30. Kapitel - Der schwarze Retter
Anne hatte sich auf einem halbwegs trockenen Flecken Boden zusammengerollt, um der unbarmherzigen Kälte zu trotzen.
Ihren Zauberstab hielt sie fest umklammert zwischen ihren annähernd gefühllosen Händen. Er nutzte ihr nichts, hier in ihrem kalten, dunklen Gefängnis. Kein Funken Magie war hier möglich. Voldemort hatte die kahlen, steinernen Wände, die bedrohlich neben ihr aufragten, mit Bedacht gewählt und die schmale Felsspalte, in der sie sich befand, gegen jeden erdenklichen Zauber abgesichert.
Kein Feuer. Kein Wasser. Kein Licht.
Kein Entkommen.
Nicht dass es an Wasser gemangelt hätte. Bis auf das kleine trockene Fleckchen, auf dem sie sich schließlich niedergelassen hatte, war der felsige Boden knöcheltief mit eiskaltem Meerwasser bedeckt. Wo es herkam konnte sie nicht feststellen. Zwar hörte sie ganz deutlich das Rauschen der Gischt, aber nur gedämpft und weit entfernt. Um sie herum gab es nichts als Dunkelheit. Undurchdringliche Schwärze.
Zwei Mal war der kahle Fels durch ganz schwachen Lichtschein, der von oben durch etwas fiel, das sie als Gitter vermutete, von Schwarz zu Dunkelgrau erhellt worden. Zwei Mal. Zwei Tage war sie also hier. Ihr Magen knurrte erbarmungslos und die ausgetrocknete Zunge klebte ihr am Gaumen. Schlimmer als Durst und Hunger war nur die Kälte, die ihr die Glieder lähmte. Die Angst vor der beengten Dunkelheit hatte sie zunächst in schweißtreibende Panik versetzt. Inzwischen jedoch war der Punkt überwunden und sie konzentrierte sich ausschließlich noch darauf regelmäßig ein- und auszuatmen.
Sie wusste, dass er sie hiermit bestrafte.
Er hatte alle ihre Forderungen klaglos erfüllt, nur um in ihren Besitz zu gelangen. Und dann hatte sie sich ihm unverfroren widersetzt. Sie hatte vor seinen Augen ein Dämonsfeuer auf seine treuesten Anhänger gehetzt. Ein mächtiges, höllisches Dämonsfeuer! Mit grimmiger Genugtuung dachte sie daran, dass sie mindestens zwanzig Todesser damit erwischt haben musste, bevor er sie mit eisernem Griff gepackt hatte und mit ihr disappariert war.
Bestimmt hatten auch seine wichtigsten Untertanen die Flucht geschafft. Aber sein niederes Fußvolk, der Abschaum, der ihm die Füße küsste, den hatte sie ausgelöscht!
Sie waren allein gewesen, als sie an diesem dunklen Ort angekommen waren. Wahrscheinlich wusste keiner seiner Gefolgsleute, wohin er sie gebracht hatte. Wo er sie lebendig begraben hatte.
Und nun bestrafte er sie.
Aber lange würde es nicht mehr dauern. Dazu war er viel zu ungeduldig. Sie wusste es. Denn sie war selbst genauso. Das war die erschreckende Erkenntnis, die sie nach und nach hier drin heimsuchte. Er war wie sie und sie war wie er. In so vielen Dingen!
Nachdem er den Schock überwunden hatte, den sie ihm mit der Ermordung zahlreicher Anhänger beigefügt hatte, war der Ausdruck auf seinem Gesicht etwas anderem gewichen. Lange hatte sie darüber nachdenken müssen. Aber jetzt wusste sie, was er gefühlt hatte.
Stolz.
Stolz auf eine Tochter, die ihm eine astreine Kostprobe machtvoller schwarzer Magie abgeliefert hatte. Sie konnte, was er konnte. Und jetzt glaubte er, sie auf seine Seite ziehen zu können. Vielleicht musste sie ihre Waffen neu sortieren ...
Sie wusste, was er bezweckte, indem er sie hier tagelang sich selbst überließ. Er wollte sie weder töten noch verletzen. Er sah sie als seinen Besitz an. Und wie Dumbledore schon festgestellt hatte, wollte er seinen Besitz auch benutzen. Aber dazu musste dieser nach seinem Willen funktionieren.
Und das tat sie nicht. Noch nicht.
Anne war sich im Klaren darüber, dass das hier nur der Anfang war. Wenn er sie hier herausholte, wäre sie entscheidend geschwächt. Ein krankes, schwaches Opfer war viel leichter zu brechen als ein starkes, gesundes.
Was wenn sie so tat, als würde es ihm gelingen?
Schon seit zum letzten Mal das schwache Licht verschwunden und völliger Dunkelheit gewichen war, kehrte dieser Gedanke wieder und wieder zu ihr zurück.
Was wenn sie ihn täuschen konnte?
Sie könnte in seine tiefsten Geheimnisse eindringen. Seiner Tochter würde er alles zeigen. Alles verraten. Sie hätte die ultimative Möglichkeit, ihn zu vernichten!
