Kapitel 9
THOMAS
Als es klingelte stand ich auf und ging zu Mike, Artur und Julian.
„Warum lächelst du?", fragte Julian und Mike kicherte vor sich hin. Ich boxte ihm gegen den Arm.
„Denk nicht mal dran!", warnte ich ihn, doch der kriegte sich gar nicht mehr ein. Ich verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Mike und ich hatten in der nächsten Stunde gemeinsam Unterricht. Ich wusste zwar nicht welches Fach, aber wir stellen unsere Taschen vor der Tür ab und trafen uns dann mit Julian und Artur auf dem Schulhof an unserem Stammplatz.
Die kleinen Fünft- und Sechstklässler gingen schnell an uns vorbei und mieden unsere Blicke. Eine Gruppe Neuntklässlerinnen warfen sich bei unseren Anblick die Haare besonders lässig hinter die Schulter und wackelten mehr mit ihren Hüften, als es gesund sein konnte. Es grenzte an ein Wunder, dass sie bei dem Schwung nicht nach rechts oder links umkippten.
Anscheinend hatten sich die Gerüchte, von denen mir Hannah erzählt hatte, in der gesamten Schule verbreitet. Ich sah mich auf dem Schulhof um. Dass so viele in unsere Richtung schauten und offensichtlicher Weise über uns sprachen, war mir bisher nie aufgefallen.
Am anderen Ende des Schulhofes sah ich einen Jungen, der mir bekannt vorkam.
Ich glaube, er hieß Jesse und war in der Zwölften. Jesse stand ziemlich nah an irgendetwas oder irgendjemandem. Es stellte sich als einen weiblichen Irgendjemand heraus. Er setzte einen Schritt nach rechts und strich der Person übers Haar, während er sie mit der anderen Hand an der Schulter festhielt. Die Person sah gefährlich nach Hannah aus.
„Mike, ist das Hannah dadrüber?", fragte ich und er drehte seinen Kopf in die Richtung, in die mein Finger zeigte.
„Oh Gott, ja, das ist sie. Was tut er denn da?", fragte Mike verwirrt, doch bekam keine Antwort von mir. Hannah versuchte mehrfach seine Hand von ihrer Schulter zu schieben, doch er legte sie immer wieder zurück.
„Mach jetzt nichts Dummes!", rief Mike, doch da war ich bereits aufgesprungen und zu den beiden hingerannt.
•••••••
„Nein", sagte Hannah mit schwacher Stimme.
„Warum denn nicht? Ich mach es uns auch schön.", sagte Jesse gerade. Sie zitterte und hatte die Augen geschlossen.
„Jesse, ich bin mir sicher, sie möchte das nicht!", sagte ich laut und er drehte sich zu mir um. Hannah kauerte sich zusammen und wippte im Sitzen vor und zurück. Ihre Augen starrten ins Leere.
„Das kannst du meine Sorge sein lassen, Thomas.", sagte er warnend und starrte mich an.
„Wenn sie nein sagt, sollte das das Zeichen für dich sein, sie in Ruhe zu lassen!", sagte ich.
„Und wenn ich's nicht tue?", fragte er provozierend und ich schubste ihn ein Stück von ihr weg.
„Dann haben wir ein Problem.", sagte ich warnend und er lachte.
„Ich habe keine Angst vor dir." Er holte aus und ich wich im richtigen Moment aus. Mit einem Kinnhacken schleuderte ich seinen Kopf nach hinten und er verlor das Gleichgewicht, wodurch er auf dem Boden landete. Hinter mir hörte ich Mike und Julian meine Namen rufen. Ich kniete mich neben Jesse, zog ich ihn am Kragen nach oben und hielt sein Ohr neben meinen Mund.
„Nein heißt nein, Arschloch. Und wenn sie nicht auf dein sicherlich großzügiges Angebot eingeht und nichts macht, dann ist das auch kein Freifahrtschein für dich, haben wir uns verstanden?" Er lachte und ich boxte ihm in den Magen. „Ja, oder nein!", rief ich, als Julian mich von ihm weg zog.
„Ja.", sagte er leise.
„Ich hab dich nicht gehört!"
„Ja!", sagte er diesmal etwas lauter.
Genau in dem Moment verstanden dann auch die Lehrer, was Sache war und kamen auf uns zugeeilt. Es hatten sich ein paar Schüler in einem Kreis um uns gestellt und sahen uns fasziniert an. Mike hatte sich neben Hannah gesetzt und redete auf sie ein. Doch sie schien nicht ganz da zu sein.
„Thomas, Jesse, was ist hier los?", fragte einer der Lehrer. Man merkte ihm deutlich an, wie überfordert er mit der Situation war.
„Jesse hat unsere Freundin hier belästigt und Thomas hat sie verteidigt.", erklärte Artur, der nun auch neben uns stand.
„Hannah, stimmt das?" Hannah war aufgestanden und nickte.
„Ja, Jesse war sehr aufdringlich. Thomas hat mich nur verteidigt.", sagte sie mit fester Stimme. Davon, dass sie bis vor drei Sekunden noch völlig aus der Fassung gewesen war, war keine Spur mehr zu sehen.
