Part 168
Zoeys Sicht
Wir sind jetzt schon mehr als eine Stunde unterwegs.
Bisher habe ich die restlichen Schokobons, eine halbe Tüte Maoam Kracher, drei Duplos und fast eine ganze Stange Mentos verdrückt, aber es will immer noch kein besseres Gefühl in meinem Inneren aufkommen.
Eher schleicht sich langsam eine leichte Übelkeit ein, aber das ignoriere ich geflissentlich.
Es könnte natürlich auch daran liegen, dass Leo seit dem zweiten Anlauf von Zuhause wegzukommen, kein Wort gesprochen hat.
Das einzige Zeichen, das mir zeigt, dass mein Nebenmann noch irgendwie lebt, ist, dass er mindestens das doppelte gefuttert hat und ab und zu in einen anderen Gang wechselt.
Ich versuche, unauffällig einen Blick zu ihm zu werfen und sehe alles in seinem Gesicht, nur keine Freude.
Er ist angespannt.
Sehr sogar.
Wenn mich nicht alles täuscht, glänzen seine Augen ein wenig und ihm muss auch leicht übel sein, da sich beim Einatmen seine Nasenflügel etwas weiten.
Die sonst so sanften Züge sind aus seinem Gesicht verschwunden und dem Ernst gewichen, so, wie in dem Moment, an dem schlimmsten Geburtstag seines Lebens, als er mir gesagt hat, dass er seiner Mutter helfen muss und ich unter allen Umständen in seinem Zimmer bleiben muss.
Ich traue mich nicht, ihn anzusprechen, womit ich sonst noch nie ein Problem hatte.
Nicht einmal während unseres größten Streits.
Mir blutet mein Herz aufgrund der Gefühle, die ihn gerade heimsuchen, denn er sollte Freude empfinden und sich nicht mit Angst und Kummer auf das Wiedersehen vorbereiten.
Ich suche schon seit geraumer Zeit nach irgendwelchen Worten, mit denen ich ihm vielleicht ein Lächeln entlocken oder zumindest für ein paar Sekunden auf andere Gedanken bringen könnte.
Mir will aber absolut nichts Passendes einfallen.
Unbeabsichtigt atme ich laut auf und wende mein Gesicht dem Seitenfenster zu, um einen flüchtigen Blick in die anderen Autos zu werfen, an denen wir auf der Autobahn vorbei brettern.
Gerade als ich mir überlege ob ich Musik einschalten soll, durchbricht meine bessere Hälfte die Stille:
"Schon blöd, wenn man Angst hat seine eigene Mutter zu sehen, obwohl die nicht mal schuld an der schlechten Vergangenheit ist, oder?"
Für einen kurzen Moment schließe ich die Augen und schüttle meinen Kopf.
"Nein, ist es nicht. Ihr habt euch letztendlich nur noch inmitten schlechter Situationen gesehen und bisher kein positives Ereignis zusammen erleben können. Ich hätte an deiner Stelle auch wahnsinnige Angst! Willst du nicht eine kleine Pause einlegen und mal frische Luft schnappen?"
Eine Antwort bekomme ich auf meine Frage nicht.
Ich gehe davon aus, dass er einfach weiterfahren und erst anhalten wird, wenn wir an unserem Ziel angelangt sind.
Zu meiner Überraschung fährt er aber nach zwei Kilometer auf die rechte Spur und nimmt die Ausfahrt, die uns zu einem kleinen Rasthof bringt.
Kaum haben wir einen Platz gefunden, um das Auto abzustellen, lässt Leo den Motor verstummen, steigt aus und knallt die Türe zu.
Mir wird speiübel, da ich fast schon mit einem Wutausbruch rechne, aber ich rede mir in Dauerschleife ein, dass ich jetzt stark sein muss.
Für Leo.
Tief durcharmend steige ich aus dem Auto aus und umrunde es, da sich Herr Britz auf der anderen Seite mit dem Rücken gegen die Karosserie gelehnt hat.
Nur ein paar Zentimeter vor seinen Schuhspitzen bleibe ich stehen und sehe, wie eine Träne seine linke Wange hinunter rinnt.
