19. Kapitel - Hector
Ihr Blick war an der Blumenvase hängengeblieben. „Das ist Murano-Glas“, sagte sie unvermittelt. „Es stammt von einer Insel in der Lagune von Venedig. Mein Vater hat von jeder Reise ein neues Stück mitgebracht. Er sagte immer, nirgends sei das Essen besser, die Menschen lebenslustiger und die Kunst vollendeter, als in Italien. Als Kind versprach er mir, eines Tages mit mir Pinocchio in der Toskana zu besuchen“, erzählte sie und ein kindliches Strahlen erfüllte ihre traurigen Augen.
„Wer ist Pinocchio?“
„Eine Märchenfigur der Muggel.“ Sie stand auf, ging zur Glasvitrine an der Wand und entnahm ihr ein kleines, kunstvoll gearbeitetes Holzpüppchen, das sie Sirius in die Hände legte. „Eine kleine, ungezogene Holzpuppe, die gerne ein richtiger Junge sein wollte. Mit jeder ausgesprochenen Lüge wurde seine Nase ein bisschen länger. Und er hat viel gelogen …“
Er lachte und ein verklärtes Lächeln trat auf ihr Gesicht, als sie in ihren Kindheitserinnerungen schwelgte. Sirius beneidete sie um die Zuneigung, die sie von ihrem Ziehvater empfangen hatte. In seinem Elternhaus hatte es nichts dergleichen gegeben. Die Geschichten seiner Kindheit waren allesamt erfüllt von Hass, Neid und Dunkelheit.
„Wir haben es nicht nach Italien geschafft...“, stellte sie wehmütig klar.
Da reifte eine spontane Idee in ihm.
„Was hält uns davon ab, das nachzuholen?“
„Was?“, blickte sie verwundert auf.
Er war geradezu begeistert von seiner Eingebung und rüttelte sie sanft an den Schultern. „Wir haben keine Verpflichtungen im Moment, richtig? Wir beide könnten nach Italien fahren!“
Sie starrte ihn entgeistert an. Er strahlte förmlich und entlockte ihr damit ein ungläubiges Lächeln.
„Du bist verrückt“, kicherte sie, aber der Funke war bereits übergesprungen.
„So verrückt, wie das Mädchen, in das ich mich einmal verliebt habe“, schwärmte er. „Stell dir nur vor: sie wollte, dass ich auf einem Hippogreif fliege...“
Sie grinsten bei der Erinnerung an ihren ersten gemeinsamen Ausflug, bei dem aus Feindschaft eine zarte Freundschaft erwachsen war, die später in leidenschaftliche Liebe übergegangen war.
„Wirklich, sie hat nicht alle Zweige am Besen, dein Mädchen, in der Tat“, schmunzelte Anne und er nahm sie zärtlich in den Arm.
„Lass uns nach Italien fliegen. Gleich morgen“, flüsterte er ihr verwegen ins Ohr.
„Nicht morgen“, lehnte sie ab. „Da kommt Hector zu uns.“
Er seufzte theatralisch.
„Aber gleich danach“, versicherte sie ihm lächelnd.
***
Hector stellte bei seinem Besuch am nächsten Tag sofort zufrieden fest, dass eine Woche Heimaturlaub mit Sirius mehr bewirkt hatte, als die ganzen letzten drei Monate. Anne lachte wieder, sie erzählte, sie scherzte sogar! Er liebte die Atmosphäre auf Maple Court und war wieder einmal beeindruckt von dem altehrwürdigen Anwesen. Es war keinesfalls mit seinen Häusern in den USA zu vergleichen, dort war alles pompös, neu und modern, aber auch steril und gesichtslos, während hier aus jeder Ecke Geschichten sprachen.
Zum Lunch servierte Marianne gebackenen Fisch und er war von ihren Kochkünsten grenzenlos begeistert, was er ihr auch überschwänglich kundtat, woraufhin sie feuerrot anlief und grinsend zu Boden blickte. Zu Hause ernährte er sich zwischen der vielen Arbeit nur von Fastfood oder Sandwiches. Hier schmeckte es ihm so gut, dass er sogar zweimal nachlegte, was Marianne mehr erfreute als seine großspurigen Lobgesänge.
Als er satt und fertig war, lehnte er sich genüsslich zurück und ließ den Blick über die Wände des feudalen Esszimmers schweifen.