Aber der Preis dafür war unbezahlbar.
Ihr Vater war schließlich weder dumm noch leichtgläubig. Er würde für sein Vertrauen ein teures Unterpfand verlangen. Und sie fürchtete sich vor sich selbst, als sie sich mühelos vorstellen konnte, was sein Preis wäre, weil sie genau dasselbe fordern würde.
Das Leben ihrer Freunde.
Und da war sie, die Sackgasse. Eher würde sie in diesem Loch elend verhungern, bevor sie diesem Ungeheuer ihre Liebsten opfern würde!
Plötzlich schreckte sie hoch. Etwas war anders. Ein zaghafter Lichtschein drang kaum sichtbar von oben herab. Und doch zeichnete sich das rostige Gitter am Einstieg dieser verwünschten Felsspalte ganz deutlich gegen den dahinterliegenden schwachen Schein ab. Das war nicht das Licht, das sie die letzten Tage erreicht hatte. Kein Tageslicht. Jemand war hier. Sie konnte ganz leise Stimmen vernehmen. Zwei verschiedene.
Ihr Herz machte einen holprigen Satz und klopfte in atemberaubender Geschwindigkeit bis zum Hals. Sie war noch nicht bereit! Sie hatte all die Zeit mit nutzlosen Gedanken verplempert und sich keine Strategie bereitgelegt, mit der sie ihrem Schöpfer gegenübertreten wollte.
Panische Angst befiel sie. Angst vor Folter und Schmerz, die ihr bevorstanden. Angst vor Vergeltung. Angst um Sirius und Lily und all die andern. Beinahe hätte sie das leise Rufen überhört.
„Anne? Anne!" Eine entfernt bekannte Stimme zischte ihren Namen. Sie war kaum von den Geräuschen des tosenden Meeres und der rauschenden Gischt draußen zu unterscheiden. Das war nicht Voldemorts Stimme.
Mühsam erhob sie ihre steifen Glieder von dem schlammigen Boden. Sie fürchtete schon, zu halluzinieren, als sie die Stimme erneut vernahm.
„Anne?"
„Wer ist da?", rief sie wachsam hinaus und dann nahm sie einen kurzen Lichtblitz und ein Knacken wahr, als das Gitter über den kahlen Felswänden nach oben geklappt wurde. Ein schwarzer Schatten beugte sich herunter.
„Gib mir deine Hand!"
Sie zögerte nicht lange, reckte sich nach oben und ergriff die Hand, die ihr entgegengereicht wurde. Ihr unbekannter, schwarzer Retter zog sie mit aller Kraft hinauf und half ihr auf die Füße. Als sie endlich wieder auf trockenem Boden stand, sah sie ihm ins Gesicht. In der Dunkelheit war kaum etwas zu erkennen. Er war ein kleines Stück größer als sie und hatte dunkles Haar. Seine Augen funkelten geheimnisvoll und sein Atem formte zitternde kleine Dampfwölkchen in der kalten Luft. Plötzlich wusste sie, wer da vor ihr stand.
„Regulus!"
„Schhh ... Wir müssen hier weg!" Er zog sie am Ärmel mit sich und sie bahnten sich einen holprigen Weg zum Ausgang.
„Kannst du schwimmen?", fragte er sie unvermittelt.
„Wie bitte?"
Er wurde ungeduldig. „Kannst du schwimmen?!"
„Ja, kann ich. Aber warum ...?"
„Auch im Meer? Bei Wellengang? In echt kaltem Wasser?"
„Keine Ahnung, hab ich noch nie versucht ..."
„Anne", fuhr er herum. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Witze!"
„Wofür ist es dann der richtige Zeitpunkt?", keifte sie bissig, entriss ihm ihren Arm und blieb stehen. „Zu sterben? Oder gefoltert zu werden? Bringst du mich jetzt zu ihm? Damit er mich weiterquälen kann? Weil ich nicht tun werde, was er mir befiehlt ..."
Er blieb ebenfalls stehen und sah sie entgeistert an.
„Fuck", rutschte es ihr heraus, als sie seine abgrundtiefe Angst erkannte. „Er weiß nicht, dass du hier bist!"
Seine dunklen Augen blitzten entschlossen. Erneut packte er ihre Hand und zog sie energisch mit sich, in Richtung eines scharf gezackten, felsigen Höhlenausgangs.
„Wie hast du mich gefunden?"
„Ich habe meine Quellen", erwiderte er kurzangebunden. Sie war nicht die einzige, die den Stellenwert zufriedener Hauselfen erkannt hatte.
„Und warum hilfst du mir?", wollte sie daraufhin wissen und er zögerte einen Moment, bevor er angespannt innehielt und erklärte: „Er ist grausam und verrückt. Jemand muss es beenden. Jemand muss ihn aufhalten. Du kannst es vielleicht. Jedenfalls scheint er das zu glauben, sonst würde er dich nicht so verbissen suchen. Seit er dich erwischt hat, ist er ganz aufgeregt und wartet ungeduldig darauf, wann du endlich ihm gehörst. Kein Mensch weiß, was er damit meint! Aber du musst etwas haben, das ihm Angst macht."