Ich weiß absolut nicht, was ich tun soll.
In mir herrscht totales Chaos, denn ich will ihn nicht einengen, aber auch nicht einfach seinem Schmerz überlassen.
Zum Glück macht es mir Leo ganz einfach, denn er lehnt sich nach vorne, fasst mich mit beiden Händen an den Hüften und zieht mich dicht an seinen Körper.
Unsere Lippen finden sich für ein paar Sekunden lang, was ihn anscheinend wieder etwas lockerer werden lässt.
Im Anschluss legt er seine Stirn gegen meine und schließt die Augen:
"Ich könnte vor Angst im Dauerstrahl kotzen, freue mich aber auch meine Mutter wieder zu sehen. Es ist komisch, so hin und hergerissen zu sein. Was soll ich denn machen?"
"Ich fürchte, dass du dagegen gar nichts tun kannst, außer dieses Treffen jetzt endlich hinter dich zu bringen. Das wird sicher nicht einfach, aber wenn du es nicht machst, dann wirst du immer diese zwiegespaltenen Gefühle haben, wenn du an deine Mutter denkst. Da müssen wir durch!"
"Wir?"
"Natürlich. Wir sind ein Team und stehen das zusammen durch. Ich stehe dir immer zur Seite, das solltest du doch wissen!"
Dass sich jetzt ausbreitende Lächeln auf seinem Gesicht ist nicht erzwungen, sondern zu hundert Prozent ehrlich.
"Weißt du eigentlich, wie sehr ich dich liebe?"
"Zeig es mir doch!"
"Babe... So schnell bekomme ich jetzt garantiert keinen hoch und..."
"Boah, Leo..."
"Hahahaha, war nur Spaß!" Leo schenkt mir darauf einen leidenschaftlichen Kuss, den ein paar Autofahrer mit hupenden Geräuschen kommentieren.
"Lass uns weiter fahren! Ich muss noch in einem Blumenladen einbremsen, wenn wir in München sind und wir haben noch eine weite Strecke vor uns."
"Okay. Dann mal los!" Ich küsse Leo nochmals und steige dann ins Auto ein, damit wir den restlichen Weg hinter uns bringen können.
Der Herr scheint jetzt auch endlich bereit zu sein, sich seine Ohren durch etwas Musik beschallen zu lassen.
Obwohl er immer noch still ist und kaum redet, wirkt sein Gesichtsausdruck nicht mehr ganz so zerknirscht.
In der restlichen verbleibenden Zeit halten wir neunmal an, da der Herr andauernd Angstpipi ablassen muss und ab und an etwas frische Luft braucht.
Dadurch verzögert sich zwar unsere Ankunft um fast eineinhalb Stunden, doch so ist es mir allemal lieber, als wenn er wie ein Gestörter die Straßen lang brettern würde.
Kaum haben wir das Ortsschild Münchens erreicht, zücke ich mein Handy, damit ich Tom Meldung geben kann und er sich keinen Kopf macht, warum das alles so lange dauert:
Ich, 19:46 Uhr
Hi Papa. Wir sind jetzt in München angekommen. Soweit ist alles in Ordnung, nur Leo ist etwas durch den Wind. Wir besorgen noch schnell Blumen und machen uns dann auf den Weg zu Tanja. Tausend Küsse, deine Zoey.
Ich muss selbst schon breit grinsen, als ich das Wort Papa lese und daran denke, wie Tom auf dieses kleine schlichte Wort reagiert.
Langsam aber sicher schleicht sich immer mehr das Bedürfnis ein, Tom so zu nennen und ich weiß ganz genau, dass es ihm sehr viel bedeutet.
Warum es erst jetzt so ist oder gerade jetzt, das weiß ich nicht, aber es fühlt sich einfach richtig an.
"Sollen wir zu dem Blumenladen da vorne?", fragt Leo und unterbricht mich in meinen Gedanken.
"Ja, klar. Da fährt eh gerade einer vom Parkplatz weg, dann müssen wir gar nicht so lange suchen!"
