Part 150
Zoeys Sicht
Die Nacht war sehr durchwachsen.
Tom hatte einen Albtraum nach dem anderen und sich andauernd bei mir entschuldigt, da ich zwangsläufig immer wieder aufgewacht bin.
Er hat versucht, mich ein paar Mal ins Bett zu schicken, damit ich wenigstens noch ein bisschen Schlaf abbekomme, aber ich wollte ihn unter keinen Umständen alleine lassen.
Ich vermute, dass die Aussage an sich ihn aufgewühlt hat oder aber auch der Folgetermin, von dem ich immer noch nicht weiß, bei wem der war.
Während ich mich für die Schule fertig gemacht habe, ist Tom wieder eingeschlafen und scheint in eine Art Koma gefallen zu sein, denn obwohl die Männer sich alle im Esszimmer aufhalten und normal miteinander reden, schläft der Polizist tief und fest.
Heute bleibt mir nicht einmal mehr Zeit zum Frühstücken, da ich es nur schaffe, mich im Schneckentempo fertig zu machen.
Bevor ich das Haus verlasse, schnappe ich mir Shanes Ordner und werfe ein allgemeines Tschüss in die Bude, da mir für alles andere die Kraft fehlt.
In Jarons Karre spare ich mir jegliches Wort und nutze die Fahrzeit für einen kurzen Powernap, der mir erstaunlicherweise wieder etwas Energie liefert.
Heute Nacht werde ich auf alle Fälle wieder mein Bett bevorzugen und nicht nochmal auf dem Sofa schlafen.
Bevor wir das Schulgebäude betreten, werde ich von Jaron geknuddelt und bekomme sehr viel Zuspruch von ihm.
Es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass das nicht gut tut.
"Danke! Ich gebe mir Mühe, aber Physik ist nicht so meine Welt..."
"Das wird schon. Mach einfach das Beste daraus!" Jaron löst seine Umarmung auf, legt aber einen seiner Arme um meine Schultern und läuft so mit mir und dem Rest im Schlepptau in das Schulgebäude.
Direkt vor dem Klassenzimmer wartet schon Herr Rudinski auf mich und empfängt mich sogar mit einem Lächeln.
Blondi lehnt sich leicht zu mir und flüstert so leise, dass ich ihn fast nicht verstehe:
"Was hast du mit ihm gemacht? Der Lächelt sonst nie. Nicht einmal, wenn man es geschafft hat, in seinen Arbeiten eine Eins zu ergattern!"
"Keine Ahnung. Ich bin so wie immer!"
Rudinski legt seinen Kopf leicht schief als wir vor ihm zum Stehen kommen und zieht eine seiner Augenbrauen nach oben:
"Wenn ich mich nicht irre, tummeln sie sich in der falschen Klassenstufe herum, Jaron!"
"Ja, da liegen sie vollkommen richtig. Ich wollte meiner Zuckerschnute den Gang zum Henker nur etwas erleichtern!" Jaron grinst frech, drückt mir schnell einen Kuss auf die Stirn und rennt dann sofort in die Richtung seines Klassenzimmers davon.
Der Blick des Lehrers spricht Bände, aber anstatt etwas verlauten zu lassen, schüttelt er nur den Kopf.
Zu unserer Rechten tritt der Schönling-Lehrer an uns heran, der mich beim Mathetest schon beaufsichtigt hat.
Ich verkneife es mir, mit den Augen zu rollen und lege meinen Fokus auf Herrn Rudinski.
"Sie werden heute bitte die Klasse beaufsichtigen. Auf dem Pult liegen einige vorbereitete Arbeitsblätter, die die Schüler in Stillarbeit erledigen sollen!"
"Okay", gibt der Schönling flapsig von sich und betritt das Klassenzimmer.
"Heute werde ich sie während dem Leistungsstands beaufsichtigen. Wir gehen in das selbe Klassenzimmer wie gestern." Herr Rudinski gewährt mir mit einer Handbewegung den Vortritt, worauf ich mich in Bewegung setze.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt beruhigter oder aufgeregter, bezüglich seiner Anwesenheit, sein soll und werde wieder nervös.
