Part 164
Vor dem Regal mit Wandfarbe angekommen, staune ich nicht schlecht, was es alles für Farbtöne gibt und bin für einen kurzen Augenblick etwas überfordert.
Leo scheint von der Angebotsfülle auch etwas erschlagen zu sein, denn der fährt sich ein paar Mal mit der Hand durchs Gesicht und seufzt leise vor sich hin.
"Kann man euch bei der Entscheidung irgendwie helfen?", will Steffi wissen und schaut uns fragend an.
"Eigentlich haben wir uns im Vorfeld schon auf drei Farbrichtungen geeinigt. Entweder soll es blau, grün oder gelb werden. Wir müssen zwei Zimmer streichen", erkläre ich, während ich schon die blauen Farbtöne mit meinen Augen abklappere und an einem schönen Blaugrau hängen bleibe.
"Leo? Was ist mit diesem Farbton für unser Schlafzimmer?"
Der Genannte zieht einen der Farbeimer aus dem Regal und wirft einen genauen Blick auf den Deckel, da der die genaue Farbintensität wiedergeben soll.
"Gefällt mir. Ist gebongt. Meinst du, es reicht ein Eimer?"
"Wir wollen ja nicht komplett alle Wände streichen...", sage ich leise und ärgere mich, dass wir die Wände nicht ausgemessen haben.
Wobei meine Flächenberechnungsfähigkeiten wahrscheinlich eh für die Katz wären.
"Aber wenn die Wände viel Farbe aufnehmen und wir ein zweites Mal streichen müssen, könnte es schon eng werden!"
Sam boxt seinen Kumpel an der Schulter an und deutet auf die untere Etage des Regals, da dort ein weiterer Behälter mit dieser Farbnuance steht, der wesentlich mehr Inhalt vorzuweisen hat:
"Nimm doch den. Damit solltet ihr eigentlich klar kommen!"
"Cool. Das habe ich gar nicht gesehen." Leo greift nach dem größeren Behältnis und stellt diesen auf dem Boden neben uns ab.
Als nächstes widmen wir uns den Grün- und Gelbtönen.
Dieses Mal tritt Steffi einen Schritt nach vorne und deutet auf einen Eimer:
"Das hier finde ich richtig schön. Es ist nicht zu grell und nicht zu dunkel. Die Farbe strahlt Wärme aus und würde sich sicherlich gut in eurem anderen Raum machen!"
Bevor ich irgendeinen Ton verlauten lassen kann, nickt Leo schon vor sich hin:
"Da kann ich dir nur zustimmen! Was meinst du, Babe?"
"Gefällt mir auch sehr gut. Also dann wird es Safrangelb... Hätte nicht gedacht, dass wir uns so schnell einig werden. Was brauchen wir noch?"
Die beiden Jungs schnappen sich jeweils einen Farbeimer und laufen, ohne mir eine Antwort zu geben, in die Richtung der Pinsel und Farbwalzen.
Steffi steht immer noch da und mustert auch die anderen verschiedenen Farbrichtungen.
"Brauchst du noch was?", frage ich eher aus Anstand als aus Interesse, da ich die Gute jetzt nicht einfach alleine stehen lassen will.
"Wollte nur mal schauen... Ich will demnächst mein Zimmer streichen, da mir die Farben nicht mehr in den Kram passen und ein bisschen Rücksicht sollte ich in dieser Hinsicht auch auf das Baby nehmen und zumindest neutrale Farben nehmen. Mein Zimmer ist sehr groß und darum wird es auf alle Fälle bei mir einquartiert!"
Als ich mich kurz umdrehe, um zu sehen, ob die männlichen Wesen noch in Sichtweite sind, erwische ich Sam doch tatsächlich beim Starren.
Kaum wird ihm das bewusst, dreht er sich blitzschnell weg.
Oh, oh, das sind die gleichen Anzeichen, wie bei Clea damals..
Da bahnt sich definitiv etwas an!