Mein Zeigefinger deutet auf den blauen Peugeot, der ohne Rücksicht auf Verluste in den fließenden Verkehr hineinfährt und für ein kleines Hupkonzert sorgt.
Kaum hat Leo seine Karre geparkt, steigen wir auch schon aus und marschieren in den "grünen Daumen" ein.
"Hast du schon eine Idee, was für Blumen du deiner Mutter mitbringen möchtest?"
Herr Britz wendet sich einer Wand zu, an der lauter kleine Töpfe an einer Halterung hängen und unzählig viele einzelne Blumen beherbergen.
"Eigentlich... Nein..." Leo fährt sich mit der Hand durch seine Haare und nimmt jede einzelne Schöpfung der Natur unter die Lupe.
"Hat sie denn eine Lieblingsblume?", will ich wissen, wobei ich nicht daran glaube, dass er wissen wird, welche Blumen seine Mutter mag.
"Ja, schon. Aber das geht nicht...", kommt es überraschend von ihm, was mich dann doch etwas wundert:
"Wow! Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet. Warum geht es nicht, dass du deiner Mutter ihre Lieblingsblumen kaufst?"
"Weil Erik früher immer mit einer Orchidee nach Hause kam, als Entschuldigung sozusagen, wenn er sie mal wieder verprügelt hatte", sagt er zähneknirschend und ich könnte mir daraufhin selbst eine klatschen.
In Fettnäpfchen treten kann ich wirklich gut.
"Sorry, das war doof!"
"Was denn? Kannst du doch nicht wissen. Schon okay!" Mit einem kleinen Kuss auf meine Stirn verdeutlicht er mir, dass er mir die Frage wirklich nicht übel nimmt und findet genau in dem Moment, als er von mir ablässt, die passenden Blumen:
"Die nehmen wir mit!"
"Sind das nicht solche, die man auf Beerdigungen auf den Sarg stellt?"
"Hahaha. Ja, aber Mama gefallen sie eben so gut.”
"Wenn das so ist, dann nehmen wir sie mit!"
"Gut!" Leo fasst in seine Hosentasche und verzieht dann sein Gesicht.
Hektisch kramt er in beiden vorderen Taschen, um im Anschluss in der linken Gesäßtasche ein paar Geldscheine hervorzuziehen.
"Wo ist mein Geldbeutel und warum habe ich das Geld so lose in der Hose?"
"Wolltest du das vielleicht im Nachhinein in deinen Geldbeutel stecken? Ist doch auch egal, der liegt bestimmt irgendwo im Auto. Jetzt kauf die Blumen und dann abmarsch!"
Herr Britz führt meinen Befehl aus und lässt für seine Mutter einen wunderschönen Strauß fertigen, der einen abnormalen Preis vorzuweisen hat, bei dem mir fast die Augen aus dem Kopf fallen.
Allerdings sage ich keinen Ton, denn er hat Tanja schon ewig nicht mehr gesehen und will ihr bestimmt damit zeigen, dass er sie in all der Zeit nicht vergessen hat.
Ich opfere mich, als wir zum Auto zurückgekehrt sind, als Blumenhalter, da Leo bedenken hat, dass die Schmuckstücke auf der Rückbank Schaden nehmen könnten, wobei ich ja an seiner Stelle mehr Bedenken hätte, wenn ICH die Blumen in den Händen halte. Aber egal.
Das Navi lotst uns in ein etwas ruhigeres Stadtviertel, in dem es sehr viele Mehrparteienhäuser gibt.
Teilweise ist die Gegend etwas heruntergekommen, aber ich denke, dass die Mieten trotz allem immer noch überirdisch hoch sein werden.
Hier gibt es keine Kaufhäuser oder Supermärkte, sondern nur ab und zu einen kleinen Kiosk, an dem man das Nötigste besorgen kann.
Hier würde ich wirklich niemals wohnen wollen, nicht nur weil Martin eine Zeit lang in München Fuß gefasst hatte und irgendwo auch Katrin herum streunt, nein, das Gefühl passt einfach nicht.
Ich denke, dass Leo und ich mal ganz in der Nähe von Tom und vielleicht auch den restlichen Männern wohnen werden.