Nachdem ich mich auf einem Stuhl platziert habe, krame ich mein Mäppchen aus dem Schulranzen und lasse mir dabei mehr Zeit als nötig wäre.
Der Lehrer ist leider von der sehr aufmerksamen Sorte und bemerkt meine Zeitschinderei:
"Sie brauchen nicht nervös zu sein. Denken Sie einfach, dass wir eine normale Unterrichtsstunde vollziehen. Nicht mehr und nicht weniger! Zoey, ich werde Ihnen die Fragen vorlesen und sie notieren einfach nur die Antworten auf dem leeren Blatt. Somit beugen wir Verwechselungen irgendwelcher Buchstaben und Zahlen vor. Wenn ich die Frage nochmal wiederholen soll, dann geben Sie mir Bescheid. Sobald sie die Aufgabe erledigt haben, geben sie mir grünes Licht, um weiter zu lesen. In Ordnung?"
Direkt nach diesen Worten fährt meine komplette Nervosität nach unten.
Ich fühle mich sofort etwas sicherer und lockere somit auch meine Haltung.
"Ja, natürlich. Danke!"
Herr Rudinski nickt mir lächelnd zu und rattert auch sofort die erste Aufgabenstellung herunter.
Im Anschluss läuft er zu der Fensterfront und beobachtet das Treiben der Außenwelt, anstatt mich penetrant anzuglotzen.
Bis auf zwei Aufgaben, bei denen ich den Lehrer sofort bitte weiter zu lesen, kann ich alles einigermaßen beantworten.
Mir kommt es fast so vor, als würden die physikalischen Worte aus Rudinskis Mund viel mehr Sinn ergeben, als wenn sie nur auf Papier gedruckt sind.
Mag vielleicht auch einfach nur daran liegen, dass ich keinen Scheiß zusammen lese.
Die beiden Aufgaben, die ich nicht lösen konnte, werden nicht einfach ignoriert, sondern ganz zum Schluss nochmals von dem Lehrer aufgegriffen.
Mit ein paar Hinweisen schaffe ich es sogar, diese Aufgaben zu lösen und habe am Ende der Stunde komplett alle Fragen beantwortet.
Das stellt für mich tatsächlich eine große Premiere dar, denn in Physik war ich bisher immer froh, wenn ich wenigstens bei der Hälfte der Fragen irgendeine Antwort schreiben konnte.
"Das haben sie sehr gut gemacht, Zoey!", lobt mich der Pädagoge, was sofort meinen Stolz wachsen lässt, denn bisher hat mich noch nie ein Lehrer gelobt.
Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern.
"Danke!"
"Sie brauchen sich nicht zu bedanken, schließlich haben Sie eine gute Leistung vollbracht!"
"Na ja. Sie haben sich meine Antworten noch gar nicht durchgelesen!"
"Sie haben sich angestrengt, nachgedacht und nicht aufgegeben. Das ist für mich schon Grund genug, begeistert zu sein. Der Wille zählt und das ist bei ihnen auf alle Fälle vorhanden. Die Beurteilungen, die Herr Griemer über sie ausgestellt hat, kann ich absolut nicht nachvollziehen und werde diese auch in keiner Weise akzeptieren. Bis Montag werde ich alles ausgewertet haben und dann setzen wir uns zusammen, um die Ergebnisse zu besprechen. Ihr Erziehungsberechtigter arbeitet in Schichtdiensten, wenn mich nicht alles täuscht?"
Wow, hat der sich meinen ganzen Lebenslauf reingezogen, oder was?
"Ja, aber Momentan ist er krank geschrieben. Daher ist er ziemlich flexibel!"
"Meinen Sie, er ist in der Lage, am Montag für ein kurzes Gespräch in die Schule zu kommen? Falls er bettlägrig krank ist, kann ich das auch telefonisch erledigen. Das wäre kein Problem."
"Nein, nein. Er kann sich einigermaßen bewegen. Soll er sich wegen einem Termin melden?"
"Wenn möglich, führen wir das Gespräch direkt nach Schulschluss. Dann verpassen Sie keinen weiteren Unterricht und ich muss keine Vertretung aus dem Ärmel schütteln. Falls es unpassend ist, kann er sich ja dann telefonisch melden. In Ordnung?"
"Na klar. Danke!"