"Du, Steffi?" Eigentlich sollte ich das nicht tun, denn Leo hat ja gemeint, dass das nicht mein Bier sei, aber eine kleine Warnung hat bisher noch keinem geschadet.
"Ja?"
"Ich weiß ja nicht, ob ihr zwei aufeinander steht oder ob ihr es wirklich nur auf Freundschaft abgesehen habt, aber egal was auch immer es wird.... Du darfst Sam nicht verarschen! Er hat das nicht verdient. Er ist ein wundervoller Kerl und hat erst in seiner letzten Beziehung voll eins auf die Fresse bekommen. Also bildlich gesprochen!"
Steffis Gesicht bleibt immer noch neutral, obwohl ich eher mit einer entsetzten oder pissigen Grimasse gerechnet hätte.
"Das mit Clea? Ja, das hat er erzählt!"
Diese Tatsache bringt mich kurz voll aus dem Konzept, da ich nicht damit gerechnet habe, dass er mit Steffi über Clea geredet hat.
"Ähm.."
"Hör zu, Zoey. Gerade sind wir erst dabei, uns kennenzulernen. Ich weiß nicht, ob aus uns etwas wird oder nicht. Mir war und ist es einfach nur wichtig, dass Sam und ich uns gut verstehen, falls er wirklich der Vater sein sollte. Ich zwinge ihn zu nichts, will ihm aber jede Möglichkeit einräumen, die es gibt. Es ist verdammt schwer so ungeplant und jung schwanger zu werden. Natürlich bin ich auch selbst daran schuld, aber ich könnte das Würmchen niemals abtreiben. Für mich ist das jetzt schon ein Mensch, wenn auch nur ein winziger.... Weißt du, Sam ist der einzige, der mir zur Seite steht und für mich da ist. Abgesehen von meiner Mutter und meinem Stiefvater natürlich. Du hast sicherlich von den anderen beiden potenziellen Vätern gehört und denkst zu Recht, dass ich alles genommen habe, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Ganz so ist es aber nicht gewesen... Ich war in den ersten Typ furchtbar lange verliebt. Er hat das mitbekommen und dann mit ein paar Jungs eine Wette abgeschlossen, dass er mich ins Bett bekommt. Vor lauter rosaroter Brille habe ich natürlich nicht gemerkt, dass er mit mir spielt und mit ihm geschlafen. Dafür könnte ich mich bis heute noch Ohrfeigen. Der zweite war eigentlich nur, um dem ersten eins auszuwischen, da die sich kennen und immer so eine Art Wettbewerb zwischen ihnen läuft. Es hat tatsächlich funktioniert, war aber trotzdem keine Glanzleistung. Gebrochene Herzen lassen einen manchmal wirklich dumme Dinge tun. An dem Abend, an dem ich Sam getroffen habe, wollte ich eigentlich nur Party machen und den ganzen Mist vergessen. Allerdings hat der Kerl echt Charme bewiesen und hat mich dermaßen um den Finger gewickelt, dass ich schwach geworden bin. So kam es also zu drei potenziellen Vätern. Die ersten beiden wollen mich immer noch zu einer Abtreibung überreden und haben mir sogar Geld geboten. Tja..."
Nach dieser wirklich aufschlussreichen Erklärung bleibt mir fast schon die Spucke im Hals kleben.
Mich beschleicht ein kleiner Hauch von schlechtem Gewissen, da die Gründe, die sie genannt hat, für ein schmerz geplagtes Herz doch irgendwie nachvollziehbar sind.
Trotz aller augenscheinlicher Ehrlichkeit, bleibt natürlich auch ein Rest Misstrauen übrig, da so gebeutelte Menschen, wie sie ebenfalls einer zu sein scheint, allzu oft ein großes schauspielerisches Talent ans Tageslicht legen und ohne Rot zu werden lügen können.
Man bedenke alleine meine ehemalige Lügenbaronkarriere, die wahrscheinlich so viele Unerhlichkeiten beherbergt hat, dass man damit eine Hälfte der Erdkugel befüllen könnte.