Eine Trennung mit großer Distanz würde für mich nie in Frage kommen.
"Wir sind da!", flüstert mir Leo zu und parkt sein Auto auf einem der seitlichen Parkplätze auf der Straße.
Genauso wie ich zuvor, mustert er das Mehrparteienhaus und reibt sich nebenher seine schwitzigen Handflächen an seiner Jeans trocken.
Ich gebe ihm ein paar Minuten Zeit, um den nötigen Mut zu sammeln, sich aus dem Auto zu bewegen und schaue mir die vorbeilaufenden Menschen an, die alle ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter machen oder zumindest sehr gestresst aussehen.
"Vielleicht sollten wir langsam rein. Die machen sich sicherlich schon Sorgen, weil wir immer noch nicht da sind!"
Ich stimme meinem Freund mit einem Nicken zu und verlasse als erstes die Karre.
Den Koffer lassen wir vorerst im Kofferraum liegen, denn das Zeug können wir auch später noch hoch schleppen.
Da gerade ein anderer Bewohner den Gebäudekomplex verlässt und uns die Türe offen hält, kommen wir schneller als gedacht in das Innere.
An den Klingelschildern orientierend, arbeiten wir uns bis in den vierten Stock nach oben und treffen dort endlich, unter anderem, auf den Namen Britz.
Als wir vor der Haustüre stehen, wird Leo komplett weiß im Gesicht und einen Moment lang habe ich wirklich Angst, dass er mir hier gleich vom Fleck weg stirbt.
"Atme tief durch!" Ich versuche ihn an eine wichtige Funktion seines Körpers zu erinnern, denn wenn er seinem Organismus keinen Sauerstoff mehr zuführt, könnte das schlecht enden.
"Können wir vielleicht doch wieder nach Hause? Ich glaube, ich bin noch nicht so weit!"
"Doch, du schaffst das! Wenn du jetzt einen Rückzieher machst, dann wirst du es bereuen! Ich bin bei dir und...." Ich kann meinen Satz leider gar nicht mehr vollenden, denn da öffnet sich die Türe und eine braunhaarige Frau kommt zum Vorschein.
Auch wenn ich Tanja nur einmal im schwachen Licht gesehen habe, erkenne ich sie sofort, da Leo ihr verdammt ähnlich sieht.
"Leo", haucht sie ihrem Sohn entgegen, worauf ich sofort einen Schritt zur Seite trete, damit ich nicht im Weg stehe.
Anstatt etwas zu sagen, kullern meinem Freund sofort ein paar Tränen die Wangen hinunter.
Erst nach ein paar zittrigen Atemzügen kann er sein Sprachzentrum aktivieren.
"Hi, Mama. Du siehst gut aus!", krächzt mein Nebenmann und ich stimme ihm im Geheimen zu.
Die einst viel zu dünne Frau hat ein paar Kilo zugelegt und dadurch eine normale Statur erreicht, was sie gleich viel gesünder aussehen lässt.
Anstatt der unschönen farblichen Veränderung, die damals durch Gewalteinwirkung ihr Gesicht verunstaltet hat, ist heute nur ein Hauch von Make Up und Wimperntusche darin vorzufinden.
Diese Frau muss nicht viel tun, um schön zu sein, denn sie ist es von Natur aus.
"Danke, mein Schatz!" Tanjas Stimme klingt auch etwas wackelig und am liebsten würde ich Leo jetzt einen Schubs geben, damit er seine Mutter endlich in die Arme schließt.
"Das ist für dich!"
Er reicht ihr einen Strauß mit Blumen und eine kleine Geschenkbox, die Frau Britz überrascht entgegen nimmt.
"Ich weiß, dass das nicht deine Lieblingsblumen sind, aber..." Leo stockt in seinem Satz, da er den Rest nicht aussprechen möchte, doch Tanja beendet den Satz in einer schönen Art und Weise:
".... aber meine zweitliebsten! Dass du das noch weißt! Sie sind wunderschön. Danke, Leo!"
