38. Kapitel - Der Bruch
Die ganze Nacht harrte Anne an Sirius Seite aus und ließ ihn nicht aus den Augen. Murdoch hatte ihr berichtet, dass der eiligst hergestellte Zaubertrank den Verfall tatsächlich erfolgreich hatte stoppen können. Allerdings hatte Sirius da schon eine Menge Runzeln im Gesicht, eingefallene Wangen und graue Haare bekommen. Also blieb sie bei ihm und verabreichte ihm jede Stunde erneut ein paar Tropfen des hochwirksamen Jungbrunnens, bis sein Haar wieder schwarz glänzte, seine rosigen Wangen mit kräftigen dunklen Bartstoppeln übersät waren und nur ein paar leichte Lachfältchen an den Augenwinkeln übrig geblieben waren, die sie voll wehmütiger Sehnsucht mit ihren Fingerspitzen streichelte. Nur mühsam widerstand sie dem Drang, den Ohnmächtigen zu küssen. Er war nicht mehr ihr Partner, er hatte gerade auf äußerst traumatische Art und Weise seine Verlobte verloren, sie durfte das nicht ausnutzen, predigte sie sich selbst. Und musste sich fast das eigene Herz dafür ausreißen.
Inzwischen graute der Morgen und sie war so entkräftet, dass sie beinah im Sitzen einschlief. Er war die Nacht über kein einziges Mal aufgewacht. Sie war dankbar als endlich James leise ins Zimmer trat und sie nach dem Befinden des Patienten fragte.
„Ich denke, er ist über den Berg", erklärte sie und fuhr sich mit der Hand über das abgespannte, fahle Gesicht.„Und vermutlich auch wieder einundzwanzig. So Pi mal Daumen."
„So Pi mal was?" Verständnislos sah er sie an.
„Ach, das ist nur so ein Spruch des Grafen..."
„Die meinst, deinem Vater?"
Sie zögerte kurz. „Ja, von meinem Vater", bestätigte sie dann aber doch.
Er zuckte die Schultern. „Lily würde das vermutlich verstehen", meinte er nur.
Wieder rieb sie sich die müden Augen.
„Du siehst aus wie Moony nach Vollmond", stellte er überaus charmant fest. „Warst du die ganze Nacht auf?"
Sie gähnte herzhaft. „Ja."
„Du kannst dich gerne aufs Ohr hauen. Ich bleib da. Muss er noch den Zaubertrank einnehmen?" Er warf einen prüfenden Blick auf die halbvolle Phiole auf dem Nachttisch.
„Nein, ich glaube, er hat genug", schätzte sie. „Um halb neun kommt Henry und sieht nach ihm."
„Henry?"
„Murdoch."
James hob die Brauen, verkniff sich aber einen abschätzigen Kommentar. Spontan musste er daran denken, wie Remus sie einst verdächtigt hatte, eine Affäre mit Murdoch zu haben. Lily hatte sich fürchterlich darüber aufgeregt. Inzwischen traute sie selbst ihrer Freundin fast alles zu. Die Tatsache, dass Anne so viel über die dunklen Künste wusste, verstörte seine Frau sehr.
Er hasste die dunklen Künste. Die Welt wäre eine bessere, wenn sie einfach nicht existieren würden. Aber es gab sie nun einmal. Und er musste zähneknirschend zugestehen, dass sein bester Freund, den er liebte wie einen Bruder, heute bereits tot wäre, wenn Eastwood nicht sofort gewusst hätte, was zu tun war. Es war genau wie zu Schulzeiten. Er fand es scheußlich, was sie tat, aber er musste zugeben, dass es nicht verkehrt, in diesem Fall sogar absolut unerlässlich war, dass sie all diese Dinge wusste. Genau wie früher schwankte er zwischen Abscheu und Anerkennung für ihre fragwürdigen Talente.
„Ich komme nach Mittag wieder vorbei", verabschiedete sie sich schließlich müde, wohlwissend, dass James gerade intensiv über sie nachgrübelte, wie er es immer schon getan hatte.
***
Als sie am Nachmittag mäßig erholt zurückkehrte - ihr schwarzes Kleid ließ sie heute noch blasser und sorgenvoller wirken, als sie es ohnehin war - drang ihr schon beim Öffnen der Tür das aufmunternde Geschnatter der Prewetts entgegen. Auch Remus war zugegen, er hatte James abgelöst, der später mit Lily und dem kleinen Harry wiederkommen wollte.