„Es ist wirklich schön in Maple Court“, beteuerte er und sah Anne an, die sich sehr über sein Urteil freute. „Und es tut dir gut hier! Du solltest ruhig noch eine Weile bleiben“, riet er ihr.
„Nun, eigentlich planen wir als nächstes eine Reise nach Italien“, verkündete Anne mit kindlicher Freude und Hector war positiv überrascht. Kaum hatte sie wieder gesunde Farbe im Gesicht, machte sie schon Zukunftspläne!
„Italien! Wohin genau? Rom? Venedig?“
„Ich dachte da eher an Florenz.“
„Ah, Florenz. Versprich mir, dass ihr einen Ausflug nach San Gimignano macht. Die mittelalterliche Stadtmauer und die alten Bauten dort sind faszinierend.“
Sie strahlte ihn an. „Du warst schon dort!?“
Er lächelte. „Man kann nicht oft genug nach Italien reisen.“
Sie warf Sirius einen freudigen Blick zu und er bemühte sich, ihn zu erwidern. Es war ihm unangenehm wie eh und je, wie vertraut und liebevoll der Umgang zwischen Hector und ihr ablief. Hector bemerkte seinen Unmut und so sehr er es genoss, Sirius ungebändigte Eifersucht anzustacheln, beschloss er doch, ihn heute nicht leiden zu lassen.
„Ich werde morgen nach Hause zurückkehren. Cassandra musste lang genug auf mich warten.“
„Richte ihr schöne Grüße von mir aus“, trug Anne ihm auf. „Es tut mir sehr leid, dass sie wegen mir zwei Konzerte verschieben musste.“
„Die werden wir nachholen, mach dir keine Sorgen“, grinste Hector und lauerte, bis es endlich neugierig aus Sirius herausplatzte: „Wer ist Cassandra?“
Hector warf Anne einen amüsierten Blick zu, aber sie verzog keine Miene. Sie hatte nichts berichtet. Sie hielt es nicht für wichtig, solche Dinge zu erzählen. Sie hatte einfach keine Ahnung von ihrer Wirkung auf Männer und von dem ständigen Konkurrenzkampf, den sie damit entfachte.
„Cassandra ist meine Frau“, verkündete er glucksend und Sirius musste erst einmal ungläubig schlucken.
In diesem Moment wurde Anne von Marianne aus dem Zimmer und zu einem Telefongespräch gerufen und die beiden Männer blieben allein zurück. Sirius legte sein Besteck beiseite und starrte verlegen auf seinen Teller, während Hector ihn neugierig taxierte.
„Du bist also verheiratet“, sagte er nach einer Weile in die Stille hinein.
Hector grinste. „Schon fast ein ganzes Jahr.“
Mit einem tiefen Seufzer warf Sirius die Serviette, die auf seinen Schenkeln gelegen hatte, weil Anne darauf bestand, dass sich das beim Essen schickte, neben seinen Teller. „Und ich hätte schwören können, ihr habt eine Affäre...“
Hector lachte in sich hinein. „Ganze fünf Tage“, sagte er ohne jedes Bedauern. „So lange habe ich mir Chancen bei Anne ausgerechnet. Damals vor drei Jahren in Hogwarts. Dann hat sie mir von dir berichtet und meine Illusionen zerplatzen lassen wie Seifenblasen“, beschrieb er blumig und zeichnete Kreise in die Luft.
Stirnrunzelnd sah Sirius ihm zu.
„Interessant, dass sie dich abgewiesen hat, kurz danach aber Alain, den Franzosen geküsst hat, findest du nicht?“
„Pah! Wie lange willst du ihr das noch vorhalten? Hast du nie eine andere geküsst?“, wies Hector ihn zurecht.
Sirius schwieg. So hatte er das noch nicht betrachtet...
Aber Hector ließ ihn nicht lange nachdenken.
„Alain Pinot ist der feinste Kerl, den ich kenne. Er könnte es wohl, aber er wird dir Anne nicht abspenstig machen, so lange er das Gefühl hat, dass du sie glücklich machst. Er war kaum sechzehn, als er sich unsterblich in sie verliebt hat. Um sie dann ein Jahr später wiederzusehen und festzustellen, dass er zu spät gekommen war ... Alain und Anne haben sich schon lieben gelernt, als sie dich noch für einen unausstehlichen Idioten hielt. Aber entschieden hat sie sich dennoch für dich. Keiner der anderen hat das verhindern können.“
„Der anderen? Du meinst, es gibt noch mehr?“, schreckte Sirius auf und schaute entsetzt drein.
