Kapitel 7
HANNAH
Als ich die Haustür aufschloss und eintrat, rief ich durch die Wohnung, dass ich wieder da sei und meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer geschossen.
„Hannah, Schatz, wo warst du so lange. Wir haben uns schon Sorgen gemacht!", sagte sie vorwurfsvoll und umarmte mich. Sofort fing ich an, unbewusst zu filtern, was ich meinen Eltern nun alles erzählen konnte und was nicht.
„Ich hatte bis halb fünf Unterricht. Danach bin ich noch mit meinem Projektpartner in ein Restaurant gegangen. Für die Aufgabe in Erdkunde.", sagte ich knapp und meine Mutter lächelte mich an.
„Das hört sich schön an. Ich habe Essen gemacht.", sagte sie und zeigte mir damit mal wieder, dass sie mir nicht zugehört hatte.
„Ich hab eigentlich noch ziemlich viel zu tun. Esst ruhig, ich mach noch meine Aufgaben.", erklärte ich und meine Mutter sah mich vorwurfsvoll an.
„Wenn du noch so viel zu tun hast, will ich nicht, dass du dich mit jemandem triffst, wenn du noch nicht fertig bist.", meckerte sie wütend und ich verdrehte innerlich die Augen. „Geh schon, ich bring dir was zu essen nach hinten.", fügte sie dann hinzu. Nach einem Abstecher ins Wohnzimmer, um meinen Vater zu begrüßen, ging ich dann endlich in mein Zimmer und schloss die Tür. Müde sackte ich dahinter zusammen und vergrub die Hände im Gesicht. Dieser Tag hatte wieder so viel Kraft gekostet.
Nach ein paar Minuten stand ich erschöpft auf und legte meine Sachen auf meinen Schreibtisch. Ich schrieb noch ein wenig am Essay, mehr hatte ich aber eigentlich auch nicht zu tun. Nachdem meine Mutter mir das Essen gebracht hatte, dass ich irgendwie loswerden musste, da ich nach meinem Burrito keinen Hunger mehr hatte, und meine Mutter die Tür hinter sich geschlossen hatte, seufzte ich und legte meinen Kopf auf den Tisch.
Die elfte Klasse ohne Freunde auf der selben Schule zu überleben war echt schwer. Ich könnte mir Neue suchen, aber das bedeutete, dass ich ihnen vertrauen musste und wir nach der Schule Sachen zusammen machen würden und das würde bedeuten, dass ich noch länger mein Lächeln aufrecht erhalten musste. Aber vertrauen konnte ich nicht mehr.
Ich hatte mein Herz so oft allem und jedem vor die Füße gelegt und jedem vertraut, dass ich das einfach nicht mehr machen konnte. Die Personen hatten das immer als Einladung gesehen, darauf herum zu trampeln. Vertrauen machte einen schwach und Schwäche konnte ich mir nicht leisten. Hier, hinter geschlossener Tür konnte ich endlich loslassen und konnte dieses glückliche Gesicht endlich ablegen. Um mich auf andere Gedanken zu bringen, laß ich den restlichen Abend über bis spät in die Nacht.
•••••••
Das fiel mir dann spätestens am nächsten Morgen auf die Füße. Ich war hundemüde und konnte mich nur mit Kaffee gerade so wach halten. Ich hatte die restliche Woche über weder Erdkunde, noch Mathe, von daher wusste ich nicht, ob ich Thomas wieder sehen würde. Nach unserer Versöhnungsaktion fand ich das eigentlich sogar ziemlich schade. Ich erwartete nicht, dass wir beste Freunde wurden, aber ein guten Morgen wäre ja vielleicht schon mal ein Anfang.
Wie ich angenommen hatte, sah ich ihn den Rest der Woche über nicht über nicht. Doch am folgenden Mittwoch, stellte er sich in der Mittagspause neben mich, als ich mich dazu überwunden hatte, in die Mensa zu gehen, um mir irgendetwas halbwegs Essbares zu kaufen.
„Blup, wir treffen uns heute Abend am U-Bahnhof Rohrdamm. Um halb sechs.", sagte er und verschwand wieder. Was war das denn gerade gewesen und was hatte er vor? Ich dachte lange darüber nach, ob ich zu dem Treffpunkt kommen sollte, entschied mich dann aber dafür.