Mein Nebenmann wischt sich kurz mit seinem Ärmel über das Gesicht und atmet tief durch, da er immer noch so sehr angespannt ist.
Zum Glück führt Tanja dann den Schritt aus, auf den ich die ganze Zeit gewartet habe.
Sie nimmt ihren Sohn in die Arme.
Damit die Umarmung in vollem Maße ausgeführt werden kann, nehme ich Frau Britz die Blumen und das Geschenk ab und lächle ihr einfach entgegen.
Als dann die weiblichen Handflächen den Körper des jungen Mannes fest an sich ziehen, ist es vollends um Leo geschehen.
Er heult Rotz und Wasser, was mir wiederum einen Gänsehautschauer nach dem anderen beschert.
Ich muss mich von den beiden für ein paar Augenblicke abwenden, da ich sonst auch noch heule und das jetzt wirklich nicht sein muss.
Schließlich will ich für Leo stark sein.
"Zoey?"
"Ja?" Ich drehe mich wieder dem Mutter-Sohn Gespann zu und sehe, dass sie die Umarmung aufgelöst haben.
"Heute möchte ich mich dir endlich richtig vorstellen. Ich bin Tanja und ich bin dir so dankbar, dass du zu meinem Jungen hältst und ihn nicht im Stich gelassen hast! Danke."
Anstatt mir die Hand zu reichen, wovon ich eigentlich ausgehe, zieht mich die Gute ebenfalls in eine Umarmung.
"Dafür braucht es keinen Dank. Er musste mit mir auch sehr viel durchstehen und wir werden immer füreinander da sein!"
"Das freut mich. Wirklich! Jetzt kommt aber endlich rein. Ich möchte euch gerne nochmal jemanden vorstellen!"
Ich reiche Tanja ihre Mitbringsel und schnappe mir anschließend Leos Hand, damit wir gemeinsam der nächsten Hürde entgegen treten können.
In dem Wohnzimmer, das gleichzeitig auch als Esszimmer dient, steht inmitten des Raumes ein Mann.
Er ist recht groß, mit Sicherheit einen ganzen Kopf größer als Leo und scheint sportlich unterwegs zu sein, was die leicht muskulösen Oberarme, die nur zur Hälfte von einem T-Shirt bedeckt werden, preisgeben.
Der Brillenträger weist ebenso braune Haare wie Tanja auf und hat einen ziemlich kurzen, gepflegten Bart.
Wenn ich ehrlich bin, würde ich nicht glauben, dass er sich von einer Frau verprügeln lassen hat, aber manchmal trügt der Schein eben.
Leos Hand greift etwas fester nach meiner, während die ganze Anspannung wieder in seinen Körper zurückkehrt.
Auch unser Gegenüber ist nicht so entspannt, wie er gerne sein würde, trotzdem macht er den ersten Schritt:
"Hallo Leonard. Ich bin Marcel!"
Oookay, Fehler Nummer eins...
Nach Nennung des vollen Namens zuckt Leos rechtes Auge ganz kurz.
Obwohl ich ihm ansehe, dass er am liebsten irgendetwas fieses sagen würde, reißt er sich zusammen und reicht dem Freund seiner Mutter die Hand:
"Bitte nur Leo. Freut mich. Das neben mir ist meine Freundin Zoey!"
Nach der knappen Begrüßung lassen die beiden Männerhände voneinander ab und ich ergreife darauf Marcels Hand, die einen sehr festen Druck aufweist.
Da ich damit nicht gerechnet habe, zucke ich ganz kurz zusammen und sorge somit dafür, dass sich Leos Blick sofort böse auf den Herrn gegenüber richten.
Sobald ich ein leises "Hi" von mir gegeben und die Hand wieder losgelassen habe, zieht mich mein Freund ein Stück zurück und stellt sich unverkennbar schützend vor mich.
Marcel merkt natürlich sofort, dass Leo alle Antennen ausgefahren hat und nicht davor zurückschreckt, offensichtlich zu zeigen, dass er seine beiden Frauen beschützen wird, sobald er auch nur irgendeine unüberlegte Handlung tätigt.