Das Klingeln beendet die erste Schulstunde und sorgt somit dafür, dass ich zurück in mein Klassenzimmer gehen kann.
Dort empfangen mich Shane, Max und Timo schon sehr erwartungsvoll.
Nach einem Gesichtscheck, der mehr als positiv ausfällt, trauen sich die drei mich mit Fragen zu bombardieren.
"Langsam, Jungs! Ich konnte letztendlich alles ausfüllen und bin eigentlich recht zufrieden. Am Montag bespricht Rudinski dann die Ergebnisse mit Tom und mir."
Shane zieht mich sofort in eine Umarmung und überhäuft mich mit Beglückwünschungen.
"Hallo? Ich habe keine Lösung für den Weltfrieden gefunden, sondern nur einen Physik Test geschrieben!"
"Aber das ist doch gewiss das erste Mal, dass du wirklich alles ausgefüllt hast, oder?"
"Ja!"
"Also! Dann lass dich feiern. Das ist wirklich der Wahnsinn, Zoey. Der Griemer hätte dir zu Unrecht alles versaut."
"Schon krass, oder? Ich kann das selbst noch gar nicht so richtig begreifen. Gedanklich habe ich schon mit dem Gymnasium abgeschlossen, aber vielleicht kann doch noch etwas aus mir werden! Endlich läuft alles in eine positive Richtung."
☆☆☆☆☆☆
Nachdem ich das Schulgebäude verlassen und mich von den restlichen Chaoten verabschiedet habe, sehe ich auch schon Leos Auto auf dem Schulparkplatz stehen.
Als ich der sonnengelben Karre näher komme, springen meine Mundwinkel sofort in die Höhe, denn nicht nur Herr Britz begleitet mich zum Optiker, sondern auch Tom.
Ich reiße die hintere Türe auf und werfe meinen Rucksack einmal quer über die Sitzbank.
"Hi! Was machst du denn hier? Mit dir hätte ich nicht gerechnet!"
"Du glaubst doch nicht, dass ich euch beide alleine deine Brille aussuchen lasse! Jetzt rein mit dir. Leo hat nicht ewig Pause!", schimpft Herr Mayer gespielt und lässt anschließend ein kleines Lächeln über seine Lippen huschen.
Wie befohlen, schwinge ich meinen Hintern auf die Rückbank und schließe die Türe, damit Herr Britz endlich losfahren kann.
"Du, Tom? Kannst du am Montag nach der sechsten Stunde in die Schule kommen?"
"Ist irgendetwas vorgefallen?" Der Polizist dreht seinen Kopf zu mir nach hinten, worauf ich sofort abwinke:
"Nein. Herr Rudinski möchte da dann die Ergebnisse der Leistungsstandüberprüfung mit uns besprechen!"
"So schnell schon? Natürlich komme ich. Da bin ich aber gespannt. Hat der Lehrer schon etwas verlauten lassen?"
"Nur so viel, dass seine Meinung über mich und meine Leistungen nicht mit der von Herrn Griemer übereinstimmt. Ich bin selbst gespannt, aber ehrlich gesagt, habe ich gar kein so schlechtes Gefühl. Ich konnte heute in Physik alles ausfüllen. Na ja, Rudinski musste mir bei zwei Aufgaben Tipps geben, aber letztendlich bin ich dann auf die Lösung gekommen."
"Das sind doch super Aussichten. Allem Anschein nach geht es in allen Bereichen bergauf!" Tom schenkt mir ein ehrliches Lächeln und wendet seine Sicht wieder der Frontscheibe zu.
Mir scheint, dass es ihm heute tatsächlich um einiges besser geht, trotz der beschissenen Nacht.
Die dunklen Augenringe sind zwar kaum zu übersehen, aber schon alleine seine Tonlage verrät mir eine kleine Verbesserung seines Gemütszustandes.
Mein Freund bringt uns zu einem namhaften Optiker, den er selbst ausgesucht hat.
Mir ist es völlig schnuppe, in welchem Laden ich die Nerven verliere und habe mich darum auch nicht bemüht, irgendwelche Recherchen durchzuführen.
Als wir den Laden betreten, wimmelt es im ganzen Geschäft nur so vor Menschen.
