56. Kapitel - Die Liebe meines Lebens
„Soll ich Madam Pomfrey rufen, brauchst du ein Schmerzmittel oder so etwas?", fing er wieder an.
„Nein!", lehnte sie vehement ab.
„Was dann?"
„Nichts. Ich brauche nichts!"
„Aber ..."
„Setz dich wieder. Bitte!"
Langsam und angespannt leistete er ihrer Bitte folge und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Hinter ihrer Stirn arbeitete es fieberhaft, er konnte es nahezu sehen und auch seine eigenen Gedanken drehten sich im Kreis.
„Was wolltest du dann sagen?", wagte er schließlich nervös zu fragen, als er den Blick ihrer himmelblauen Augen auf sich ruhen spürte.
Wie schon bei seinen Besuchen zuvor, trug er heute ein feines Hemd und eine bestickte Tweed-Weste, an der die Kette seiner Uhr baumelte, zu eleganten grauen Hosen. Das leicht gewellte, schwarze Haar fiel ihm makellos glänzend bis zu den Schultern herab. Er sah schlichtweg großartig aus, wie aus einem der alten Filme, welche ihre Mutter, die Gräfin, früher gerne an langen Winterabenden verschlungen hatte.
„Du hast deine Garderobe erneuert", stellte sie unvermittelt fest und warf ihn damit noch weiter aus der Bahn.
„Wie bitte?!", zischte er verwirrt.
„Vermisst du sie?"
„Wen?"
„Marlene."
Er hielt die Luft an und schloss die Augen. Einen Moment lang wirkte es so, als würde er gleich explodieren. Seine Hände ballten sich zu Fäusten und er zitterte. Sie dagegen saß einfach nur da und starrte ihn wehmütig an. Als er die Augen wieder öffnete, schien er jedoch die Ruhe selbst und besah sie von oben bis unten. Ihr glattes Haar floss sanft über ihre Schultern auf die Bettdecke herab. Es war inzwischen so lang, dass es ihr vermutlich bis zur Hüfte reichte, aber sie hatte es schon Ewigkeiten nicht mehr offen getragen. Alles an ihr erschien ihm ungewohnt. Normalerweise steckte sie in schicken schwarzen Taftkleidern, in Samt und Seide, mit Spitzenärmeln und einem teuren Kaschmirmäntelchen. In eleganten Damenschuhen mit hohen Absätzen. Sie trug kunstvolle Frisuren, in die ihr widerspenstiges Haar sich nur mit reichlich Magie bändigen ließ. Ihre Lippen und Lider waren stets dezent geschminkt und ihre Wimpern dunkel getuscht. Sie gab sich immer geheimnisvoll. Glamourös. Selbstbewusst. Selbst dann, wenn sie krank oder verletzt gewesen war.
Aber jetzt saß sie von alldem unberührt vor ihm. In einem schlichten weißen Nachthemd mit halblangen Ärmeln und einem kleinen, rüschenbesetzten Ausschnitt, die Haare offen und das Gesicht rein und blass wie ein kleines Mädchen, wirkte sie so unheimlich zerbrechlich! Er hatte das Gefühl sie gar nicht richtig zu kennen. Sie plötzlich ganz neu zu entdecken.
„Ich habe das alles nicht gewollt", brach es auf einmal wehmütig aus ihr heraus und wieder konnte er ihren Worten nicht folgen und sah sie nur verständnislos an.
„Es tut mir so leid", hauchte sie und wandte beschämt den Blick von ihm.
Da endlich wurde er sich bewusst, dass er zwei Hände hatte und eine Stimme und er beugte sich zu ihr, um ihre zitternden Finger zu ergreifen. Doch da strömten schon die Tränen über ihre Wangen.
„Hey! Es ist doch nicht deine Schuld, dass Marlene tot ist!"
„Aber genau das hast du gesagt!", widersprach sie bedrückt zwischen zwei Schluchzern. „Und du hast recht. Hätte ich nicht ..."
„Schsch...", machte er schnell und legte seine Finger auf ihre Lippen. „Ich war verletzt und meine Worte waren dazu gedacht, ebenfalls zu verletzen", gestand er unglücklich.
„Aber du ..."
„Nein!", protestierte er scharf und sie hielt tatsächlich stirnrunzelnd inne.
„Du hast mit mir sieben Jahre in diesem mittelalterlichen Kasten zugebracht", seufzte er schmunzelnd und wies auf die sie umgebenden Mauern. „Du solltest wissen, dass man nicht alles vorbehaltslos glauben darf, was aus meinem Mund kommt!"
Ungläubig schnappte sie nach Luft und sah ihm hoffnungsvoll ins Gesicht. Er gab ihr nicht die Schuld? Waren sie doch noch nicht am Ende angelangt? War vielleicht noch etwas zu retten?