„Nur eine. Aber sie kann dir nicht gefährlich werden, dafür hat dein Freund bereits gesorgt, als er Annes größte Liebe geheiratet hat.“
Diese Enthüllung verwunderte Sirius.
„Aber das ist doch etwas ganz anderes“, erwiderte er halbherzig. „Lily ist ihre beste Freundin!“
Hector sah aus, als wüsste er mehr dazu, aber er behielt Annes und Lilys Kuss im Badezimmer der Vertrauensschüler und dessen Wiederholung am schwarzen See lieber für sich.
„Umso besser, wenn du das so siehst“, meinte er nur lapidar und zuckte mit den Schultern. „Weißt du, im Herzen ist Anne immer noch ein kleines, naives Kind. Sie verschenkt ihre Liebe ganz bedingungslos. Wenn du es richtig anfängst, tut sie alles für dich“, sprach er weiter und sah Sirius forschend ins Gesicht.
„Hört sich an, als wolltest du mich geradezu anstiften“, erwiderte der flapsig.
Hector hob jedoch die Augenbraue. „Glaub das bloß nicht. Sollte mir jemals zu Ohren kommen, dass du diesen Umstand zu ihrem Nachteil auszunutzen versuchst, bekommst du mächtig Ärger mit mir!“
Nun war es an Sirius, ihn aus zusammengekniffenen Augen skeptisch anzublicken. Hector wich ihm nicht aus. Schließlich senkte er den Blick und nickte seufzend. „Ich versteh schon. Aber - ebenso wenig wie ich - wirst auch du sie nicht vor allem beschützen können...“
„Ich weiß, wer sie ist. Und was sie tun zu müssen glaubt“, stellte Hector sogleich klar.
„Sie hat es dir gesagt?“, fragte Sirius ungläubig. „Wieso weißt du all diese Dinge? Wieso weißt du ständig so viel mehr als ich?!“
Hector schmunzelte anzüglich. „Ich würde jetzt gerne behaupten, dass ich ihr die richtigen Fragen stelle, weil ich weniger Zeit für andere Gemeinsamkeiten aufbringen muss ...“, scherzte er, wurde aber gleich wieder ernst. „Aber das würde der Situation nicht gerecht, in der wir den Großteil unserer gemeinsamen Zeit verbracht haben. Im St. Mungo Hospital für magische Krankheiten und Verletzungen.“ Er spie den Namen mit einer Verachtung aus, die Sirius hellhörig machte.
„Diese Erfahrung bringt einen zusammen wie ein Dauerklebefluch.“
„Sie weigert sich, mit mir über diese Zeit zu sprechen“, berichtete der bedauernd. „Alles was sie mir dazu sagen will, ist, dass sie es ohne Annabel und dich nicht geschafft hätte. Und dass sie, mit Ausnahme von Alastor Moody, für die Auroren des Ministeriums nichts als Verachtung übrighat.“
„Das kann man ihr nicht verdenken. Sie hat unter ihren Misshandlungen schwer gelitten.“
Sirius verzog schmerzvoll das Gesicht. „Ich wünschte, sie würde mir davon erzählen. Mich ihr helfen lassen, so wie dich.“
„Ich konnte ihr niemals helfen, Sirius“, antwortete Hector leise und bedrückt und starrte dabei vor sich hin. „Dass sie nicht aufgegeben hat, war allein Annabels Verdienst. Ich weiß nicht wie, aber sie hat dafür gesorgt dass Anne es täglich aufs Neue versucht hat. Selbst wenn sie jede Nacht ein Stück mehr zerbrochen ist.“
Und dann begann er zu erzählen. Davon, wie er vom Stationsleiter das Zimmer neben Anne bekommen hatte, weil niemand anderes dort hatte schlafen wollen. Wie er jede Nacht ihr verzweifeltes Weinen und regelmäßig ihre Schreie gehört und wie er sie jeden Morgen aus ihrer demütigenden, schmerzvollen Lage befreit hatte. Wie sie täglich ihre Verletzungen versorgt und sie dann den Vormittag über schlafen lassen hatten. An guten Tagen hatte sie nachmittags aufstehen und spielen können. An den schlechten hatte er sich zu ihr ans Bett gesetzt und sie hatten einfach nur geredet. Aus der Not heraus hatte sie ihm ihre ganze Geschichte anvertraut. Jede Einzelheit. Schonungslos. Ehrlich. Bis die Tortur dann jeden Abend von Neuem begonnen hatte.