"Wir wären soweit, Babe! Wollt ihr noch nach etwas schauen oder können wir los?" Leo kommt vollgepackt neben mir zum Stehen und sieht so aus, als wenn ihm gleich alles aus den Händen fallen würde.
Ich nehme ihm ein paar Dinge ab, damit das arme Kerlchen etwas entlastet wird und werfe danach einen Blick zu Steffi, die jetzt irgendwie niedergeschlagen aussieht.
Sei mal nicht so eine Bitch und schalte deinen Nettigkeitsmodus ein...
Deswegen wirst du nicht gleich sterben!
Mein Engelchen im Kopf kann heute einen Sieg verzeichnen, denn ich springe über meinen Schatten und knüpfe nochmals an Steffis erwähnte Zimmerumgestaltung an:
"Was würdest du von dem Safrangelb für dein Zimmer halten? Das hat dir doch auch gut gefallen und für Maybe wäre die Farbe auch perfekt!"
Steffi zieht die Augenbrauen zusammen und sieht sichtlich verwirrt aus:
"Wer oder was ist Maybe?"
"Dein Kind. Ich habe es spontan so getauft, da so viele Fragen offen sind und ich dieses Wesen nicht jedes Mal als "vielleicht Kind" betiteln möchte. Ich hoffe, das geht in Ordnung!"
Langsam aber sicher verwandelt sich der zu einem Strich geformte Mund in ein Lächeln:
"Das ist irgendwie ganz witzig. Also gut. Dann nennen wir den Wurm eben bis zur Geburt "Maybe!"
Sam hat dann aber doch auch noch eine Frage bezüglich der erwähnten Farbe:
"Braucht ihr nochmal einen Eimer?"
Der menschliche Brutkasten erklärt kurz, dass sie ihr Zimmer eventuell in dieser Farbe streichen möchte und fragt doch tatsächlich Sam nach seiner Meinung.
Der ist von diesem Vorhaben ziemlich begeistert und schnappt sich für Maybe's Mutter auch gleich einen Eimer des Safrangelb.
Nachdem die Jungs gezahlt haben, Sam übernimmt ohne zu Fragen die Bezahlung für Steffis Wandfarbe und verstrickt sich damit in eine heiße Diskussion, laufen wir zu Leos Karre zurück und verstauen alles im Kofferraum.
"Hört doch jetzt mal auf zu zanken! Wenn Sam das bezahlen will, dann lass ihn doch und freue dich einfach!", keift Leo Steffi nach einer Zeit lang an, da ihm das Gezanke langsam auf die Eier geht.
"Aber wenn das überhaupt nicht..."
"Jetzt halt mal die Backen still. Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich dich auch unterstützen werde, falls das nicht mein Kind sein sollte. Wenn ich das will, dann werde ich das auch tun und du kannst sagen, was du willst!" Damit ist das letzte Wort gesprochen und die Herren schmeißen sich dann auch ins Auto, da sie endlich weiter fahren wollen.
Witzig wäre es gewesen, wenn Sam noch mit dem Fuß auf den Boden gestampft hätte, wie so ein kleiner Trotzkopf, aber leider komme ich heute nicht in den Genuss solch einer Aktion.
Wenn man bedenkt, dass Sam vor nicht allzu langer Zeit kreidebleich und heulend bei uns auf dem Sofa saß, da er aufgrund der frohen Botschaft eines Kindes übelst fertig war, sollte man nicht glauben, dass er sich jetzt so sehr dafür einsetzt.
Im Grunde muss er selbst wissen, ob er das machen möchte, ich hoffe nur für ihn, dass er es später nicht irgendwann mal bereuen wird.
Als wir weiblichen Wesen auch unsere Ärsche im Wagen haben, fährt Leo zu einem Fastfoodrestaurant, damit ich etwas zu futtern zwischen die Zähne bekomme.
Allerdings denke ich nicht, dass er nur für mich bestellt, denn er sollte wissen, dass ich keine vier Cheeseburger, eine Packung Hähnchennuggets, eine Portion Pommes, drei riesengroße Burger und viermal Eis mit Schokosoße essen kann.