Obwohl diese Reaktion aufgrund der Vorgeschichte nachvollziehbar ist, tut mir der Mann auch etwas leid, da er nichts dafür kann, dass Erik so ein Arschloch war.
Tanjas Freund versucht die aufgekommene seltsame Stimmung zu überspielen, was wohl das Beste ist, das er machen kann:
"Vielleicht setzen wir uns alle mal gemütlich hin, mh? Ihr seid bestimmt total erledigt von der Fahrt!"
Während Marcel zu einem der zwei kleinen Sofas läuft, zieht er andauernd seine Hose nach oben.
Es ehrt ihn sicherlich, dass er vermutlich extra wegen Leo auf einen Gürtel verzichtet, aber er hätte dann wenigstens eine andere Hose anziehen können, die nicht bei jedem Schritt den Willen zeigt, die Kniekehlen zu grüßen.
Zum Glück schafft er es ohne weitere Vorfälle auf das Sofa, während Tanja ihre Blumen versorgt und uns etwas zu trinken bringt.
Ihr Sohn bekommt sofort ein eiskaltes Spezi, mit einer Scheibe Zitrone darin, serviert, was die Mundwinkel des männlichen Ablegers sofort in die Höhe wandern lässt.
"Zoey, was möchtest du trinken?", fragt Tanja, während sie wieder den Weg in die Küche aufnimmt.
"Ein Wasser wäre super, danke!"
Marcel möchte weiterhin versuchen einen Draht zu Leo zu finden und beginnt ein Gespräch:
"Deine Mutter hat mir erzählt, dass du in der Schule sehr gut warst. Vor allem in Mathe. Da wundert es mich nicht, dass du in das Finanzwesen... Oh, nein, das..."
Fehler Nummer zwei.
Nachdem er sich mit der Hand durchs Gesicht gefahren ist, korrigiert er schnell seine Aussage:
"Autos. Du Arbeitest als Automechaniker, stimmt?"
Leo bekommt schon einen ganz dicken Hals, der auch bald platzt, wenn der Typ so weiter macht.
Wobei ich fast der Meinung bin, dass er die ganzen Fehltritte nur fabriziert, da er so nervös ist und nichts falsch machen will.
Dass er somit in ein Fettnäpfchen nach dem anderen tritt, war bestimmt nicht geplant.
Da von meinem Nebenmann keine Antwort kommt, redet der Herr einfach weiter:
"Also, ich bin Lackierer. Besser gesagt Fahrzeuglackierer und führe mein eigenes kleines Unternehmen!"
Jetzt hat Herr Britz angebissen und das erkennt man daran, dass sich die Muskulatur rund um seine Augen entspannt.
"Haha, da können sie seinem Auto gleich einen neuen Anstrich verpassen. Der Karre scheint nämlich die Sonne aus dem Arsch! Ups!", platzt es unbedacht aus mir heraus und darum halte ich mir zum Schluss schnell die Hand vor den Mund.
Da hatte ich mich für einen Moment lang wohl nicht unter Kontrolle.
Tanja kommt zwischenzeitlich zurück, stellt mir ein Wasser mit Zitronenscheibe vor die Nase und ihrem Partner eine Tasse Kaffee.
Leo schaut mich total entgeistert an, was mich innerlich die Augen verdrehen lässt.
Als wenn er sonst einen gepflegten Umgangston hätte.
Ich warte schon darauf, dass er mir eine knurrende Botschaft zukommen lässt, doch das einzige, das ich vernehme, ist ein leises Kichern.
Ich schaue mich verwirrt um und sehe Leos Mutter, wie sie sich die Hand vor den Mund hält und leise vor sich hin lacht, während sie neben Marcel auf dem Sofa Platz nimmt.
Je länger ich sie anstarre, desto lauter wird ihr Lachen.
Marcels Gesichtszüge schlagen kurz darauf auch um.
Er versucht sich weiterhin zu beherrschen, doch seine Mundwinkel sind sehr verräterisch, denn die zucken im Dauermodus.
Als Tanja einen ganz komischen quietschenden Laut von sich gibt, ist es um die beiden geschehen und sie lachen lauthals los.