Sirius hing geradezu an seinen Lippen.
„Zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens durfte niemand zu ihr. Nicht einmal die Heiler der Station. Nur die Auroren der Nachtschicht. Und was das Ministerium da für Typen geschickt hat! Einer roher und gröber als der andere. Sie haben sie ans Bett gebunden, wie ein Stück Vieh. Abends wurde ich unter Drohungen aus dem Zimmer geworfen. Sie hat sich nicht von mir helfen lassen ... Sie hat sich vor mich hingestellt und den Arschlöchern die Hände gereicht, damit sie sie anketten konnten. Hast du schon einmal versucht, mit zusammengebundenen Händen über dem Kopf zu schlafen? Es geht nicht, nach kürzester Zeit werden die Arme taub. Die Schultern, der Rücken, der Nacken, alles wird steif und verkrampft. Nach ein paar Stunden hast du nur noch Schmerzen. Sie muss sich unzählige Male gedreht und gewunden haben. Jeden Morgen waren ihre Handgelenke blutig gescheuert. Dazu kamen die Alpträume, gegen die kein Zaubertrank gewirkt hat. Jede Nacht hat sie weinend an ihren Fesseln gezerrt, bis sie sich sogar die Schulter ausgerenkt hat. So musste sie dann bis zum nächsten Morgen ausharren. Und dann war da noch die seltsame Magie um sie herum, die sie immer wieder angegriffen hat. Wenn sie geschrien oder sich gewehrt hat, wurde sie bestraft. Sie haben sie frieren lassen, Schmerzmittel zurückgehalten oder die Besuchszeit gekürzt. Einmal durfte ich sie den ganzen Tag über nicht losbinden. Alles kleine Schikanen um sie mürbe zu machen. Die Folter war subtil und wirkungsvoll. Nacht für Nacht. Ohne Aussicht auf Besserung.“
Hector stockte in seinem verstörenden Erfahrungsbericht, weil die Stimme ihm versagte. Sirius war es schlecht geworden, so schockierend waren die Bilder, die er in ihm heraufbeschwor.
Tonlos sprach er schließlich weiter.
„Nachdem Murdoch mit seiner Therapie begonnen hatte, wurde es langsam besser. Zumindest hat sie sich dann nicht mehr selbst verletzt. Aber das Ministerium wurde umso aggressiver, bis man schließlich offen versucht hat, den Destruianten gewaltsam von ihr abzutrennen. Als das gescheitert ist, wurde sie abgeführt und weggebracht. Hätte Dumbledore sie nicht herausgeholt, hätte sie dort vermutlich den Verstand verloren ...“
Aufgewühlt begann seine Stimme aufs Neue zu zittern. „Ich konnte ihr nicht helfen. Alles was ich tun konnte, war da zu sein. Für sie zu spielen, wenn sie es vor Schmerzen nicht selbst konnte …“
„Aber das war es, was sie gebraucht hat“, hauchte Sirius mit rauer Stimme, ergriffen von den grauenhaften Schilderungen. „Du warst da, als sie dich gebraucht hat. Weil sie dich gebraucht hat. Während ich sie verlassen hatte ...“, brach es voll bitterer Selbstvorwürfe aus ihm heraus.
„Dann sei jetzt für sie da“, erwiderte Hector ermutigend und versuchte die schrecklichen Erinnerungen beiseitezuwischen. „Fahr mit ihr nach Italien. Lass dich auf sie ein. Gib ihr etwas, wofür es sich zu leben lohnt! Seit Wochen hält sie sich von allen Menschen fern. Sie vertraut niemandem! So kann es nicht weitergehen. Jetzt hast du die Chance, ihr zu zeigen, dass sie sich auf dich verlassen kann - und zwar nicht nur auf dem Schlachtfeld!“
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