„Da ist ja die Frau der Stunde!", rief Fabian euphorisch und Remus erhob sich lächelnd, um ihr eine erleichterte, freundschaftliche Umarmung zu schenken.
„Murdoch sagt, du hast dir die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, um Blacky wieder jung zu machen", rief Gideon. „Ich finde ja, du hättest nicht so übertreiben müssen, er sieht aus, als wäre er fünfzehn!"
„Genau", stimmte Fabian glucksend zu. „Ein paar Falten hättest du ihm ruhig lassen können. Oder ein paar graue Haare. Er ist sowieso schon so ein eitler Bock, jetzt wird er sich noch schlimmer aufführen."
„Oh ja! Ich bin so gutaussehend!", äffte Gideon und tat so, als würde er sich im Spiegel betrachten. Remus grinste verstohlen und selbst Anne musste über die beiden kichern. Dann endlich ließen sie sie ans Bett hintreten und das Lächeln gefror umgehend auf ihrem bleichen Gesicht.
Müde und mitgenommen lag er in den Kissen und sah sie finster an, die Augen tief in den Höhlen und dunkel umringt. Sein hasserfüllter Blick ließ sie in ihrer Bewegung innehalten, als wären ihre Glieder am Boden festgefroren.
Eigentlich hatte sie seine Hand ergreifen und ihm aufmunternde Worte zuflüstern wollen.
Eigentlich hätte sie ihn am allerliebsten stürmisch umarmen und jeden Zentimeter seines geliebten Gesichts mit zärtlichen Küssen bedecken wollen.
Eigentlich.
So aber stand sie nur wie angewurzelt da, Falten legten sich auf ihre Stirn und sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Irritiert beobachteten die Prewetts das seltsame, stille Schauspiel, bis Gideon schließlich herausplatzte und scherzend meinte: „Habt ihr jetzt die Sprache verloren, oder was? Sollen wir lieber rausgehen, damit ihr euch mit Körpersprache verständigen könnt?" Dazu bewegte er anzüglich grinsend die Hüften und kassierte dafür sogleich von Remus einen aufgebrachten Hieb in die Seite.
„Gideon", zischte auch Fabian und warf seinem Bruder für seine fehlgegriffene Bemerkung einen rügenden Blick zu.
„Was?!", beschwere der sich. „Die waren jahrelang miteinander im Bett und jetzt tun sie so als wären sie giftig."
„Gid!" Fabian fauchte erneut und fuchtelte unwirsch mit der Hand vor dem Gesicht herum. Gideon zog eine Schnute, unterließ es aber, weitere Bemerkungen abzugeben. „Lass uns einen Tee trinken gehen", schlug Fabian schließlich versöhnlich vor und schob seinen Bruder Richtung Tür.
Als sie fast draußen waren, wollte Remus ihnen folgen, aber auf einmal sagte Sirius scharf: „Bleib da, Remus!"
Die Prewetts hielten kurz inne und warfen einen erstaunten Blick zurück, machten sich dann aber kabbelnd auf den Weg zur Cafeteria und schlossen die Tür hinter sich.
Anne stand da, wie ein begossener Pudel und warf Remus einen hilfesuchenden Blick zu. Der war überrascht von Sirius harschem Befehl, leistete ihm jedoch widerspruchslos Folge und blieb stirnrunzelnd auf seinem Platz.
Plötzlich ließ Sirius ein verzweifeltes Schluchzen hören. Anne konnte nicht länger an sich halten, trat zu ihm und griff nach seiner rechten Hand, aber er entriss sie ihr sofort.
„Verschwinde", zischte er und sie zuckte schreckhaft zusammen. Wie gelähmt starrte sie ihn aus großen, fassungslosen Augen heraus an.
„Sirius", warf Remus leise ein. „Sie hat ..."
„Ist mir scheißegal, was sie hat oder nicht hat", blockte Sirius wütend ab und sah ihr zornbebend ins Gesicht.
„Marlene ist tot!", klagte er verbittert. „Meine verdammte, schwarze Todesser-Cousine hat sich einen wunderbaren Spaß gemacht, ihre ganze Familie abzuschlachten. Vor meinen Augen! Wahrscheinlich hat sie noch tagelang ihre diebische Freude beim Gedanken daran."
Schweigend und tief betroffen verfolgte Anne seine harschen Worte, aber er sprach nicht weiter, sondern wurde erneut von bitteren Schluchzern geschüttelt. Wieder wollte sie nichts lieber, als ihn tröstend zu berühren und streckte bereits die Hand aus, um ihm die Schulter zu drücken, doch er entzog sich ihr ruckartig.