Dieses Gegackere ist sowas von ansteckend, dass ich ebenfalls grinsen muss und Leo auch nicht mehr lange braucht, um sich einem Lachen hinzugeben.
Er sieht zu mir und schüttelt seinen Kopf:
"Du bist so doof! Hahaha. Einem Auto kann gar nicht die Sonne aus dem Arsch strahlen!"
"Sei doch nicht so ein Erbsenzähler. Welcher normale Kerl lässt sich denn bitte auch sein Auto gelb lackieren, mh?"
"Ich habe nicht lackieren lassen, sondern selbst lackiert. Außerdem habe ich dir gesagt, dass das für Marc wesentlich günstiger ist, da Henry die Farbe noch übrig hatte."
Wir verfallen leider unbedacht in unser normales Muster und mein Mundwerk läuft auf Hochtouren:
"Tzzzz, wahrscheinlich hast du nur das Gelb genommen, damit du dein Auto auch wieder findest, nachdem du es irgendwo abgestellt hast und nicht mehr weißt wo das war!"
Leo tut es mir gleich und stichelt natürlich sofort weiter:
"Heiße ich Zoey?"
"Habe ich etwa ein Auto?"
"Gott sei Dank nicht. Wer weiß was du sonst noch alles über den Haufen fahren würdest!"
"Hallo? Falls ich dich daran erinnern darf: Das war Jarons Schuld!"
"Wer saß denn hinterm Steuer?"
Wir schaukeln und wieder dermaßen ins Verderben, dass Marcel im sanften Ton die Bremse reinhauen muss:
"Hey, ihr zwei! Hört auf zu streiten."
Der Klugscheißer neben mir kontert sofort mit meinem Spruch:
"Wir streiten nicht, sondern erörtern Tatsachen!"
"Das ist mein Spruch!"
"Hast du dir den patentieren lassen?"
"Leo, ich schwöre dir, wenn du jetzt weiterhin so zickig bist, dann packe ich mal ein paar Geschichten über dich aus, bei denen du dich in Grund und Boden schämen wirst!"
"Nur zu. Es ist ja nicht so, als ob du mir in irgendetwas nachstehst."
Herr Britz streckt mir die Zunge raus, versucht mich aber anschließend mit einem Griff nach meiner Hand zu besänftigen, da er anscheinend keine Lust hat, seine Fehltritte hier zu offenbaren.
"Da ist er ja, mein Leo. Ich hatte schon Sorge, dass du eine Wesensveränderung erlitten hast. Ihr müsst euch nicht zusammenreißen und könnt so sein wie immer, okay? Meinen ernsten, erwachsenen Sohn kenne ich schon viele Jahre, aber ich möchte auch den anderen, spaßigen kennenlernen!"
Man merkt Tanja sofort an, dass ihr ihr Sohn sehr gefehlt hat und sie die belastende Zeit von damals einfach hinter sich lassen möchte.
“Vielleicht bin ich von Natur aus Ernst und verstehe keinen Spaß!”, sagt Leo und ist bemüht, nicht zu lachen.
“Das glaube ich nicht, mein Schatz. Schon alleine von dem, was mir schon alles zu Ohren gekommen ist, weiß ich, dass ihr gerne Spaß habt und keineswegs so ruhig und zurückhaltend seid, wie ihr euch gerade präsentiert!” Tanja zwinkert uns zu und muss wieder lachen, da Leo und mir fast gleichzeitig die Gesichtszüge entgleisen.
Ich wende mich Leo zu und schüttle meinen Kopf:
“Das schreit nach Rache, sobald er wieder fit ist!”
“Nein, bitte. Hahaha. Ich habe Tom genötigt mir so viel zu erzählen, da ich es so gerne gehört habe, wie ihr euer Leben genießt. Das dürft ihr ihm nicht übel nehmen. Er ist ein toller Mann und ich bin so froh, dass er für euch da ist und er euch das gibt, was ihr verdient habt!” Tanjas Worte schmälern meine Rachegelüster sofort auf ein Minimum, denn sie hat recht.
Tom ist das Beste, was Leo und mir passieren konnte.
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