Letztendlich verspeise ich nämlich nur die Hähnchennuggets, einen Cheeseburger, die Pommes und ein Eis.
"Seit wann kannst du eigentlich so viel essen?", fragt Sam verwundert und beobachtet mich, wie ich den letzten Bissen des Cheeseburgers in meinen Mund stopfe.
"Keine Ahnung. Ich hatte echt Kohldampf. Du und Leo wärt wahrscheinlich schon längst einem Hungertod erlegen, wenn du mich fragst. Hahaha."
"Da könntest du recht haben! Können wir Steffi noch schnell zuhause abliefern? Dann muss ich nachher nicht nochmal extra los und kann die Kalorien einwirken lassen, wenn ich mich auf mein Sofa schmeiße."
"Klar. Kein Problem!"
Somit ist unsere nächste Haltestelle Steffis zuhause.
Als wir dort ankommen, sticht mir sofort ein alter, dunkelblauer Volvo ins Auge, der direkt vor dem Garagentor geparkt wurde.
Ich weiß nicht warum, aber die Karre kommt mir ziemlich bekannt vor und ich grübele sofort nach, wo ich das Auto schon mal gesehen haben könnte.
Sam begleitet Steffi zur Haustüre und übergibt den Eimer Farbe an den Türöffner, der sich leider nicht zu erkennen gibt, sondern im Hausinneren bleibt.
Nach einer Umarmung gesellt sich unser Kumpel wieder zu uns und sieht sichtlich zufrieden aus.
Wir laden den Herrn dann als nächstes bei sich zuhause ab und fahren dann endlich zurück in die WG.
Vollbepackt mit Farbe marschieren Leo und ich in unser Zuhause ein.
Zu unserem Erstaunen ist die Bude brechend voll, was die Menge an Stimmen, die aus dem Wohnzimmer ertönen, verraten.
"Da seid ihr ja! Wir haben euch schon vermisst", ruft uns Alex aus dem Wohnzimmer zu, was mich zu einem kleinen Seitenhieb anregt:
"Ich euch heute Morgen auch!"
"Wie meinst du das?", fragt Herr Hetkamp verwirrt, worauf ich ihm natürlich postwendend die Antwort zukommen lasse:
"Naja, als ich um halb zehn aufgestanden bin, war kein Mensch da! Außer Tom und Rebekka, aber die haben geschlafen!"
"Du bist erst um halb zehn aufgestanden?", kommt es entsetzt von Phil, der gerade aus dem Badezimmer gelaufen kommt.
"Ja. Hätte ich gewusst, dass mich keiner weckt, hätte ich mir einen Wecker gestellt... Aber, egal jetzt. Habe meine STRAFARBEIT deswegen auch schon erledigt und in Zukunft wird mich ein elektronischer Schreihals wecken."
Anstatt irgendetwas darauf zu sagen, kratzt sich Herr Funke verlegen am Kopf und wirft einen Blick ins Wohnzimmer.
Ich vermute, dass die Männer davon ausgegangen sind, dass Tom mich wecken wird und jetzt keinerlei Worte gesagt werden, da der Herr ebenfalls im Wohnzimmer sitzt.
Womöglich herrscht gefühlsmäßig immer noch Land Unter und darum lasse ich es jetzt auch gut sein und trage mit Leo zusammen die Eimer und das Zubehör in unser Zimmer.
Da wir beide völlig geschafft sind, stellen wir das Zeug in einer Ecke ab und schlüpfen schnell in bequeme Klamotten, um uns dann bei den Herren und Damen auf dem Sofa lang zu machen.
Bei unserer Rückkehr inspiziere ich erst einmal die anwesende Menschheit.
Tristan scheint schon in seinem Bett zu liegen, denn von dem fehlt jede Spur.
Tom sitzt neben Alex und Stephan, wobei der zuletzt Genannte extrem nahe an meinem Lieblingsmenschen sitzt.
