geradewegs in eine wutschnaubende McGonagall hineinliefen, hinter der bereits die anderen mit eingezogenen Köpfen, aber auch feixenden Gesichtern standen.
Sie schleifte sie allesamt in ihr Büro und hielt ihnen die übliche Standpauke, was das Duellieren auf den Gängen anbetraf. Außerdem zog sie jedem zwanzig Hauspunkte dafür ab. Remus und Peter für die Stinkbomben noch jeweils zehn weitere.
„Sie werden am Freitagabend um 20 Uhr zum Nachsitzen erscheinen! Alle, auch Sie Miss Eastwood! Ihnen kann ich keine Punkte abziehen, da sie keinem Haus mehr angehören. Aber das bedeutet nicht, dass Sie über den Regeln stehen!"
„Der Ehrlichkeit halber müssen Sie eingestehen, dass ihr dieser Umstand nicht nur zum Vorteil gereicht. Es ist frustrierend, am Wettkampf um den Hauspokal gar nicht mehr teilnehmen zu dürfen", warf Sirius wagemutig ein und ließ McGonagall für einen Moment verstummen. Anne gab ihm einen verstohlenen Rippenstoß. „Ist doch wahr! Sie ist die Klügste des Jahrgangs und kann keinen einzigen Punkt gutmachen."
„Wenn Miss Eastwood so klug wäre, wie Sie andeuten, Mr. Black, dann wäre sie umsichtiger in der Wahl ihrer Freunde."
Daraufhin mussten sie alle schmunzeln. Sie wussten genau, wie sehr McGonagall ihre Schüler schätzte, Anwesende ganz besonders.
„Es ist eine Schande mit Ihnen!" Als ihr Blick an James hängenblieb, wurde die Zornesfurche auf ihrer Stirn noch tiefer.
„Der Schulsprecher! Was haben Sie sich nur dabei gedacht, Mr. Potter?! Was könnten Sie alle mit ihrem Talent erreichen, wenn Sie es nicht für alberne Streiche und Duelle mit ihren Mitschülern verschwenden würden!"
„Ich glaube, Sie sehen das falsch, Professor", warf Anne nun mit kühler Stimme ein und die Köpfe schnellten überrascht zu ihr herum.
„Und was veranlasst Sie zu dieser respektlosen Einschätzung, Miss Eastwood?", keifte die aufgebrachte Lehrerin.
„Wenn wir auf den Gängen dieser Schule nicht lernen, uns zu verteidigen, wie sollen wir dann da draußen dem Krieg standhalten?"
McGonagall presste die Lippen so fest aufeinander, dass nur ein Strich übrigblieb. „Sie können gehen", zischte sie an die Jungen gewandt. „Miss Eastwood, Sie begleiten mich zum Schulleiter."
Doch Dumbledore war nicht allein, als sie dort eintrafen. Professor Slughorn sah sie ungläubig an, als sie putzmunter im Schlepptau von McGonagall eintrat und Regulus, der aufgelöst und zerzaust, mit geschwollenen Lidern und geröteten Wangen unbehaglich auf Dumbledores Sofa saß, fielen bei ihrem Anblick beinah die Augen aus dem Kopf. Fast hätte sie es süß finden können, dass er offensichtlich um sie geweint hatte.
„Miss Eastwood", sprach Dumbledore sie verdutzt an und sie konnte beobachten, wie sich ein amüsierter Ausdruck über sein Gesicht ausbreitete.
„Man sagte mir gerade, Sie wären vom Astronomieturm gestürzt...?"
***
„Was war los, was hat Dumbledore gesagt?"
Die Jungs bestürmten sie mit Fragen, als sie im Anschluss in der großen Halle zu ihnen stieß.
Grinsend setzte sie sich auf den Platz neben Sirius. Leider war das Essen schon vorbei und sie hatte sogar den Nachtisch verpasst, aber sie würde sich in der Küche schon noch etwas besorgen können.
„Nun erzähl schon, was hast du aufgebrummt bekommen?"
Lässig stützte sie sich auf die Tischplatte und ihr freches Grinsen wurde noch breiter. „Nichts."
„NICHTS?!"
„Nichts. Abgesehen von dem Nachsitzen bei McGonagall, das Euch mit einschließt."
Remus stieß einen Pfiff zwischen den Zähnen hervor. „Entweder Dumbledore oder McGonagall muss dich lieben, wenn sie dir deine Dreistigkeit ungestraft durchgehen lassen."
Anne zuckte mit den Schultern. „Ach, das ist nur, weil sie froh sind, dass ich noch lebe." Sie warf Sirius ein verschwörerisches Lächeln zu und der grunzte kurz auf.
James verzog irritiert das Gesicht. „Dass du noch lebst? Hatten sie Angst, dass die Slytherins so sehr über die Stränge schlagen?"
„Vielen Dank auch, dass sie sich nur um DICH fürchten", grämte Peter sich, aber Anne lachte nur.
„Keiner hat Angst vor den Slytherins", sagte sie abfällig.
„Was sollte dir dann schon zustoßen?"
Wieder blickte sie ihren Banknachbarn an. „Na Sirius!", kicherte sie und gab dem einen schwachen Rempler an die Schulter. Er musste zu Boden schauen, um nicht laut loszuprusten.
James schaute bedröppelt drein. „Sie fürchten sich vor Sirius?!"
Annes Augen funkelten ihn belustigt an.
„Weißt du, er hat mich vor Regulus Augen vom Astronomieturm geschubst..."
***
Wie gerne wollte sie sich auf der Stelle verwandeln und die Freiheit der Lüfte kosten. Aber dafür war sie noch nicht kräftig genug. Sie konnte nicht die Gefahr eingehen, bei dem Versuch aus dem Turm zu stürzen und sich noch weitere Knochen zu brechen. Also wandte sie sich seufzend vom Fenster ab und stakste stattdessen zum Klavier, hob den Deckel und begann zum ersten Mal seit ihrem Fortgang aus Maple Court zu spielen.
Ihre Finger glitten sanft über die Tasten und ihre ganze Magie floss in die Melodie ein, die dem Instrument entstieg und ihre Gedanken für einen Moment entführte, ihren Geist beruhigte und die allgegenwärtige, unsichtbare Bedrohung zurückdrängte und aussperrte. Sie war eins mit der Musik und ein Gefühl von Glück und Zufriedenheit wärmte ihre Brust.
Als der letzte Akkord verklang, blieb sie ganz ruhig sitzen und genoss die einsetzende Stille, die jedoch sogleich von einer ruhigen Stimme durchbrochen wurde.
***
Anne spielt Comptine d'un autre été von Yann Tiersen.
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