„Ist denn alles ok?", fragte ein zweiter Lehrer und Hannah lächelte und antwortete: „Ja, mir geht es gut." Mike und ich sahen sie ungläubig an. „Aber vielleicht sollte sich mal jemand Jesses Gesicht anschauen. Er ist gestolpert und sehr unglücklich gefallen.", sagte sie. Jesse protestierte zwar lautstark, dass ich ihm eine reingehauen hätte, doch Mike, Julian, Artur und ich bekräftigten, ebenso wie Hannah, dass es nicht stimmte. Ich sah sie an und formte ein alles ok mit den Lippen. Sie sah in meine Richtung und nickte.
„Jesse, du gehst zur Krankenstation und kommst danach zum Schulleiter. Hannah und Thomas, ihr geht da jetzt hin. Er soll entscheiden, wie wir in dieser Situation verfahren.", sagte einer der beiden Lehrer und scheuchten dann die anderen Schüler weg.
„Danke.", sagte Hannah leise in meine Richtung und schulterte ihre Tasche. Sie strich sich das Oberteil glatt und ging in Richtung des Schulleiterbüros.
„Was zur Hölle war das den gerade?", fragte Artur und ich starrte zu Boden.
„Ich habe versucht sie anzusprechen, aber es war, als hätte sie mich gar nicht gehört. Und dann, sobald die Lehrer gekommen sind, war sie wie ausgewechselt." Ich schüttelte ratlos den Kopf. Ich würde herausfinden, was das gerade eben gewesen war. Wie auch immer ich das anstellen würde. Und so folgte ich Hannah in Richtung des Schulleiterbüros.
•••••••
Sie hatte sich auf einen der rotgepolsterten Stühle gesetzt und hatte die Augen geschlossen. Mit den Beinen auf und ab wippend und schnippte sie sich wieder mit ihrem Haargummi gegen ihr Handgelenk. Ich setzte mich neben sie. Als ich sie ansprach, reagierte sie nicht. Also tippte ich ihr vorsichtig auf die Schulter und sie öffnete die Augen ruckartig.
„Hannah, was ist los?", fragte ich vorsichtig und sie sah mich aus glasigen Augen an.
„Mir geht es gut.", sagte sie und versuchte zu lächeln, wobei eine Träne aus ihrem Augenwinkel trat und ihr die Wange hinunterlief. Sie wischte sie mit ihrem Arm weg.
„Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Ich will nur helfen.", sagte ich leise und sie nickte.
„Ich weiß, aber man kann mir nicht helfen.", sagte sie. Einen Augenblick später öffnete sich die Tür zum Büro des Schulleiters und wir wurden hineingebeten.
„Hannah, Thomas, was ist da eben passiert?", fragte der Schulleiter desinteressiert und mehr als offensichtlich genervt. Nebenbei sah er auf seinen Computerbildschirm.
„Jesse aus der Zwölften hat Hannah belästigt und hat sie auch dann nicht in Ruhe gelassen, als sie sagte, er solle es doch bitte unterlassen. Daraufhin habe ich sie verteidigt. Jesse ist gestolpert und hingefallen.", erklärte ich. Der Schulleiter sah uns immer noch nicht an.
„Hannah, was hat Jesse zu Ihnen gesagt?"
„Er wollte mich auf ein Date einladen. Ich habe abgelehnt. Er sagte, ich sähe heiß aus, und dass man heiße Sachen nicht anbrennen lassen dürfte. Ich lehnte immer noch ab und bat ihn, mich in Ruhe zu lassen. Doch er ließ nicht locker und legte immer wieder seine Hand auf meine...", erzählte sie, doch wurde vom Schulleiter unterbrochen, der sie kurz aus dem Augenwinkel ansah und sich dann wieder dem Bildschirm widmete.
„Wenn Sie solche Oberteile anziehen, ist es kein Wunder, wenn sich Jungen in ihrem Alter von ihnen abgelenkt fühlen.", sagte er und räusperte sich. „Ich spreche später noch einmal mit Jesse und höre mir seinen Teil der Geschichte an. Sie werden alle drei verwarnt und sind alle drei für den Rest des Tages vom Unterricht suspendiert." Ich konnte es nicht fassen, dass es jetzt Hannahs Schuld war, dass dieser Mistkerl sie angebaggert hatte. Ich wollte gerade etwas erwidern, als Hannah nach meiner Hand griff und den Kopf leicht schüttelte, womit sie mir signalisierte, dass es sich nicht lohnen würde, sich jetzt auch noch mit dem Rektor anzulegen. Sie stand auf und ging durch die Tür. Ich folgte ihrem Beispiel, rotzte den Stuhl gegen den Tisch und verließ stampfend den Raum.
„Wie kannst du dir das gefallen lassen?", sagte ich wütend, doch sie zuckte nur mit den Schultern.
„Es ist doch immer das Selbe. Es passiert irgendetwas und der Täter wird als Opfer dargestellt.", sagte sie kraftlos.
„Ich hole meine Tasche von oben. Wenn du mit mir reden möchtest, dann warte hier. Wenn nicht, dann geh. Aber ich will wenigstens versuchen, zu verstehen, was eben passiert ist.", sagte ich, drehte mich um und lief in den zweiten Stock.
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