Das verdeutlicht mir schon, dass es Tom heute wirklich schlecht gehen muss.
Des Weiteren findet man Phil, Paula, Oli und Saskia auf dem Chillmöbel vor.
Händchenhaltend steuern wir auf die Truppe zu, wobei es meine erste Intention ist, mich zu Herrn Mayer zu setzen.
Phil fängt mich allerdings auf halbem Wege ab, indem er meine freie Hand schnappt, als ich gerade an ihm vorbeilaufen will und mich mit einem Schwung neben mich aufs Sofa setzt.
Er schüttelt nur minimal den Kopf und deutet Leo mit leichtem Nicken, dass er sich auch setzen soll.
Alle anderen starren in die Flimmerkiste, in der irgendein Krimi läuft.
Egal wie krumm ich Herrn Funke auch von der Seite anschaue, ich bekomme keine weitere Reaktion von ihm.
Irgendwann wird es mir dann auch zu blöd und versuche deshalb Herrn Mayer einfach ein bisschen zu beobachten.
Mir fällt sofort auf, dass er total verkrampft da sitzt und stur auf einen Punkt auf den Wohnzimmertisch schaut.
Ab und zu rutscht er unruhig auf seinem Platz herum und scheint keine gute Position zu finden, denn er wird immer zappeliger.
Mein Inneres tobt wie ein Tier und möchte sofort zu dem Polizisten, um ihn mit ein klein bisschen Tochterliebe und Bartkraulen in eine bessere Stimmungslage zu versetzen.
Leider entgeht mir auch nicht Alex' Blick, der mich anscheinend genau davon abhalten will.
Was ist denn mit denen los?
Durch dieses Blöde rumsitzen und nichts tun, werde ich immer hibbeliger und lasse letztendlich meinem Fuß den Freiraum, den er braucht.
Phil geht mein gezappele sehr schnell auf die Nerven, weshalb er eine Hand auf mein Knie legt und durch milden Druck das auf und ab gewippe unterbindet.
Als ich wieder Tom ins Visier nehme, wischt der sich ein paar Mal hintereinander mit dem Ärmel durchs Gesicht und atmet ganz schwer.
Stephan fackelt darauf gar nicht lange und legt einen Arm um die Schulter seines Kumpels, um ihn in eine seitliche Umarmung zu ziehen.
Im ersten Moment rechne ich mit Gegenwehr, denn Tom macht solche Gefühlsdinger meistens lieber mit sich selbst aus.
Doch entgegen all meiner Erwartungen, nimmt er den angebotenen Trostspender an und lässt seinen Gefühlen freien Lauf.
Stephan drückt Toms Kopf darauf in seine Halsbeuge und lässt seine Hand auf Toms Kopf liegen, was ihm sicherlich etwas Schutz signalisieren soll.
Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich beruhigt bin, dass er sich von seinem Kumpel trösten lässt.
Ich scharre gedanklich schon mit den Hufen, denn ich würde ihn jetzt auch liebend gerne in den Arm nehmen und ebenfalls trösten.
Der Notarzt neben mir fühlt anscheinend diese von mir ausgehenden Schwingungen, denn der schnappt sich meine Hand und führt mit dem Daumen lauter kreisende Bewegungen aus.
Es dauert lange, bis Tom seine Ärmel nicht mehr als Tränenfänger missbraucht und die Atmung wieder etwas ruhiger wird.
Als der komplette Körper dann nach ein paar Minuten erschlafft und Stephan sich mit Tom nach hinten an die Rückenlehne lehnt, bin ich mir sicher, dass der Blonde eingeschlafen ist.
"War es heute beim Psychologen so schlimm?", frage ich Stephan, da der schließlich bei der Sitzung dabei war.
"Ja, schon. Sie sind heute nochmal alles, von der Verhaftung bis zur Fahrt in die Klinik, durchgegangen. Das hat ihm sehr zu schaffen gemacht. Bisher war er aber nur wütend und hat dann eine Zeit lang versucht, die Gefühle einfach zu unterdrücken..."