Das wiederum gibt uns aber etwas Zeit, selbst ein paar der Brillengestelle anzuschauen, was natürlich meine Laune in keiner Weise erheitert, sondern eher in die Tiefe drückt.
"Prinzessin, zieh doch nicht so ein Gesicht! Schau mal, wie viele Modelle es hier gibt. Da ist mindestens eins dabei, dass auch bei dir gut aussieht!"
"Dein Wort in Gottes Ohr!", brumme ich vor mich hin und lasse meinen Blick über die Kategorie "Pilotenbrille" gleiten.
Bei manchen Gestellen frage ich mich tatsächlich, ob das irgendein Mensch ernsthaft kaufen will.
"Hallo! Wie kann ich Ihnen helfen?" Eine ziemlich junge, schlanke Frau steht wie aus dem Nichts neben uns und lächelt uns freudig entgegen.
Dir wird dein Lachen noch vergehen!
Da meinem Mund so gar kein Wort entweichen möchte, nimmt Tom das in die Hand:
"Hallo. Diese junge Dame hier benötigt eine Brille."
"Dann kommen sie doch erst einmal mit mir mit!" Die Frau führt uns zu einem Tisch, auf dem ein PC steht und jede Menge Zettel liegen.
Da es nur zwei Stühle gibt, bleibt Leo einfach neben uns stehen und dient Herrn Mayer als Krückenhalter.
Frau Stern, wie ich ihrem Namensschild entnehmen kann, mustert mein Gesicht für einen kurzen Augenblick und nickt dann entschlossen vor sich hin.
Was das zu bedeuten hat, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, dass sie mir das gleich aufs Brot schmieren wird.
"Ist das deine erste Brille?"
"Ja."
"Hast du irgendeine Vorstellung, wie deine Brille aussehen soll?"
"Unsichtbar!"
"Zoey! Jetzt sei doch nicht so grummelig!", ermahnt mich Tom und dreht sich seufzend zu Frau Stern, "Tut mir leid, aber Zoey ist wirklich nicht scharf auf eine Brille. Sie denkt, dass es für ihr Gesicht kein Gestell gibt, das gut aussieht!"
"Keine Sorge! Am Anfang ist es schwierig, sich das überhaupt vorzustellen und außerdem ist man von der Fülle der angebotenen Brillengestelle heillos überfordert. Ich möchte dir einen Vorschlag machen: Ich organisiere ein paar Gestelle, die, wie ich denke, gut zu deiner Gesichtsform passen. Du setzt die Brillen einfach mal auf und entscheidest, ob dir grundsätzlich die Form gefällt. Über die Farben können wir dann immer noch reden. Wenn dir meine Vorschläge nicht gefallen, ist das nicht schlimm, wir suchen so lange, bis du dich so wohl wie möglich fühlst. Okay?"
Ich zucke mit den Schultern und werfe ihr eine Bestätigung zu.
Eigentlich will ich gar nicht so zickig sein, aber meine Laune hat sich mit dem Betreten der Räumlichkeiten einfach aus dem Staub gemacht.
Während die Dame ihrer angekündigten Tat nachgeht, versucht mich Leo auf seine Art und Weise aufzubauen.
"Babe, wenn du jetzt nicht mehr so ein Gesicht ziehst, als hätte man dir die Todesstrafe verhängt, dann toben wir uns heute Abend ein bisschen aus!", säuselt mir Herr Britz ins Ohr und zwinkert mir zu, nachdem er sich wieder zurückgezogen hat.
"Du scheinst da eine Tatsache vergessen zu haben!", zische ich ihm zu.
"Was denn?"
"Mich kann man nicht mit Sex ködern!"
"Zoey! Leo! Könnt ihr euch vielleicht über andere Themen unterhalten?" Tom schüttelt ungläubig den Kopf und sieht abwechselnd zu Leo und mir.
"Was denn? Nur weil ich nicht so schwanzgesteuert bin und mich damit..."
Auf meinem Mund legt sich eine große Hand ab und verbietet mir somit jeglichen Kommentar.
"Jetzt ist gut! Du versuchst einfach den positiven Aspekt in dieser ganzen Sache zu sehen. Ich kann verstehen, dass es dich nervt und du dir den Alltag mit Brille nicht vorstellen kannst, aber glaub mir, daran gewöhnt du dich schneller als du denkst!"
