Ein Geist und ein...Unfall?
Sam stieg aus und ging bereits auf das Baumhaus zu, sodass ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.
Als er schließlich unter dem hölzernen Clubraum zum Stehen kam, ließ er mir ein paar Sekunden, ehe er hinaufrief.
»Jackson Donovan? Agent Evans und Miller. Wir hatten vor ein paar Stunden telefoniert.«
Wir warteten einen Moment, aber weil keine Reaktion kam, sah ich Sam stirnrunzelnd an.
»Bist du sicher, dass der Junge hier ist?« Irgendwie hatte ich nicht das Gefühl, dass er auf uns wartete.
Aber Sam nickte. »Er hat gerade aus dem Fenster geguckt.«
Ich trat noch einen Schritt näher heran, damit ich nicht die gesamte Nachbarschaft zusammenbrüllte, als ich einen erneuten Versuch startete. Der Junge musste sich doch aus seinem Versteck herauslocken lassen.
»Mr. Donovan, wir wollen nur kurz mit Ihnen sprechen. Das wäre allerdings etwas einfacher, wenn Sie zu uns herunter- oder wir zu Ihnen heraufkommen würden«, rief ich mit möglichst versöhnlicher Stimme.
Ich wollte den Jungen auf keinen Fall zusätzlich verschrecken. Wobei ich in meinem momentanen Zustand vermutlich nicht besonders furchteinflößend aussah.
»Mr. Donovan?«, fragte Sam ungläubig. «Der Junge ist vierzehn Jahre alt.«
Schulterzuckend sah ich dabei zu, wie Jackson die Klappe des Baumhauses öffnete und eine Strickleiter herunterließ. Ich nickte in Richtung des sich uns bietenden Anblicks.
»Es funktioniert. Warst du nie jung? Manchmal wollen Teenies eben gern wie Erwachsene behandelt werden. Warum sollte man es ihnen verwehren, wenn man so kriegt, was man will?«
Schmunzelnd beobachtete ich, wie der Junge seinen Kopf durch die Luke steckte und uns von oben musterte.
»Du wirst bestimmt eine gute Mutter«, murmelte Sam grinsend und erstaunlicherweise fühlte ich mich ehrlich geschmeichelt.
»Agents«, rief Jackson von oben. »Sie können hochkommen. Dann kann ich Ihnen gleich zeigen, wie das mit Mike passiert ist.«
Fragend sah ich Sam an. Der verstorbene Junge hieß Nathan. Also musste Mike einer der verletzten sein.
»Der mit dem gebrochenen Bein«, klärte Sam mich auf, ehe er noch ein paar Schritte auf den Eingang des Baumhauses zu machte.
Es gab da nur ein klitzekleines Problem. Ich sah die Strickleiter an und dann meinen Bauch.
»Äh Sam, ich glaube du musst allein da hoch.« Denn so gern ich gewollt hätte, ich glaubte nicht wirklich dort hochklettern zu können.
»Oh ja, richtig. Dann warte hier. Ich spreche mit dem Jungen.« Entschuldigend hob er die Hände und griff dann nach der ersten Sprosse, die ihm zwischen die Finger kam.
Sam so dabei zuzusehen, wie er die Strickleiter hochkletterte als wäre er schon siebzig Jahre alt, entschädigte mich allerdings dafür, dass ich unten warten musste.
Zweimal lehnte er sich so weit nach hinten, dass er beinah mit einer Rückwärtsrolle wieder im Gras gelandet wäre und da konnte ich mir ein leises Kichern nicht verkneifen. Ich hätte nicht gedacht, dass er so ungeschickt war was das Klettern anging.
»Hör auf zu lachen. Das ist verdammt schwer«, hörte ich ihn leise fluchen und war ihm noch dankbarer, dass er mich aus dem Bunker herausgeholt hatte.
Ich hatte schon ewig nicht mehr so gelacht wie in diesem Moment. Sams Gesichtsausdruck war einfach unbezahlbar.