„Ich fürchte, das ist nicht der Grund dafür", erwiderte sie kalt und stieß ihn damit vor den Kopf. Verständnislos sah er sie an.
„Wieso auch immer. Ich glaube, dass du es tun könntest", sagte er trotzdem.
Ungläubig empfing sie seine Worte, die wie kalter Rauch unangenehm in der Luft flirrten.
„Versprich mir, dass du es versuchen wirst! Du musst es mir versprechen!", verlangte er drängend. Starr vor Schreck stand sie vor ihm und reagierte nicht.
„Du bist der einzige Mensch, der jemals wirklich an mich geglaubt hat", gestand er ihr da und tiefste Trauer erklang aus seinen Worten. „Ich habe es nur zu spät erkannt. Und ich hatte niemals den Hauch einer Chance gegen Sirius."
„Glaub mir, Sirius hat damit keinen Vorteil gewonnen", sagte sie leise und hartherzig. Irritiert sah er sie daraufhin an und auf einmal wurde sein trauriger Blick ganz sehnsüchtig.
„Aber dich", sagte er bebend und gab ihr einen Kuss auf den Mund, schüchtern und zärtlich. Behutsam. Er schmeckte wie ein frischer Morgen im Wald. Erdig und süß zugleich. Mit einem Hauch von salzigen Tränen. „Wenigstens einmal in meinem Leben musste ich das tun", sagte er erleichtert lächelnd und sah ihr in die verwirrt dreinblickenden Augen.
Der Nachhall seiner Worte und die fliehende Wärme auf ihren Lippen fesselten sie an Ort und Stelle. Doch im nächsten Moment schob er sie unbarmherzig weiter.
„Du musst jetzt schwimmen. Etwa hundert Meter vor der Höhle gibt es einen Felsen. Von dort kannst du apparieren."
„Kommst du nicht mit?" Ihre Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen.
Er schüttelte den Kopf. „Kreacher wartet drinnen auf mich. Ich habe noch eine Aufgabe zu erledigen. Er hat Abscheuliches getan. Er hat etwas so Dunkles erschaffen, wie wir alle es uns nicht vorstellen wollen. Ich werde es zerstören. Und wenn es das Letzte ist, was ich tue."
„Was?", rief sie entsetzt. Sie waren am Höhlenausgang angekommen und sie musste gegen das laute Meeresrauschen anschreien. „Lass mich dir helfen", drängte sie ihn und wollte zurück in die Höhle, aber er schüttelte entschlossen den Kopf und hielt sie fest.
„Nein, das ist meine Aufgabe. Lass mich einmal im Leben etwas Mutiges tun!"
„Aber ..."
„Töte ihn, Anne", trug er ihr auf und streichelte sanft über ihre Wange, während der ruppige Wind heftig an ihren Haaren zerrte. „Sorg dafür, dass ich nicht umsonst sterbe. Nur du sollst davon wissen!"
„Nein, Regulus ..."
„Leb wohl", rief er mit Tränen in den Augen und gab ihr einen unerwartet kräftigen Stoß, so dass sie von der Klippe in die kalten Fluten stürzte und in der tosenden See versank. Er sah ihr nicht hinterher, sondern verschwand sofort allein ins Innere der Höhle.
Prustend und zitternd tauchte sie wieder auf und begann ihn laut zu verfluchen, während sie, so schnell sie es bei dem stürmischen Wellengang vermochte, wieder an Land zurückkletterte und ihm nachrannte. Aber er hatte den Durchgang, den sie zuvor passiert hatten, verschlossen und sie fand keinen Weg durch den Fels, so sehr sie auch suchte und gegen den kalten Stein anschrie. Schließlich wurden ihre Finger vor Kälte ganz taub und sie musste verzweifelt aufgeben. Weinend lehnte sie sich gegen den undurchdringlichen Felsen und dachte daran, wie Regulus Leben verschwendet worden war, weil er stets von grausamen Menschen gelenkt worden war.
Zuerst von seinen unbarmherzigen Eltern, dann von seinen brutalen Mitschülern und schließlich von Voldemort und seinen gnadenlosen Todessern. Wäre er auch nur ein kleines bisschen geliebt worden, müsste er jetzt nicht einen Heldentod sterben, von dem niemand jemals erfahren würde. Erneut verfluchte sie ihren Vater für all das grenzenlosen Unglück, das er über die Menschen brachte.
Das Herz voller Rachegedanken, umfangen von flüssiger Eiseskälte, die langsam und stetig an ihrer Haut herabtropfte und ihr das letzte Quäntchen Gefühl zu rauben drohte, verwandelte sie sich in ihren Animagus und flog mit dem heulenden Wind auf und davon, in der Hoffnung, den langen Weg nach Hause trotz der ewig scheinenden Dunkelheit zu finden.
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