"Warum habt ihr mich denn zurückgehalten?", frage ich vorwurfsvoll in die Runde und bekomme von Alex gleich die Antwort:
"Weil wir wollen, dass er merkt, dass er vor uns allen seine Trauer und Verletzlichkeit zeigen darf und wir für ihn da sind. Er soll sich nicht immer zurücknehmen und alles verdrängen, nur weil er es bisher immer so gemacht hat. Wenn es ihm nicht gut geht, soll er es uns wie gerade eben zeigen und sich trösten lassen. Das ist ein großer Fortschritt!"
Ich sehe natürlich ein, dass das ein Fortschritt ist und Tom's Vertrauen in Sachen Gefühle ausleben auch auf dieser Basis gefestigt werden sollte, aber trotzdem hätte ich ihn gerne getröstet.
"ZOEY!", platzt es plötzlich lautstark aus Oli heraus, was mich kurz zusammenzucken lässt.
"Was?"
"Du hast ja deine Brille abgeholt! Die sieht wirklich super aus!"
Jetzt richten sich natürlich alle Blicke auf mich und mustern mein Gesicht.
Ich habe ehrlich gesagt schon ganz vergessen, dass die Brille auf meiner Nase sitzt und habe daher auch mit gar keinen Reaktionen gerechnet.
"Hätte nicht damit gerechnet, dass du so ein Modell raussuchst, aber das steht dir wirklich ausgezeichnet! Die Brille fällt auch wirklich kaum auf", sagt Alex und schenkt mir ein ehrliches lächeln.
"Tatsächlich sehe ich jetzt einiges, was ich vorher nicht gesehen habe. Ich war fast schon geschockt, als ich den Unterschied gemerkt habe!", gebe ich zu, denn auch wenn ich diese Sehhilfe anfangs verteufelt habe, muss ich eingestehen, dass es wesentlich vorteilhafter ist, richtig zu sehen.
Phil wuschelt mir durch die Haare und gibt auch noch seinen Senf dazu:
"Das hört sich gut an! Zum Glück ist das Oli und Tristan aufgefallen. Freut mich, dass du jetzt eher den Nutzen darin siehst. Sag mal, habe ich vorhin richtig gesehen? Habt ihr Farbe gekauft?"
"Ja, stell dir vor. Wir waren heute sehr selbstständig!" Das letzte Wort betone ich extra laut und zwinkere Phil zu, da er uns ja erst vor kurzem indirekt diesen Auftrag erteilt hat.
Warum das jetzt wieder alle so witzig finden und lauthals lachen, verstehe ich aber nicht so ganz.
Langsam aber sicher schleicht sich die Müdigkeit in mein Gehirn und am liebsten würde ich ins Bett gehen, doch ich muss da noch einen ganz wichtigen Faktor erfragen:
"Kommt Rebekka heute nicht?"
"Doch, sie müsste bald da sein. Sie war noch bei Robert!", antwortet mir Stephan, der laut seiner Antwort schon die Lage gecheckt hat.
Tatsächlich dauert es dann auch keine zehn Minuten mehr, bis es an der Haustüre klingelt und Leo die Frau Psychologin willkommen heißt.
"Hallo zusammen!", begrüßt uns Toms Freundin, als sie das Wohnzimmer betritt.
Als ich ihr mein Gesicht zuwende, reißt sie ihre Augen weit auf:
"Was ist denn das für eine coole Brille? Zoey, die steht dir richtig gut! Ich hätte jetzt ja eher mit so einem Gestell mit dicken schwarzen Rand gerechnet, aber das... Das ist so perfekt!"
"Genau das gleiche dachte ich auch!", wirft Alex ein und sorgt somit dafür, dass auch Leo seine Gedanken preis gibt:
"Tatsächlich hat die Optikerin nur Modelle vor Zoeys Nase gelegt, die so ein zierliches Gestell haben. Diese protzigen Dinger standen gar nicht zur Option. Hätte, glaube ich, auch nicht gut ausgesehen. Aber so wie sie jetzt aussieht, ist sie sogar noch eine Spur heißer als sonst!"