Während der jüngere Winchester in dem Baumhaus der Jungs verschwand, stand ich unten auf dem Rasen und genoss die Sonne in meinem Gesicht. Wie hatte ich diese Wärme vermisst! Ich war fast versucht, mich auf den Rasen zu legen, mich der Wärme hinzugeben und ein wenig zu dösen.
Das Gespräch dauerte allerdings nicht lange und ich schnappte ein paar Wortfetzen auf. Nathan war bei einem Unfall gestorben. Die Jungen hatten in einer Ruine herumgealbert, die sie durch Zufall bei einem ihrer Streifzüge gefunden hatten. Dabei war Nathan durch ein Loch im Boden des Obergeschosses gestürzt. Er war so schwer verletzt gewesen, dass er noch vor Ort verstorben war.
Ich schluckte. Es brauchte eben nicht immer einen verrückten Tod oder einen Mord, damit ein Geist an diese Welt gebunden blieb. Bei Jugendlichen und Kindern waren mir die Fälle schon immer sehr nahe gegangen, aber anscheinend fiel es mir jetzt noch schwerer, mich zusammenzureißen. Denn ich spürte bereits, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete.
»Also dann, danke für deine Zeit.« Sams Stimme riss mich aus meinen Gedanken, da stand er bereits fast wieder neben mir.
Die letzte Sprosse nahm er springend, wahrscheinlich um zu beweisen, dass er sehr wohl mit Strickleitern umgehen konnte. Ich biss mir auf die Unterlippe, um nicht schon wieder zu lachen.
»Kein Problem, Agent Evans. Ich helfe immer gern«, erklang die Stimme des Jungen über uns, ehe auch er ein paar Sprossen herunterkletterte.
Er musterte mich einen Moment, während er wie ein Äffchen an der Leiter hing und pfiff dann anerkennend.
»Ist bestimmt Ihr Kind, oder? Ihre Partnerin ist echt ein scharfes Gerät, da hätt' ich auch nichts anbrennen lassen«, rief Jackson von seiner Kinderleiter aus seinem Baumhaus hängend zu uns herunter, als wir uns eigentlich gerade umdrehen wollten.
»Okay... Ähm... Danke, nehme ich an?", rief ich mit etwas irritiertem Lächeln zu dem vierzehnjährigen Jungen mit der verkehrtherum sitzenden Cap und den Kaugummi im Mund hoch.
Jackson setzte ein überhebliches Grinsen auf und nickte mir zu, ehe er wieder im Baumhaus verschwand.
Als ich Sam daraufhin ins entsetzt dreinblickende Gesicht sah, musste ich doch wieder lachen.
»Respekt vor den Behörden scheint auch niemand mehr zu haben. Ich meine, wir sind die Homeland Security und er sagt sowas«, grummelte er vor sich hin.
»Sind wir nicht Sam. Und außerdem wollte er doch bestimmt nur nett sein. Scharfes Gerät hat mich noch nie jemand genannt.« Ich grinste frech, als ich die Fahrertür meines Wagens öffnete.
»Ich glaube eher, dass das Testosteronüberschuss war und keine Freundlichkeit«, brummte er weiter.
Sam ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und zog die Tür zu. »Vor nicht mal fünf Minuten hat er noch heulend in dem Baumhaus gesessen.«
Ich startete den Wagen, ohne Sam noch einmal anzusehen.
»Mit Hormonschwankungen ist nicht zu spaßen. Glaub mir, ich kenne mich inzwischen damit aus«, seufzte ich. »Also gut, wo geht's jetzt hin?«
»Zur Mutter des verstorbenen Jungen. Jackson sagte, sie hatten alle so eine Actionfigur als eine Art Clubausweis. Keine Ahnung. Bis vor zwei Tagen stand sie noch im Baumhaus, aber Nathans Mutter wollte seine Sachen gern zuhause haben.«
Sam dirigierte mich durch die Straßen zu besagtem Haus.
»Ich könnte mir vorstellen, dass die Figur der Gegenstand sein könnte, an den sich Nathan gehangen hat«, unterbrach er seine Navigation für einen Augenblick.