•••••••
Pünktlich um halb sechs stand ich am Bahnhof und wartete auf Thomas. Er kam fünf Minuten zu spät. „Hallo.", begrüßte er mich und ich lächelte ihn an. „Ich habe etwas unglaublich Tolles vor und ich hoffe, du machst mit.", sagte er, als wir begannen, den Rohrdamm hinunter zu laufen. Während wir liefen, fragte ich mehrfach, was denn sein genialer Plan sei, doch ich bekam keine Antwort. Bei der Hausnummer 83 blieb er stehen und sah mich mit leuchtenden Augen an. Wir kletterten über ein paar eingeknickte und verrostete Zäune, bis wir zu einer Absperrung gelangten. Dahinter befand sich eine breite Böschung mit Schutt und Ästen.
„Pass auf, was du hier anfasst. Hier liegen überall benutze Spritzen von den Junkies, die hier manchmal sind.", warnte er und sah mich abwartend an. Ich lief einfach weiter, ohne näher darauf einzugehen. Er schüttelte grinsend den Kopf und ich sah ihn fragend an. Als wir oben angekommen waren, standen wir auf zerfallenen Gleisen, die nach einigen Metern in einem kleinen Wäldchen mitten auf der Brücke endete.
Der Bahnsteig neben uns war stark heruntergekommen. An der Bahnsteigkante befand sich buntes, aber vor allem weißes Graffiti und das Gleisbett war mit Moos und Gras überwuchert. An einer Stelle weiter hinten hatte sich ein kleines Bäumchen seinen Weg durch die Schienen gebahnt. Eine der Bahnhofsuhren war herausgeschlagen, die andere hing nur noch am letzten Faden im Uhrengehäuse. Überall lagen Spritzen im nassen Gebüsch und gammelten dort vor sich hin. An der Wand, an der den Spuren nach zu urteilen einmal Bahnhof Siemensstadt gestanden hatte, fehlten einige Buchstaben. Sie sahen metallisch aus. Es wunderte mich, dass überhaupt noch einige vorhanden waren. Das hier musste der Geisterbahnhof Siemensstadt sein. „Ok, cool.", kommentierte ich und fing an, ein paar Fotos zu machen. Thomas begann zu lachen. Ich drehte mich zu ihm und sah ihn skeptisch an.
„Ich sage dir, dass hier überall Junkie-Zeug liegt und du zuckst nur mit den Schultern und gehst weiter, ohne besser auf den Weg zu achten oder sowas. Ich präsentiere dir den heruntergekommensten Bahnhof in ganz Berlin und dein Kommentar dazu ist: Ok, cool.", sagte er und begann noch lauter zu lachen. „Du bist definitiv nicht wie die anderen.", bemerkte er, als er sich wieder beruhig hatte.
„War das gerade ein Kompliment?" Er nickte lächelnd. „Das Ziel dieses ganzen Plans war nur heraus zu finden, ob du so etwas mitmachen würdest, oder ob du dich anstellen würdest, wie eins dieser Mädchen die kreischen, sobald man sie irgendwo hinbringt, wo man umknicken, oder sich das Make-Up oder die Frisur ruinieren könnte.", sagte er „Hannah, ich glaube dieses Projekt wird lustig mit dir.", fügte er hinzu. Ich grinste. Der Junge konnte also doch nett sein.
Der Bahnhof war heruntergekommen und die Natur eroberte ihn sich langsam aber sicher wieder zurück. Doch gerade diese wilde, verwucherte Art machte den Ort so interessant. Eigentlich war es sehr friedlich hier. Nach einer halben Stunde gingen wir den selben Weg zurück, den wir gekommen waren und machten uns wieder auf den Weg zur U-Bahn.
Am Freitag, hatte ich mich wieder in die Mensa gesetzt. Warum auch immer, ich wusste es nicht. Ich konnte diesen Ort nicht ab. Es stank nach Essen und überall rannten Kinder zwischen den Tischen hin und her, spielten Fangen und schrien herum. Ich saß alleine an einem Tisch, stocherte in meinem Salat herum, den ich als halbwegs essbar eingestuft hatte, und laß nebenbei, als sich eine Hand auf meine Schulter legte und ich zusammen zuckte. Es war Thomas.
„Hallo.", sagte er freudig und setzte sich zusammen mit den drei anderen Jungen, die am Dienstag ebenfalls bei ihm gestanden hatten, zu mir.
„Hey.", begrüßte ich sie skeptisch. Warum sprachen die beliebtesten und bekanntesten Jungen der Schule freiwillig mir mir?