Kaum hat der Polizist seine Pranke aus meinem Gesicht entfernt, rutscht mir leider doch noch ein Kommentar heraus:
"Sagt der, der auch so viel Erfahrung mit Brillen hat!"
"Bekommst du deine Tage, dass du so zickig bist?", knurrt Leo vor sich hin, was mich innerlich noch mehr hochkochen lässt.
"Leo, kipp doch bitte nicht noch Öl ins Feuer!", zischt Tom jetzt seinem Ziehsohn zu und schenkt ihm einen leicht vernichtenden Blick.
Am liebsten würde ich einfach aufstehen und gehen, doch leider macht mir Frau Stern einen Strich durch die Rechnung, da sie sich wieder zu uns dazu gesellt.
Direkt vor meiner Nase legt sie fünf Brillengestelle ab und setzt sich dann wieder auf ihren Platz:
"So. Das sind meiner Meinung nach die Varianten, die dir am besten ins Gesicht passen würden. Beurteile aber erst, wenn du die Brille aufgesetzt hast, denn manchmal ist die Wirkung dann eine ganz andere, als wenn man sie nur in den Händen hält."
Ich atme tief durch und schaue mir die Guckgläser etwas genauer an.
Ehrlich gesagt, sind diese Modelle gar nicht so hässlich und vor allem sehr unauffällig.
Vielleicht wird es doch nicht so schlimm...
Zuerst greife ich nach einer Geometrischen Brille, die ein sehr zierliches Gestell hat und sich farblich in dem Bereich
Rosa-Gold hält.
Kaum befindet sich meine Sehhilfe auf der Nase, wird mir auch schon ein Spiegel vor das Gesicht gehalten.
Frau Stern kommentiert ihre Wahl nebenher:
"Da du so ein schmales Gesicht hast, würde ein dicker Rahmen zu sehr auftragen und darum denke ich, dass dir dieses feine Gestell am besten ins Gesicht passt. Die Farbe steht dir ausgesprochen gut und wenn man dich von weitem sieht, fällt die Brille kaum auf. Was meinst du?"
"Sieht gar nicht so schlecht aus!", gebe ich ehrlich zu und schaue kurz darauf einmal nach links zu Tom und anschließend nach rechts zu Leo.
Beide nicken sofort lächelnd und stimmen somit zu, dass dieses Modell in die engere Auswahl kommt.
Die nächsten drei Modelle sind in derselben Farbe gehalten, nur sind die Gläserformen rund, eckig und oval.
Wir sind uns zum Glück alle drei einig, dass diese Formen absolut Zoey-untauglich sind und sortieren sie daher aus.
Das letzte gute Stück ist so eine schmale Version, so dass es bei mir fast aussieht, als wenn ich ausversehen eine Kinderbrille gewählt hätte.
Unsere Beraterin legt nun alle Brillen, die ausgemustert wurden, zur Seite und platziert direkt vor mir die geometrische.
Sie gibt mir ein paar Minuten Zeit, diese Sehhilfe nochmals genauer zu mustern.
Nachdem ich die Augenverglasung eine Weile auf meiner Nase geparkt habe, meldet sich die Verkäuferin wieder zu Wort:
"Möchtest du noch andere Modelle anprobieren? Du darfst auch gerne selbst mal schauen und mir zeigen, was dir auf den ersten Blick gefällt!"
Obwohl ich selbst nicht damit gerechnet hätte, gefällt mir die zuerst gewählte Brille so gut, dass ich gar keine andere mehr ausprobieren möchte:
"Nein. Ich möchte diese hier... Was sagt ihr dazu?"
Ich vergewissere mich nochmals bei den beiden Männern, denn wenn die zwei nicht überzeugt wären, würde ich meine Wahl doch nochmal überdenken.
"Meiner Meinung nach, steht sie dir ausgesprochen gut und sie fällt kaum auf. Ich denke, das Gestell passt gut zu dir!", befürwortet Tom meine Wahl und auch Leo sieht überzeugt aus:
"Damit siehst du sehr gut aus! Würde ich an deiner Stelle auch nehmen!"