„Fass mich nicht an!"
Erschrocken zog sie die Hand zurück, als hätte sie weißglühendes Metall berührt und langsam machte sich quälende Verzweiflung in ihrer Brust breit. Er lag zerbrochen vor ihr am Boden und wollte sich nicht helfen lassen. Was sollte sie nur tun?
Remus seufzte. Aber auch er fand keine Worte um Sirius deutlich sichtbaren Schmerz zu lindern.
Der sagte daraufhin mit rauer Stimme: „Marlene würde noch leben, wenn sie sich nicht mit mir verlobt hätte."
Da endlich brachte Anne den Mund auf. „Gib dir doch nicht die Schuld daran", äußerte sie mitfühlend und sah ihn unglücklich an. Er starrte einen Moment lang trüb vor sich hin, dann hob sich sein Blick und abgrundtiefe Verachtung schlug ihr daraus entgegen.
„Das tue ich nicht. Es ist deine Schuld! Allein deine Schuld."
Er hatte leise und mehr als vorwurfsvoll gesprochen und Remus horchte verwundert auf, weil er glaubte nicht richtig gehört zu haben.
Ihr Blick gefror. Nervös hob und senkte sich ihr Brustkorb, während sie ihn entsetzt anstarrte und so verletzt wirkte, als hätte er ihr einen spitzen Dolch mitten ins Herz gerammt.
„Das meinst du doch nicht ernst, Sirius", versuchte Remus zu beschwichtigen, aber sein Freund taxierte sie kalt mit seinen grauen Augen und hörte ihm nicht zu.
„Verschwinde, Anne. Verschwinde aus meinem Leben!", zischte er verbittert und sie wollte am liebsten auf der Stelle im Erdboden versinken.
Hektisch flackerten ihre Augenlider, bis sie schließlich kaum vernehmlich nickte, sich wortlos umdrehte und gebrochenen Herzens aus dem Zimmer schlich.
Remus schaute ihr entgeistert hinterher und schenkte dann Sirius einen fassungslosen Blick, aber der hatte sich wieder in die Kissen zurücksinken lassen und seine Augen geschlossen.
***
In Hectors dunklem New Yorker Aufnahmestudio saß Anne gedankenversunken auf der samtbezogenen Klavierbank vor dem dunkel glänzenden Konzertflügel, aber sie spielte nicht. Um sie herum standen zahlreiche verwaiste Mikrofone und mit Stoff bespannte Stellwände aber ansonsten war das Studio noch menschenleer und lichtlos in die Düsternis eines grauen Dezembermorgens gehüllt. Sie saß einfach nur da und starrte vor sich hin.
Ihre Beziehung zu Sirius lag in Scherben und obwohl sie diese nie so richtig gewollt hatte, ja anfangs sogar froh gewesen war, ihr entkommen zu sein, um sich mit jeder Faser ihres Daseins der Vernichtung ihres grausamen, machtgierigen Vaters zu widmen, war sie fürchterlich unglücklich über das Ende und litt wie ein ausgesetzter Hund.
War es das wirklich wert gewesen? Würde Voldemort ihn verschonen, wenn sie so tat, als würde sie ihn nicht lieben? Konnte sie überhaupt so tun? Sie konnte es bei Alain. Aber obwohl sie den blonden Franzosen mit seinen wundervollen dunkelblauen Augen, seinem liebenswürdigen Wesen, seiner schlagfertigen und geistreichen Art und seinem unschätzbaren Esprit auf ihre ganz eigene Weise liebte, war es nicht dasselbe.
Sie hatte mit ihm nicht die gleichen Dinge erlebt, wie mit Sirius. Sie hatte mit ihm nicht jahrelang die vertrauten Gänge von Schloss Hogwarts beschritten, den geheimnisumwobenen Raum der Wünsche aufgesucht oder wagemutig den verbotenen Wald erkundet. Er hatte sie nicht sterbend in seinen Armen gehalten und sie hatte nicht fieberhaft sein Leben retten müssen. Sie hatten nicht aufgeregt nebeneinandergelegen, in den sternenübersäten Himmel geblickt und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt.
Ein tiefer Seufzer entfuhr ihrer Brust und sie strich sanft über die edlen Tasten des kostbaren Instruments. In dem Moment hörte sie wie die schwere Tür geöffnet wurde und im nächsten Augenblick flammte die grelle Studiobeleuchtung auf und brannte ihr schmerzhaft in den Augen.