„Wir setzen uns dann mal zu dir.", sagte einer der Jungen. Ich glaube es war Mike, wenn ich mich richtig erinnerte.
„Also, Blup, das ist Mike.", stellte Thomas ihn mir vor und ich sah ihn an. Er hatte grüne Augen und seine kastanienbraunen Haare lagen in einer perfekten Welle auf seinem Kopf. „Das ist Julian.", fuhr Thomas fort und deutete auf einen sehr groß aussehenden Jungen neben sich. Julian hatte ebenfalls grüne Augen, die aussahen, wie kleine Smaragde. Seine blond-braunen Haare waren lockig und luden quasi dazu ein, mit der Hand durch sie hindurch zu fahren. „Und das ist Artur. Er hat ne große Klappe, aber ist eigentlich nett.", beendete Thomas seine Vorstellungsrunde und zeigte auf den Jungen neben Mike. Er hatte kurze, braun-schwarze Haare und sah sehr selbstbewusst aus. Er lehnte lässig auf seinem Stuhl und strich sich über die Haare.
„Na, Kleine? Thomas hat uns schon alles über dich erzählt.", sagte er und zwinkerte mich an. So ein Typ war er also. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
„Du verstörst sie, wenn du ein Gespräch so anfängst.", tadelte Mike und Artur hob abwehrend die Hände.
„Warum genau seid ihr jetzt hier?", erkundigte ich mich vorsichtig und sah Thomas an.
„Du hast einsam ausgesehen und da haben wir beschlossen, uns zu dir zu setzten."
„Eigentlich hat Thommy das alleine beschlossen. Wir sind ihm einfach gefolgt.", sagte Mike und Thomas warf ihm einen anklagenden Blick zu.
„Hat einer Bock, die letzten zwei Stunden zu schwänzen und irgendwas Cooles zu machen?", fragte Artur und sah in die Runde. Ich hatte noch nie geschwänzt.
„Meinetwegen.", sagte Julian schulterzuckend und Mike und Thomas sahen mich fragend an.
„Kommst du mit, Blup?", fragte Thomas und ich überlegte kurz, was das Schlimmste sein würde, was passieren könnte. Die Schule würde meine Eltern anrufen und die würden ausrasten. Aber das würde schon nicht passieren. Hoffentlich. Also nickte ich.
„Na dann iss mal deinen Salat auf.", sagte Mike und ich lächelte. Mike schien ok zu sein. Bei Julian und Artur war ich mir noch nicht wirklich sicher. Während ich aß, klärten die Jungen, was wir nun machen würden.
„Wir gehen in den nächsten Supermarkt, kaufen uns etwas zu trinken und setzten uns in den Park. Wie immer würde ich sagen.", schlug Artur vor und die anderen nickten zustimmend.
•••••••
Nachdem wir uns schlussendlich im Supermarkt für eine Flasche Hugo und fünf Bier entschieden hatten, stellte sich heraus, dass Julian und Artur bereits achtzehn waren. Artur kaufte sich noch eine Packung Lucky Strike und flirtete mit der Kassiererin. Anschließend setzten uns in einen Park ein paar Häuserblocks von der Schule entfernt.
„Will noch jemand eine Kippe?", fragte Artur in die Runde und wir schüttelten alle den Kopf. „Hast du schon einmal geraucht, Hannah?", fragte er neugierig, während er an seiner Zigarette zog und ich sah ihn aus dem Augenwinkel an. Das hatte ich. Ich war aber zu dem Schluss gekommen, dass ich damit aufhören sollte.
„Ja, habe ich." Die Jungen rissen den Mund auf und lachten.
„Unsere kleine Miss Perfect hier war unartig.", sagte Julian und grinste. Nein, Julian und Artur waren mir definitiv unsympathisch.
„Na und?", fragte ich und trank einen großen Schluck Bier.
„Du bist die Letzte, von der ich das erwartet hätte.", sagte Mike lachend und ich zuckte mit den Schultern.
„Ich halte nicht mehr wirklich etwas davon.", fügte ich hinzu und Thomas sah mich an. Ich konnte seinen Blick nicht deuten.
„In drei Wochen steigt irgendwo eine Party. Willst du mitkommen?", fragte Julian und ich nickte. Warum eigentlich nicht. Ob das eine gute Idee war, würde sich zeigen.
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