"Leooooooo", stöhnt Phil gequält auf und verpasst dem Burschen eine leichte Nackenschelle.
"Was denn? Ist doch nur die Wahrheit", grummelt mein Nebenmann vor sich hin, sieht mich darauf wieder an und wackelt anschließend mit den Augenbrauen.
Frau Tersing lacht nur leise vor sich hin und widmet sich dann dem verdrehten Geschöpft in Stephans Arm.
"Hat ihm heute einiges abverlangt, mh?"
Stephan nickt Rebekka zu und streicht mit seiner Handfläche ein paar Mal über Toms Arm:
"Ja, aber er hat es gut gemeistert!"
Rebekka nickt ebenfalls als Antwort und lässt sich vor Tom in die Hocke nieder, um ihn zu wecken.
Vorsichtig lässt sie ihre Hand über die Wange des Schlafenden gleiten und flüstert immer wieder seinen Namen.
Erst als sie den Namen etwas energischer über ihre Lippen kommen lässt, reagiert der Polizist und öffnet langsam seine Augen.
"Lass uns nach oben gehen, dann kannst du dich besser ausruhen. Okay?" Rebekka sieht so aus, als wenn sie sich gerade auf einen Kampf einstellen würde, da sie wohl eher damit rechnet, dass Herr Mayer nicht aufstehen will.
"Okay", flüstert Tom überraschend, reicht Rebekka seine Hände und lässt sich beim Aufstehen helfen.
Anschließend lässt er ein leises "Gute Nacht" über seine Lippen kommen und humpelt langsam seiner Freundin in das obere Stockwerk hinterher.
"Sollen wir auch ins Bett?", will ich von Leo wissen, denn der morgige Tag wird auch wieder anstrengend werden und einiges von uns fordern.
"Ja, ich bin hundemüde!", bestätigt mein Freund und steht sofort auf, um den Weg in die Körperwerkstatt einzuschlagen.
Ich folge ihm schnellen Schrittes und komme nur minimal zeitverzögert am Waschbecken an.
Während dem Zähne putzen beobachte ich Herrn Britz ein klein wenig durch den Spiegel, da er wie auf einen Schlag total abwesend wirkt.
Erst als ich ihn mit ein paar Wassertropfen bespritze, da ich schon längst mit der Mundhygiene fertig bin, kommt er wieder zu Sinnen und beendet auch seine Zahnpolitur.
Als wir den Herrschaften schöne Träume gewünscht haben und im oberen Stockwerk angekommen sind, bleiben wir vor Toms Zimmertüre stehen, da wir ihn und Rebekka noch reden hören.
"Sollen wir noch kurz reinschauen? Ich würde ihn schon noch gerne einmal in den Arm nehmen. Durfte vorhin ja nicht!", frage ich Leo, der von meiner Idee überhaupt nicht abgeneigt ist:
"Ja. Ich kann das jetzt auch gut gebrauchen!"
Verwundert drehe ich meinen Kopf zu Herrn Britz, der sofort mit den Schultern zuckt:
"Langsam kommt wieder die Angst wegen morgen hoch!"
Schon allein dieser Satz gerechtfertigt meiner Meinung nach jede Störung und deshalb klopfe ich auch an die Türe und warte brav, bis der Herr Mayer uns Einlass gewährt.
"Ja?"
Ich öffne vorsichtig die Türe und strecke meinen Kopf durch den kleinen entstandenen Spalt.
Die beiden Herrschaften liegen Arm in Arm im Bett und lächeln mir sofort zu, als sie mich erblicken.
"Wir wollen nicht stören, aber..." Tom unterbricht mich sofort in meinem Satz:
"Ihr stört nicht. Kommt rein!"
Das lassen Leo und ich uns natürlich nicht zweimal sagen und marschieren sofort auf die Schlafstätte des Polizisten zu.