Somit ist es beschlossene Sache und schneller als gedacht, habe ich eine Brille gefunden, die mir in den Kram passt.
Nachdem Tom den Zettel des Augenarztes weitergeleitet hat, malt Frau Stern noch irgendein Zeug auf die Gläser, zwecks Augenabstand und weiterem Klimbim und erklärt anschließend, dass es verschiedene Gläser zur Auswahl gibt.
Herr Mayer fackelt natürlich gar nicht lange und wählt die beste Option für mich aus.
Seinem Blick nach zu urteilen, brauche ich überhaupt keinen Einwand erheben, was ich mir dann auch getrost spare, da ich eh keine guten Gegenargumente liefern könnte, außer, dass er nicht so viel Geld ausgeben soll.
Das zählt bei dem Polizisten aber kein bisschen.
Insgesamt vierzig Minuten später verlassen wir den Optiker und marschieren wieder auf Leos Auto zu.
Dass es wirklich eine Brille gibt, die gar nicht so schlimm an mir aussieht, hätte ich nicht erwartet und bin jetzt auch etwas friedlicher gestimmt.
"Das Gesicht gefällt mir viel besser, als das von vorhin!", sagt Tom und stößt mich mit der Hüfte an.
"Ja. Die Prozedur war doch nicht so schlimm wie gedacht und die Brille ist ganz schön. Wenn sie nachher auch wirklich einen Nutzen hat, werde ich nie wieder meckern. Versprochen!"
Leo schnappt mich an der Hand und zieht mich an seine Seite:
"Sorry wegen vorhin. Du siehst sogar mit Brille wunderschön aus, Babe!"
Grinsend drücke ich meinem Freund einen Kuss auf die Lippen und beschließe es jetzt einfach gut sein zu lassen.
Nachdem Leo uns Zuhause abgeladen hat, betreten wir die WG.
"Hallo, mein allerliebstes Lieblingskind!" Franco begrüßt mich mit etwas übertriebener Freunde, als ich das Esszimmer betrete und ich gehe davon aus, dass die Männer denken, dass jetzt Land unter Stimmung herrscht.
"Wow... Wenn man bedenkt, dass es außer mir gar kein anderes Lieblingskind geben kann, weiß ich gar nicht, ob deine Worte mir so sehr schmeicheln, wie sie es sollten!"
"Rette sich, wer kann! Der Reaktor kocht!", brüllt Phil aus der Küche, worauf Herr Fabiano von seinem Stuhl aufspringt und in die Küche flüchtet.
Ich gebe mir gar keine Mühe, die Situation aufzuklären, denn jetzt habe ich wenigstens genug Ruhe, um meine Hausaufgaben zu machen.
Tom scheint eine Ruhepause zu brauchen, denn der macht sich sofort auf dem Sofa lang, während ich meinen ganzen Schulkram aus dem Rucksack heraus hole.
Wenn mir noch vor einem viertel Jahr einer gesagt hätte, dass ich irgendwann freiwillig und regelmäßig meine Hausaufgaben erledige, dann hätte ich ihm den Vogel gezeigt, aber wenn man ein klein wenig Durchblick besitzt, ist es nur noch halb so schlimm.
Meine erste Tätigkeit ist es, die doofen französischen Vokabeln in mein Heft zu übertragen.
Anschließend benutze ich das erste Mal seit mehreren Jahren meine kleinen Karteikarten und notiere auch dort die Fremdwörter, um sie besser lernen zu können.
"Was macht sie da?", hört man den Italiener leise fragen.
Im Augenwinkel sehe ich Franco und Phil im Türrahmen der Küche stehen, wie sie mich ganz auffällig beobachten.
"Sieht mir ganz nach Hausaufgaben aus!", antwortet Phil und streckt seinen Kopf in die Luft, um besser erkennen zu können, was ich mache.
"Was? Freiwillig oder hat Tom ihr etwa gedroht?" Der Sanitäter hört sich so verwundert an, dass ich aufpassen muss, nicht laut aufzulachen.
"Warten wir mal ab!"
Die zwei Herren verkrümeln sich wieder in die Küche, können es aber nicht unterlassen, mich immer wieder misstrauisch zu beobachten.
