
Kapitel 10
HANNAH
Ich stand mir im Foyer die Beine in den Bauch. Wollte ich, dass er es wusste, oder wollte ich es nicht? Ich wusste es nicht.
Ich wollte, dass er es wusste, aber ich wollte es ihm nicht erzählen. Aber eigentlich war er nett. Allerdings wollte ich nicht schon wieder verletzt werden. Ich konnte und wollte ihm nicht alles erzählen.
Andererseits würde er mich vielleicht nicht verurteilen. Aber woher sollte ich das wissen. Vielleicht war er so, wie die anderen. Aber er wusste, dass etwas mit mir nicht stimmte. Ich konnte das nicht schon wieder. Vielleicht war er anders. Das hatte ich bei meinen Freunden jedoch auch gedacht.
Wenn ich ihm jetzt alles erzählen würde, würde ich mich damit verwundbar machen. Ich würde ihm damit signalisieren, dass ich ihm vertraute. Aber das tat ich nicht. Noch nicht zumindest. Im Allgemeinen konnte er, denke ich, ganz nett sein. Wenn man ihn nicht beleidigte oder anschrie und einfach ein normales Gespräch mit ihm führte, war er fast schon witzig. Aber woher zum Teufel sollte ich wissen, wie er reagieren würde, wenn ich mit ihm reden sollte. Es war frustrierend.
'Hannah, du musst endlich diese beschissenen Vertrauens- und Verlustängste ablegen. Wie soll das denn sonst weiter gehen mit dir?', schrie ich mich in Gedanken an. Ich hatte eindeutig ein Problem. Ich musste Thomas erst besser kennenlernen. Ich würde es ihm nicht erzählen. Zumindest, nicht alles. So vielen Leuten hatte ich schon zu früh vertraut und war am Ende immer verlassen worden. Bis zu einem gewissen Maß konnte man das mitmachen, allerdings hatte ich diesen Punkt bereits vor ungefähr drei Jahren überschritten. Noch so einen Verlust könnte ich beim besten Willen nicht ertragen. Doch jetzt stand ich mir hier alleine die Beine in den Bauch und wartete trotzdem auf diesen Jungen, den ich erst seit zwei verdammten Wochen kannte.
Für einen Rückzieher war es jetzt allerdings auch schon zu spät, denn Thomas kam mit seinem Rucksack über der Schulter auf mich zu. „Du bist noch da.", stellte er erleichtert fest und ich zwang mich zu einem Lächeln. „Lass und irgendwo anders hingehen.", schlug er vor und ich nickte. Wir machten uns auf den Weg zur U-Bahn und mussten zum Glück nicht lange auf die Bahn warten.
Am Sophie-Charlotte-Platz stiegen wir aus und liefen in den Schlosspark. Wir kamen am See vorbei und gingen weiter in den Park hinein, bis wir nach gut zehn Minuten auf einer großen Freifläche standen, auf der sich vereinzelt Bäume befanden. Wir waren, abgesehen von einem alten Ehepaar auf einer Parkbank ein Stück von uns entfernt, die einzigen. Was kein Wunder war, es war ja gerade einmal halb elf. Die meisten Leute arbeiteten um diese Zeit, oder saßen in der Uni oder der Schule. Da, wo ich eigentlich auch gerade sein sollte. Wie zum Teufel sollte ich das meinen Eltern erklären, wenn sie das jemals herausfanden. Ich setzte mich auf den Boden neben Thomas.
„Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber ich würde dich gerne besser kennenlernen. Und was auch immer los ist, ich werde dich nicht dafür verurteilen." Das hatten die anderen auch alle gesagt, bevor sie mich verurteilt und alleine gelassen hatten. Ich lachte kurz auf und Thomas sah mich irritiert an.
„Nein. Ich kann das nicht.", sagte ich und wollte aufstehen, doch er hielt mich fest. Meine Haut begann unter seiner Berührung zu prickeln. Ich sah seine Hand an, er ließ mich los.
„Stoß mich jetzt bitte nicht weg.", sagte er leise. Ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen und in meine Augen treten wollten. Warum geschah das immer im falschen Moment verdammt. Welchen Eindruck hatte er denn bitte von mir, wenn ich jetzt losheulte. „Was ist los mit dir?"
„Zu viel.", platzte es aus mir heraus. Doch in der Sekunde, in der ich es ausgesprochen hatte, bereute ich es breites. Irgendwie musste ich das jetzt wieder hinkriegen. „Zu viel ist mit mir los. Und du kannst daran nichts ändern. Du kannst mich nicht reparieren, weil zu viel in mir kaputt ist, als das es je wieder repariert werden kann!", sagte ich laut und merkte, dass das nicht wirklich hilfreich gewesen war.
'Super gemacht, Hannah, ganz toll!' Er sah mich aus großen Augen an. „Wenn es hart auf hart kommt, sag mir, wirst du dich dann für, oder gegen mich entscheiden. Wenn es kompliziert wird, lässt du mich fallen, oder hilfst du mir, mich wieder aufzurappeln. Und sag mir die Wahrheit. Denk drüber nach. Wenn ich am Boden bin, hilfst du mir aufzustehen, oder gehst du weiter?", fragte ich und er sah mich an.