"Du hast daran gedacht, deine Brille abzuholen? Super, Zoey! Das ist mir total durch die Lappen gegangen... Tut mir leid", entschuldigt sich Tom sofort und seufzt schwer auf.
"Ist doch nicht schlimm. Manchmal besitze ich selbst ein bisschen Hirn. Hahaha. Wie geht es dir?"
"Heute nicht so gut. Der Psychologe hat ordentlich in meiner Gefühlskiste gewühlt und darin eine Bombe explodieren lassen!"
Ich bin erstaunt, dass Tom seine Gefühlslage sofort offenbart und nicht wie sonst immer um den heißen Brei herumredet.
Daher weiß ich auch gar nicht, was ich sagen soll.
"Jetzt guck nicht so, Prinzessin. Herr Ildiko meinte, dass ich noch ein paar Mal durch solche Stürme gehen muss, bevor Besserung Eintritt. Allerdings muss ich sie auch zulassen, denn nur so kann alles verarbeitet werden und das ist, denke ich, die größere Herausforderung!"
Ist das wirklich Tom?
Hat er eine Gehirnwäsche hinter sich?
Als Tom Leo ins Gesicht sieht, merkt er anscheinend sofort, dass irgendwas nicht stimmt.
Er rutscht ein Stück zur Seite, schnappt sich Leos Hand und zieht ihn mit Schwung auf die Matratze.
Rebekka rutscht währenddessen ebenfalls ein Stück zurück und klopft auf die entstandenen freie Fläche, um mir zu signalisieren, dass ich mich dort hin quetschen darf.
Meine Reaktion lässt anscheinend zu wünschen übrig, denn Tom lässt sofort verlauten, dass ich nicht so viel denken und mich einfach hinlegen soll, nachdem er mich umständlich mit seinem Fuß angestupst hat.
Vor dem Eindringen in den Pärchenbereich checke ich nochmals Rebekkas Gesicht, da ich nicht möchte, dass sie sich in irgendeiner Weise verdrängt fühlt, doch es scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein:
"Na komm schon, Zoey. Eine Runde Gruppenkuscheln kann nicht schaden!" Mit diesen Worten legt sich der Schalter in meinem Kopf um, der für die Bewegungsabläufe zuständig ist.
Ich klettere vorsichtig über die Männer drüber und lasse mich in den schmalen Graben fallen.
Noch bevor ich mich an Herrn Mayer ankuscheln kann, landen Rebekkas Finger an meinem Kinn, womit sie meinen Kopf in ihre Richtung dreht.
"Die setzen wir jetzt aber ab. Im Bett brauchst du keine Brille!" Die Psychologin zieht mir vorsichtig die Sehhilfe von der Nase und legt sie auf ihrem Nachttisch ab.
"Danke!"
"Schon gut. Jetzt schmeiß dich an deinen Papa ran!"
Ich weiß nicht warum, aber genau in diesem Moment fällt mir ein, dass ich meine Physioübungen vergessen habe:
"Scheiße... Ich muss meine Übungen noch machen. Die habe ich ganz vergessen!"
"Du bist heute mehr als genug gelaufen und hattest daher viel Bewegung. Also lass gut sein. Morgen dann wieder!", höre ich Leos Stimme in meinen Ohren erklingen und beschließe darauf, dass er recht hat und ich morgen einfach wieder eine Turnstunde einlege.
Als ich mich wieder zu den beiden männlichen Wesen drehe, liegt Leo in Toms Arm und sein Kopf ist auf dessen Brust geparkt.
Meine Wenigkeit schmiegt sich in derselben Position an den Polizistenkörper an, was Tom ein zufriedenes Brummen entlockt.
Rebekka mischt heute auch mit, legt sich ebenfalls in selber Position an meine Kehrseite und platziert ihren Arm so, dass die Handfläche auf Toms Bauch ruht.
Im ersten Moment ist die Situation etwas ungewohnt, doch als sich mit der Zeit alle Körper merklich entspannen, ist es eigentlich ganz okay.
Fast wie eine kleine Gruppentherapie.
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