Zum Glück haben wir heute nicht allzu viele Aufgaben bekommen, sodass ich nach weiteren zwanzig Minuten auch mit Deutsch fertig bin und alles wieder zusammen packen kann.
Nachdem ich meinen Schulranzen verräumt habe, mache ich mich auf den Weg ins Ärztezimmer und starte sofort mit meinen Physio-Übungen, da ich Angst habe, sie gegen Abend zu vergessen.
Mein erster Besucher wird dieses Mal von Oli verkörpert, der verwundert den Raum betritt und mich ein paar Minuten lang mustert.
"Noch nie jemanden gesehen, der Sport macht?", frage ich nebenher und wechsle in eine andere Position.
"Doch, aber.... Vergiss es. Mach schön weiter!"
Schön, wenn man die Herren doch auch mal wieder aus der Bahn werfen kann!
Bei der letzten Übung angekommen, bei der man eine Art abgeschwächte Situps machen muss, wird mir leicht schwindelig.
Mit großer Sicherheit werden das die Auswirkungen meiner nicht getätigten Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme sein, die sich jetzt bemerkbar machen.
Schon als ich das zweite Mal meinen Oberkörper in die Lüfte ziehe, wird mir so schwammig, dass ich mich sofort zurück auf den Boden lege und mir überlege, einen der Notärzte zu rufen.
Herr Funke besitzt heute allerdings wieder einen siebten Sinn und marschiert von ganz alleine in den Raum herein:
"Zoeylein, sag mal... Was ist los? Ist dir nicht gut?"
In Sekundenschnelle kniet Phil neben mir und umklammert sofort mein Handgelenk.
Da ich selbst auch mal von etwas Ahnung habe, versuche ich meine Füße anzuheben und auf den nahegelegenen Bürostuhl zu platzieren.
Leider zeigt sich mal wieder, dass meine Berechnungen noch ausbaufähig sind, denn ich erreiche das angepeilte Objekt nicht ansatzweise.
"FRANCO!! BRING MAL SCHNELL WASSER UND TRAUBENZUCKER. ÄRZTEZIMMER!", schreit der Notarzt durch die ganze Bude, lässt mein Handgelenk los und organisiert den von mir angepeilten Stuhl, damit ich meine Beine hochlegen kann.
Da mir langsam so richtig übel wird, brumme ich vor mich hin und decke meine Augen kurz mit einer meiner Handflächen ab, da ich die Hoffnung habe, dass es so kurzzeitig besser wird.
"Mund auf, Zoey, und dann kauen!", weist mich Franco plötzlich an und ich wundere mich, wie der jetzt so schnell hier sein kann.
Da ich nicht so reagiere, wie die Herren es gerne hätten, entfernt Phil meine Hand von meinen Augen und fordert mich ein paar Mal auf, diese zu öffnen.
Franco öffnet mir mit einem gekonnten Handgriff meinen Mund einen Spalt weit und schiebt ein kleines Stück Traubenzucker hinein.
Im Anschluss klopft er leicht gegen mein Kinn:
"Jetzt kräftig kauen und die ganze Pampe schlucken!"
In der Zeit, in der ich dreimal würge und es irgendwie schaffe, die Matsche aus meinem Mund in meinen Magen zu befördern, beehrt uns auch Oli, der sich sofort nach meinem Zustand erkundigt.
"Gleich!", wimmelt Phil seinen Kollegen ab, hebt meinen Oberkörper an und setzt eine kleine Wasserflasche an meinem Mund an, "Jetzt trinkst du bitte so viel du kannst!"
Ich schaffe es tatsächlich, den kompletten halben Liter zu trinken und stelle somit auch die medizinisch Angehauchten zufrieden.
Franco organisiert zwischenzeitlich das Blutdruckmessgerät und überprüft sofort, was die Pumpe zu sagen hat.
"Hundert zu sechzig. Bleib noch kurz ein bisschen liegen! Hast du heute schon etwas gegessen?"
"Nein. Ich wollte erst alles erledigen. War falsch, ich weiß!"
"Es ehrt dich, dass du dich gerade voll reinhängst, aber es bringt nichts, wenn du uns umkippst, okay? Wir warten jetzt noch ein bisschen und dann gehen wir rüber ins Esszimmer. Deine erste Tätigkeit wird dort das Essen sein. Wie viel hast du getrunken?"