Ich nickte zustimmend. Es klang logisch, wenn ihm diese Figur etwas bedeutet hatte. Zumal es erklärte, warum seine Kumpels zu Schaden gekommen waren, solange sie im Baumhaus gestanden hatte.
Einige Minuten später hielten wir bereits vor dem Einfamilienhaus des verstorbenen Jungen.
»Diesmal komme ich mit rein!«, erklärte ich fast ein bisschen zu erfreut. Ich sollte meinen Enthusiasmus wirklich etwas herunterschrauben. Immerhin hatte die Frau ihren Sohn vor ein paar Wochen verloren.
»Klar, diesmal gibt es ja auch keine Strickleiter zu erklimmen«, entgegnete Sam erleichtert auf dem Weg zur Haustür.
»Zu deinem Glück. Sonst müsstest du wohl diesmal draußen warten«, kicherte ich. Diese Spitze hatte ich mir einfach nicht verkneifen können.
Augenverdrehend drückte Sam die Klingel und nur Sekunden später öffnete sich die Tür.
»Ja?«, fragte die zierliche Frau, die uns aufgemacht hatte. Sie sah blass und ausgemergelt aus. Ihr helles Haar war zerzaust und die Ringe unter ihren Augen dunkel, was absolut verständlich war, angesichts dessen, was sie durchgemacht haben musste.
»Mrs. Stevens? Ich bin Agent Miller und das ist mein Partner Agent Evans. Er hatte uns telefonisch bereits bei Ihnen angekündigt. Wir sind hier wegen -«
»Wegen Nathans Unfall. Ich weiß schon. Wobei ich nicht verstehe, was sie hier wollen. Immerhin war es ebendas. Ein Unfall.«
Ich nickte verstehend. »Wir hätten trotzdem noch ein paar Fragen an Sie. Wenn sie gestatten, würden wir gern hereinkommen.«
Ihr Blick glitt von mir zu Sam und wieder zurück, wobei er eine Weile auf meinem Bauch ruhte. Dann stimmte sie stumm zu, indem sie die Tür weiter öffnete und einen Schritt zur Seite trat.
»Danke«, sagte ich und trat, Sam dicht hinter mir, ins Haus ein.
In der Küche des Hauses bot uns Mrs. Stevens Getränke an, aber wir lehnten höflich ab. Ich wollte die Frau nicht länger belästigen als notwendig und Sam schien genauso zu denken.
»Zunächst möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen«, begann Sam das Gespräch.
»Danke«, flüsterte sie und schien den Tränen nahe.
»Ist Ihr Sohn öfter in der Nähe der Ruine gewesen?«, fragte er, um den Anschein einer Befragung zu wecken.
Einfach darum zu bitten, die Figur zu bekommen, wäre definitiv nicht die richtige Strategie.
»Nicht das ich wüsste, aber Nathan ist – entschuldigen Sie – war auch nicht gerade gesprächig, wenn es um seine Freunde ging.«
Die Stimme von Mrs. Stevens klang mit jedem Wort dünner und nach der vierten Frage, die Sam stellte, flossen die Tränen über ihre Wangen.
»Mrs. Stevens, ich kann nicht nachvollziehen, wie schwer das hier für Sie sein muss. Aber dürften wir uns vielleicht Nathans Zimmer einmal ansehen?«, fragte ich vorsichtig und senkte den Blick.
Ich konnte die gebrochene Frau vor mir nicht länger ansehen, ohne dass mir selbst die Tränen kamen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn es sein muss. Aber ich würde gern hierbleiben. Ich kann da jetzt nicht rein. Ich brauche einen Moment.«
»Natürlich! Welche Tür ist es? Dann können Sie sitzen bleiben. Wir sind auch in wenigen Minuten weg«, versprach ich und ließ mir von ihr erklären, welches Zimmer Nathan gehört hatte.
Sam folgte mir in den kleinen Raum und lehnte die Tür hinter uns an.