„Anne, du bist ja schon da", rief Hector erstaunt aber durchaus nicht unerfreut.
In ihrer grenzenlosen Verzweiflung war sie vor ein paar Tagen sang- und klanglos von zu Hause aufgebrochen und unangekündigt vor seiner Tür gestanden. Wie ein Häuflein Elend war sie heulend in seine Arme gesunken und hatte ihn angefleht, sie aufzunehmen. Keinen Moment hatte er gezögert. Wohl hatte sie ihm im Jahr zuvor brüsk und unerwartet die Zusammenarbeit aufgekündigt, aber er hatte schon damals geahnt, dass sie sich von unstillbaren Zweifeln und Ängsten getrieben selbst ins Unglück verbannen würde, doch hatte er sie auch mit seinen eindringlichsten Worten nicht aufzuhalten vermocht. So war er einfach nur erleichtert und froh, dass sie zur Besinnung gekommen war und trug ihr die unbedachte Lossagung in keinster Weise nach, im Gegenteil war er glücklich, die verlorene Schwester endlich wieder bei sich zu haben.
Als er nun jedoch ihre tieftraurige Miene bemerkte, kam er besorgt näher. „Was ist denn los? Ist etwas passiert?"
Sie schüttelte bedrückt den Kopf, sagte aber nichts. Weil er ahnte, welcher Seelenkummer sie plagte, setzte er sich neben sie auf die Klavierbank, wo sie sich vertrauensvoll an seine Schulter schmiegte und er tröstend seinen Arm um sie legte.
„Was stimmt nur nicht mit mir, Hector", klagte sie wehmütig und er lachte auf.
„Ich würde sagen, du hast Liebeskummer. Mehr als je zuvor", stellte er treffsicher fest und sie verzog unwillig das Gesicht.
„Es fühlt sich furchtbar an, ich will das nicht haben", murrte sie unzufrieden wie ein kleines, bockiges Kind.
„Hm, frag mich einmal", seufzte er und grinste schief.
„Was? Hast du denn auch Liebeskummer?"
„Cassandra hat die Scheidung eingereicht."
„Oh nein!" Ungläubig starrte sie ihn an. Sie hatte wieder nur an ihr eigenes Unglück gedacht und die Sorgen ihrer Freunde aus den Augen verloren. Was war sie nur für eine schlechte Freundin.
Unglücklich lehnte sie die Stirn gegen seine Brust und stöhnte entmutigt auf.
Er legte lächelnd seine starken Arme, die heute zur Abwechslung mal in einem ordentlichen Pullover steckten, um sie und drückte sie tröstend an sich.
„Halb so wild. Ich hab eh keine Zeit für eine Frau", meinte er lapidar. Er konnte nicht sehen, wie sie die Augen verdrehte, aber er konnte es sich einwandfrei vorstellen und musste darüber amüsiert schmunzeln. „Ich weiß, was du denkst. Aber im Gegensatz zu dir, bin ich nicht fremdgegangen. Ich hab wirklich keine Zeit. Deshalb hat Cassandra mich verlassen."
Sie warf ihm einen wissenden Blick zu und korrigierte ihn streng: „Oh doch, du hast deine Frau betrogen. Du hättest sie niemals heiraten dürfen, denn du bist schon mit deiner Musik verheiratet!"
Erstaunt hob er die Augenbrauen. „Was für eine Erkenntnis! Sprichst du da aus eigener Erfahrung?"
„Ich war nie verheiratet", erwiderte sie schulterzuckend. „Und verlieben wollte ich mich auch nie, das ist einfach so passiert."
Nun war es an ihm, mit den Augen zu rollen. „Oh Mann! Wann hörst du endlich auf zu glauben, dass alles im Leben so laufen muss, wie du es geplant hast?!"
„Ts", prustete sie aufgebracht. „Was ist in meinem Leben schon jemals so geschehen, wie ich das geplant hatte? Ich habe doch nicht mal geplant!"
Schamlos lachte er sie aus. „Werd erwachsen, Anne! Die Dinge passieren nun mal nicht so, wie wir sie gerne hätten. Wir merken erst, was wir haben, wenn wir es verlieren. Geh nach Hause und kämpf um dein Glück", trug er ihr kurzerhand auf, erhob sich und trat schlurfend den Weg zum Mischpult im Technikraum an.
„Ich fürchte dazu ist es zu spät", seufzte sie leise und begann ihre Finger warmzuspielen.
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