"Nur das von gerade eben", flüstere ich leise vor mich hin, da mir selbst klar ist, dass das nicht gut ist.
"Da muss ich nichts dazu sagen, oder?" Phil verzieht sein Gesicht und wirft einen Blick zu Franco, der gerade nochmal eine Messung durchgeführt hat und jetzt grünes Licht zum Aufstehen gibt.
"Nein. Ich habe das eben vor lauter Schule und Brille vergessen. War keine Absicht!"
"Schon gut. Jetzt setzt du dich langsam auf und wenn du dich bereit fühlst, helfen wir dir aufzustehen!"
Bevor mein Körpergewicht tatsächlich auf den Fußsohlen lastet, schiebt der Italiener mir nochmals einen Energielieferanten in den Mund, da ich ihm noch etwas zu blass bin und ein weiteres Stück Traubenzucker, seiner Meinung nach, nicht schaden kann.
"Geht's?", fragt Herr Funke nach den ersten paar Schritten besorgt.
"Ja, alles gut. Es wird wieder!"
Zurück im Wohnzimmer, werde ich sofort an den gedeckten Esstisch gesetzt.
Während Phil das Essen auf den Tisch stellt, weckt Franco Tom:
"Herr Mayer! Aufstehen!"
Nach einem leisen Murren brüllt Franco lauthals "Einsatz!", sodass sogar ich vor Schreck zusammenzucke.
Tom schießt mit seinem Oberkörper wie eine Rakete nach oben:
"Wo? Wann? Warum?"
"Hahaha. Sorry. Das Essen ist fertig und du solltest deinem Körper auch endlich etwas gönnen!" Franco reicht dem Polizisten seine Hand, die sofort ergriffen wird.
Selbst Franco ist erstaunt, dass Herr Mayer keine Zicken macht, sondern sich beim Aufstehen helfen lässt und sich sofort an den Tisch setzt.
Phil wirft immer wieder einen prüfenden Blick zu uns, da wir beide ganz unüblich, zwei Teller voller Spaghetti mit Meeresfrüchten verschlingen.
Ich denke, dass er sich schon auf eine weitere Schimpftirade eingestellt hat, doch weder Tom noch ich geben ihm Anlass dazu.
"Phil? Kannst du mir nachher vielleicht helfen? Ich will unbedingt duschen, fühle mich aber nicht so standfest..."
Dem Notarzt klappt fast die Kinnlade auf die Tischplatte und auch ich bin sehr verwundert über die Frage nach Hilfe.
Es ist nicht so, dass ich das nicht für gut befinden würde, aber das ist nicht typisch für unseren Hulk und darum sind wir dann doch sehr verwundert.
"Klar helfe ich dir. Gar kein Thema!"
"Danke. Vielleicht könntest du mir gegen später auch ein Schmerzmittel geben. Mein Fuß bringt mich fast um!"
"Natürlich. Ich kann dir auch vor dem Duschen etwas geben. Gegen später schaue ich mir mal alles an und danach legst du deinen Fuß bitte hoch. Du hast in letzter Zeit doch etwas zu viel belastet!"
"Ich weiß. Ich werde mich übers Wochenende richtig ausruhen und ab nächster Woche habe ich dann regelmäßige Termine beim Physiotherapeuten. Er wechselt dann zwischen Lymphdrainage und leichten Bewegungsübungen ab!"
Langsam bekomme ich Angst um den Notarzt, da er überhaupt keine Regungen mehr von sich gibt.
Vermutlich versucht er das Ganze, was Tom gesagt hat, zu realisieren oder überlegt sogar, ob er das wirklich gehört hat.
Franco und ich räumen zusammen den Tisch ab, während die Männer das Badezimmer beschlagnahmen.
Der Italiener lässt sich nebenher von mir auf den neuesten Stand bringen, was die Brillenaktion und die Schule anbelangt.
Im Anschluss legen wir uns mit ein paar Tüten Süßigkeiten auf das Sofa und obwohl ich randvoll bin, werfe ich mir noch einige Schokobons in den Rachen.
So zufrieden wie heute war ich schon lange nicht mehr und hoffe, dass solche Tage jetzt vermehrt auftreten werden.
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