Mit den Händen auf meinem Bauch schaute ich mich in dem Zimmer um. Es war ein typisches Jungenzimmer. Sportklamotten lagen in der Ecke, ein paar Comics lagen auf dem Schreibtisch verstreut und der Controller irgendeiner Spielkonsole lag auf dem Bett. Ob das Zimmer meines Sohnes auch irgendwann mal so aussehen konnte?
Wenn ich ein normales Leben gehabt hätte, bestimmt. So war es wohl unmöglich.
»Geht es dir gut?«, fragte Sam und ich nickte.
»Ja, ich war gerade nur in Gedanken. Also, wo steht die Figur?« Ich sah mich suchend in dem kleinen Raum um ehe mein Blick auf das kleine Regal über dem Fernseher fiel.
»Ist sie das?«, fragte ich und zeigte auf eine Plastikfigur, etwa zwanzig Zentimeter hoch. Sie sah aus, wie die Nachbildung irgendeines Superhelden.
Sam nahm sie vom Regalbrett und betrachtete sie kurz. Dann nickte er. »Ich denke ja. Sie sieht den anderen dreien sehr ähnlich, die Jackson mir gezeigt hat.«
Gerade als Mrs. Stevens die Tür öffnete, ließ Sam die Figur in seinem Jackett verschwinden.
»Ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte sie und wirkte plötzlich nicht mehr so angetan davon, dass wir in dem Zimmer ihres Sohnes waren.
»Ja, danke. Wir sind hier auch fertig.« Ich wollte gerade an ihr vorbei aus dem Zimmer gehen, als sie mich an meinem Arm zurückhielt.
»Sie haben großes Glück, also passen Sie gut auf ihr Kind auf. Man weiß nie, wie schnell sie einem aus den Fingern gleiten.« Ihre Stimme war zittrig und leise und für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich das Gefühl, sie würde ihre Hand nach meinem Bauch ausstrecken wollen. Aber sie tat es nicht.
»Das tue ich«, erwiderte mit ähnlich zittriger Stimme und musste schlucken. Tat ich das wirklich? Ich war hier draußen unterwegs, während überall Engel auf uns lauern konnten. Damit setzte ich ihn unnötiger Gefahr aus. Also tat ich es eigentlich nicht.
»Ich bringe Sie zur Tür.« Mit diesen Worten ließ sie meinen Arm los.
҉
Sam und ich waren ein Stück aus der Stadt herausgefahren, um etwas ab von der Straße die Figur zu verbrennen. Die Fahrt über hatte niemand etwas gesagt. Ich glaubte, dass Sam das ein ums andere Mal mit sich gerungen hat, aber das Wort hatte er dennoch nicht ergriffen. Und ich hatte nicht gewusst, wie ich ein Gespräch hätte beginnen sollen, ohne dass es zwangsläufig auf den Kleinen hinausgelaufen wäre.
Jetzt standen wir zwischen einer kleinen Baumgruppe und Sam legte die Figur auf einen Stein, während ich die Flasche mit Spiritus aufschraubte.
»Mein Feuerzeug ist in meiner Tasche im Kofferraum«, erklärte ich.
Sam nickte und ging zurück zu meinem Wagen.
Gerade als ich etwas Spiritus auf der Figur verteilte, spürte ich einen kräftigen Stoß in meinem Rücken und nur Sekunden später verlor ich das Gleichgewicht. Mit einem spitzen Schrei fiel ich nach vorn.
Im letzten Moment drehte ich mich so, dass ich nicht auf meinen Bauch fiel. Allerdings stieß ich mir dafür den Kopf an dem Stein an, auf dem die Figur lag.
Stöhnend richtete ich mich auf und hielt mir den schmerzenden Kopf.
»Verdammt, Sherin! Ist alles in Ordnung?« Sam war direkt neben mir und ich spürte seine Hände an meinen Schultern.
»Ja, es geht schon«, log ich und ließ mich von ihm stützen. Er half mir, mich gegen den Stein zu lehnen. Dabei fiel meinen Blick auf ebendiesen und ich stellte mit Entsetzen fest, dass die Figur weg war.
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