„Wer hat dich so verletzt?", fragte er mitleidsvoll und ich merkte, wie die ersten Tränen meine Haut benetzten. Ich wollte sein Mitleid nicht und erst recht wollte ich nicht weinen. Nicht in der Öffentlichkeit, nicht vor ihm. Nicht vor jemandem, den ich erst seit zwei Wochen kannte. Was würde er bloß von mir denken, wenn ich jetzt in Tränen ausbrach. Ich sah nichts mehr und wischte mir mit dem Arm übers Gesicht.
„Ich helfe dir aufzustehen.", sagte er mit entschlossener Miene. Ich sah ihm in die Augen.
„Du kannst die Frage gar nicht beantworten verdammt. Wir kennen uns seit zwei verdammten Wochen. Du kennst mich nicht! Und ich kenne dich nicht. Woher soll ich wissen, dass du es ernst meinst?", rief ich frustriert und strich mir erneut mit dem Handrücken übers Gesicht. Er hielt meinem Blick stand und wich mir nicht aus, sondern sah mir direkt in die Augen. Zum ersten Mal fiel mir auf, was für eine faszinierende Farbe sie hatten. Es war ein kräftiges kobaltblau mit einzelnen gesprenkelten orange-braunen Punkten darin. Mein Magen zog sich komisch zusammen und meine Haut begann zu kribbeln.
„Erzähl es mir.", sagte er und meine Körperspannung ließ kurz nach. Meine Schultern sackten für den Bruchteil einer Sekunde nach unten und ich spürte, wie ich nachgeben wollte. Ich wollte es ihm erzählen. Ich wollte, dass er es wusste, aber ich konnte nicht. Bevor ich mich wieder fangen konnte, zog er mich in eine Umarmung. Für einen kurzen Moment war ich etwas überrascht und wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Seltsamer Weise, tat die Umarmung aber gut. Ich fühlte nicht diese Ohnmacht und das Gefühl, als würde ich ersticken, während er mich berührte. Es fühlte sich gut an, mich an jemanden lehnen zu können. Er hielt mich fest, bis ich mich wieder unter Kontrolle hatte.
„Heute, das mit Jesse. Es ist ein bisschen kompliziert und eine sehr lange Geschichte. Ich denke nicht, dass ich schon bereit dazu bin, sie dir zu erzählen.", sagte ich leise und er nickte nur.
„Ok. Aber irgendwann kennen wir uns besser und wenn du es mir dann erzählen willst, höre ich zu.", sagte er nach kurzem Überlegen leise und ich nickte. Ich rückte wieder ein Stück von ihm weg und richtete mich auf. „Was meintest du vorhin damit, dass es immer das Selbe ist?", fragte er nach ein paar Minuten des Schweigens.
„Als Frau musst du dir andauernd so dumme Sprüche, wie heute Vormittag anhören." Er sah mich verwirrt an. Wie sollte es auch anders sein. „Wenn du zufrieden mit deinem Körper bist und kurze Sachen anziehst, wirft man dir vor, dass du damit die Jungs ablenken würdest und du dich so nicht anziehen solltest. Du wirst angefasst oder vergewaltigt und du wirst nur gefragt: Wie viel hast du in der Nacht getrunken, was hattest du an oder fühl dich doch geehrt, der Typ fand dich halt heiß. Oder dir werden Sätze an den Kopf geworfen, die einfach nur unnötig sind. Du könntest hübsch sein, wenn du dich anstrengen würdest. Ist das alles, was du isst? Aber auf der anderen Seite dann auch: du isst aber viel für ein Mädchen." Wir standen auf und begannen uns wieder in Bewegung zu setzen. Mittlerweile liefen wir durch den Park. Er schwieg lange, bevor er etwas sagte.
„Ich hätte nie gedacht, dass es so hart ist, ein Mädchen zu sein."
„Tja, naja, es hat manchmal auch seine Vorteile." Er sah mich an und grinste.
„Lass uns Eis essen gehen.", schlug er vor und ich nickte. Wir liefen den ganzen langen Weg zurück zum Schloss, am See vorbei, zum Ausgang hin. Die Schlossstraße hatte einen breiten Mittelstreifen, der die breite Straße in zwei Hälften teilte. Der Kiessand war am Rand mit Gras, vereinzelten Büschen und Bäumen gesäumt. Der Duft von Flieder stieg mir in Nase und für einen kurzen Moment schloss ich die Augen. Dieser Geruch erinnerte mich immer wieder an meine Ferien bei meinen Großeltern. Bei ihnen im Vorgarten stand seit ich denken konnte, ein riesiger Fliederbusch und jedes Mal, wenn ich in den Ferien bei ihnen gewesen war, konnte ich schon von weitem den Geruch der Blüten wahrnehmen. Dafür, dass es bereits Mitte August war, war es noch wahnsinnig warm, doch ich genoss die heiße Sonne auf meiner Haut.
Wir liefen ein Stück die Straße hinunter, bogen um eine Ecke und nach gut zehn Minuten hatten wir beide jeweils eine Kugel Eis in der Hand und saßen vor dem Eisladen.
„Ich denke, dieses Projekt mit dir zu machen wird gar nicht so schlimm, wie ich gedacht habe.", sagte Thomas und lächelte. „Du bist auch ganz in Ordnung.", gab ich nickend zur Antwort.
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