Sirius atmete laut vernehmbar durch. „Ich bin untröstlich über Marlenes Tod und den ihrer gesamten Familie", berichtete er mit rauer Stimme, ohne ihre Hand loszulassen. „Und möglicherweise hat der Umstand unserer Verlobung dabei eine Rolle gespielt. Aber es war ihre Frage und meine Entscheidung einzuwilligen."
Anne schüttelte verzweifelt den Kopf. „Aber sie hätte dich gar nicht erst gefragt, wenn ich ihr dazu keinen Anlass gegeben hätte", rief sie hitzig.
„Und ich hätte nicht zustimmen dürfen, wenn ich ehrlich gewesen wäre!", brüllte er aufgebracht zurück und brachte sie damit endlich zum Schweigen.
Erneut schnaufte er tief durch, dann streichelte er nervös über ihren Handrücken. „Ich habe Marlene nicht geliebt", gab er zähneknirschend zu und sie konnte an seinem mahlenden Kiefer erkennen, dass er sich selbst verurteilte. „Ich mochte sie und ich war ihr dankbar dafür, dass sie mir einen Ausweg bot. Eine Möglichkeit, von dir fortzukommen, von deiner Kälte, deiner distanzierten Lieblosigkeit und deiner quälenden Unentschlossenheit. Aber das war aussichtslos ..."
Seine harten, ehrlichen Worte bohrten sich tief in ihr Herz, als wären sie Nägel aus Eis, doch sie begrüßte den Schmerz, weil er sie von ihren brennenden Schuldgefühlen reinwusch. Ihre Augenlider begannen aufgeregt zu flattern und sie begann zu hoffen, dass sie ihn vielleicht doch nicht würde aufgeben müssen.
Zärtlich legte sie ihre Hand auf seine rechte Wange, hinter der seine Zähne knirschten, so fest presste er sie aufeinander und sah ihm Abbitte leistend in die Augen.
Alle seine vorwurfsvollen Worte waren vollkommen wahr. Sie hatte sich ihm gegenüber hartherzig und kratzbürstig benommen. Fortgestoßen hatte sie ihn. Eigentlich schon immer, von Anfang an. Sie hatte ihre Selbstbestimmung stets über ihn gestellt und nicht akzeptieren wollen, dass da jemand war, der an ihrem Leben teilhaben wollte. Jemand, der mehr wollte, als nur ein wenig Austausch von Körperflüssigkeiten.
In ihrer Schulzeit hatte sie sich nach den anfänglichen Startschwierigkeiten für eine Weile mitreißen lassen. Ihr letztes gemeinsames Schuljahr hatten sie in nahezu perfekter, jugendlicher Liebesbeziehung verbracht, ständig waren sie von McGonagall knutschend in dunklen Ecken aufgegriffen und mehrmals wegen unziemlichen Verhaltens zum Nachsitzen verdonnert worden. Aber das hatte sie nicht davon abhalten können, jede Besenkammer im ganzen Schloss durchzuprobieren. Natürlich hätten sie auch in Annes Zimmer oder den Raum der Wünsche gehen können, aber der Reiz erwischt werden zu können, hatte das Ganze noch viel aufregender gemacht! Sowohl James als auch Peter waren mehrmals zwischendrin hereingeplatzt.
Und einmal hatte Severus Snape sie in einem der leeren Klassenzimmer überrascht. Sie hatten ihm daraufhin einen fiesen Flederwichtfluch angehext, den er nicht abblocken konnte, weil er nicht damit fertig geworden war, sie angeekelt anzustarren. Es war eine wunderschöne Zeit gewesen!
Aber nachdem sie ihre Schulzeit beendet und ihre Abschlüsse in der Tasche gehabt hatten, nachdem Annes Freundin und Mentorin Annabel Hawthorpe sich in die lange Liste der Opfer Voldemorts einreihen hatte müssen ... danach war nichts mehr gewesen wie zuvor. Getrieben von unspezifischen, tiefgehenden Ängsten war sie fortan nur noch ein giftiges Nervenbündel gewesen und er hatte unter ihren ständigen Launen und Kapriolen leiden müssen. Immer und immer wieder, bis er versucht hatte, sich mit Marlenes Hilfe von ihr zu befreien. Erst in jenem Moment hatte sie erkannt, was sie in ihm besessen und mit ihm verloren hatte. Von diesem Augenblick an war sie noch unglücklicher als zuvor gewesen.
Sie schloss die Augen und verdrängte die Tränen, die sich ihrer schon wieder bemächtigen wollten. Sie weinte viel zu viel! Schon immer überwältigten ihre Gefühlsausbrüche sie viel zu oft und viel zu unkontrolliert. Wie sie es hasste, so nah am Wasser gebaut zu sein! Sie hatte ihm wehgetan - wenn jemand weinen durfte, dann er. Doch als sie die Augen wieder öffnete und ihn ansah, waren da keine Tränen auf seinem Gesicht. Seine sturmgrauen Augen strahlten sie nur abwartend an und es lag so viel unerwiderte Sehnsucht darin, dass es ihr vorkam, als müsste ihr Herzschlag stocken. Gab er ihr noch eine Chance? Die gefühlt dreihundertste?
„Verstehst du, was ich dir damit sagen will?", stupste er sie an und sie war sich nicht sicher, was er meinte. Hatte er zwischendurch noch etwas anderes gesagt? Oder wollte er ihr mitteilen, dass er sie nicht mehr zurückwollte? Oder ...?
„Nein", gestand sie verzagt und ihm kam ein herzzerreißender Seufzer über die Lippen.
„Anne", raunte er drängend. „Egal was du gesagt oder getan hast ... Ich habe nie aufgehört dich zu lieben."
Sie öffnete die Lippen zu einer Antwort, schloss sie aber gleich darauf wieder. Wie seit jeher fiel es ihr schwer, ihre wahren Gefühle in Worte zu fassen.
Von ihrer mangelnden Erwiderung entmutigt, senkte er den Blick und nickte traurig.
„Ich dachte mir schon, dass du nicht das gleiche empfindest." Er wollte ihre Hände loslassen und frustriert aufstehen, aber sie gab ihn nicht frei.
„Nein Sirius! Du hast nicht ... ich meine, ich ... Ich dachte ...", begann sie erneut zu stottern, kniff dann erregt die Augen zu und seufzte laut auf. „Fuck", hörte er sie über sich selbst fluchen, doch schon im nächsten Moment schlug sie die Augen wieder auf, blickte ihn unverwandt an und sagte mit klarer, fester Stimme: „Ich liebe dich, Sirius Black, und ich will dich zurück!"
Ein Schauer durchzog ihn, als sie es endlich geschafft hatte, sich ihm zu erklären, und jagte ruckartig durch seinen gesamten Körper bis hinein in die Zehen und Fingerspitzen. Einen Moment lang starrte er sie ungläubig an, doch ihre Augen flehten ihn an, ihr zu glauben. Ihr noch eine Chance zu geben. Und nichts auf der Welt wollte er lieber tun. Nichts!
Also wagte er es schließlich, ihr anstelle einer Antwort einen zarten Kuss zu geben und als hätte sie nur darauf gewartet, erwiderte sie ihn hingebungsvoll und zog ihn so kräftig an sich, dass er das Gleichgewicht verlor und schnurstracks auf ihrer Brust landete, was mit heftigem Keuchen quittiert wurde. Aber sie ließen sich davon nicht beirren und küssten atemlos weiter, so lange, bis sie beide meinten, gleich vor Glück zu zerspringen und tief in die verrutschten Kissen versunken nebeneinander liegen blieben. Er legte seine Arme um sie und sie spürte seine Wärme, seinen Duft, seine Liebe, alles was ihr monatelang so schmerzlich gefehlt hatte. Flach atmend vergrub sie ihr Gesicht in seinem weichen Haar und zog ihn eng an sich. So ineinander verschlungen blieben sie kuschelnd für sich, bis sie schließlich von Lily und James gestört wurden, die Anne an diesem Nachmittag besuchen kamen.
***
Die nächsten Tage ging es steil bergauf. Nachdem Anne ihre Stimme wiedergefunden und sie und Sirius sich ausgesprochen hatten, entwickelte sie dank des hervorragenden Essens der Hogwarts Küche einen gesunden Appetit. Die Farbe kehrte auf ihre Wangen zurück und als der Juni anbrach, konnte sie mit Henrys und Sirius Unterstützung erste wacklige Schritte im Zimmer auf und ab spazieren.
Die Potters besuchten sie täglich und auch Remus schaute alle paar Tage vorbei.
Ein, zwei Mal war sogar Peter bei ihr aufgetaucht, sie hatten aber kaum mehr als fünf Worte miteinander gewechselt.
Eines mittags, sie setzte sich gerade nach einem anstrengenden, übungsintensiven Vormittag auf ihr Bett, um sich auszuruhen, betrat Albus Dumbledore mit ernstem Gesicht das Zimmer, in seinem Schlepptau niemand geringeren als Bartemius Crouch, den Leiter der magischen Strafverfolgungsbehörde. Schlagartig herrschte Stille im Raum, in dem sich außerdem noch Lily und Sirius befanden, mit denen sie gemeinsam zu Mittag gegessen hatte.
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