
23 - Eiswüstentunnel
Das Innere des Jungen tobte. Er schlotterte am ganzen Körper.
Kälte.
Sturm.
Finsternis.
Das dunkle Loch ist zu einer Eiswüste geworden.
Kein Fünkchen von geborgener Wärme war zu fühlen und kein Licht zu sehen.
Daisuke rannte seit einer gefühlten Ewigkeit und versuchte vergeblich, einen Ausgang aus diesem kalten Nichts zu finden.
Seine Ängste und Schuldgefühle, die hinter ihm wie farblose Dämonen herumschwebten, schienen ihn in jedem Augenblick erwürgen zu wollen.
Zudem windete es stark und gnadenlos.
Egal wie hart er gegen sie ankämpfte, er hatte gegen diesen mächtigen Sturm keine Chance.
Er spürte, wie seine Fingerspitzen langsam einfroren und sein ganzer Körper in Sekundenschnelle kälter wurde.
Seine Nase und beiden Ohren konnte er auf einmal auch nicht mehr spüren.
Er atmete voller Panik heftig aus dem Mund, bis er mit einem Keuchhusten unterbrochen wurde.
Dai realisierte, dass der Wettlauf gegen die Zeit begonnen hatte.
Wenn er sich selbst retten wollte, musste er von hier so schnell wie möglich raus.
Der Junge zerrte sich mit aller Kraft vorwärts.
Er hatte bereits all seine Energie aufgebraucht, aber der Drang, am Leben bleiben zu wollen, liess ihn nicht aufgeben.
Wieso sein Lebenswille noch da war, konnte er sich nicht erklären.
"Ich will nicht leben, aber sterben möchte ich auch nicht...
Ich will es allen zeigen und will siegen, aber gleichzeitig ist es mir scheissegal, was andere denken.
Ich bin völlig am Ende und möchte aufgeben, aber andererseits ist der Wille da, weiterzukämpfen...
Was soll ich nur tun?"
Erschöpft und ausser Atem, wischte er den Schweiss von seiner Stirn und blickte zum nebligen Himmel hinauf.
Er schloss für einen Moment die Augen. "Du schaffst das Daisuke... halte nur etwas durch!"
Nachdem er wieder neuen Mut geschöpft hatte, öffnete er langsam wieder seine Augen und erschrak an der Szene, die gerade über ihn am Abspielen war.
Etwa 10 Meter über seinen Kopf bildete sich langsam ein Dach aus rostigem Metall, die mit rosafarbenen Kirschblüten und grünen Lianen überzogen wurden.
Verblüfft sah er dem Spektakel zu.
Seine eiskalte Umgebung fing an, etwas Farbe anzunehmen.
Und ehe sich Dai versah, hatte sich um ihn herum ein langer Tunnel gebildet.
Er erstreckte sich über seine Sichtweite hinaus und schien unendlich lang zu sein.
Dai musste zudem mit Erschrecken feststellen, dass der neugeschaffene Tunnel instabil war und drohte, in jedem Augenblick hinunterzustürzen.
Das rostige Metallgerüst wird aber mit aller Kraft von den Lianen festgehalten.
Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, bis das ganze Gerüst auf ihn niederprallen und ihn in den Himmel schicken würde.
All seine falsche Hoffnungen, die er sich selbst gab, um die Wahrheit nicht vor Augen sehen zu müssen,
All seine Bemühungen, die er nur machte, um von der Gesellschaft nicht abgestossen zu werden,
All seine Ängste und Schuldgefühle, die dermassen gewachsen sind, dass er sie unmöglich ignorieren kann:
Sie waren alle zusammen an dem Punkt angelangt, wo der metallene Glanz verschwunden und nur Rost übriggeblieben war.
Panik ergriff ihm.
Sein Herz fing in einem unnormalen Tempo zu rasen an.
Er drehte sich schnell in Richtung der dunklen Schatten um, die immer noch an derselben Stelle verweilten und ihn teuflisch angrinsten.
Werden seine inneren Dämonen diesen Kampf gewinnen?
Daisuke nahm nochmals all seine übriggebliebenen Energie zusammen und blickte ein letztes Mal hoffnungsvoll nach vorne.
Im selben Moment blitzte was vor seinen Augen auf.
Etwas weiter weg vor ihm konnte er einen winzigen Lichtstrahl entdecken.
Seine letzte Hoffnung.
Dai stand augenblicklich auf und fing an, loszulaufen.
Mit dem Ziel vor Augen, das Licht zu erreichen.
Dabei ignorierte er seine unerträglichen Schmerzen, die ihm signalisierten, dass es für ihn bereits vorüber war.
Als er keinen Milimeter vorankam, beschleunigte er sein Tempo.
Keuchte, hustete, kroch auf allen Vieren weiter.
"Ich muss es schaffen..."
Dai versuchte vergeblich, die dunklen Schatten hinter ihm zu ignorieren und sich auf das Licht zu konzentrieren. Aber vergebens.
Entgegen all seine inneren Warnungen, drehte er sich in die verbotene Richtung um und sah mit vollem Entsetzen zu, wie die Dämonen langsam an Farbe und Gestalt annahmen und sich schlagartig zu riesigen Bestien mutierten.
Lange scharfe Krallen und rote bedrohliche Augen griffen nach ihm, aber schafften aus irgendeinem Grund nicht, ihn zu berühren.
Die Dämonen liessen frustriert einen ohrenbetäubenden Schrei aus, bevor sie augenblicklich aus seinem Blickfeld verschwanden.
Es wurde wieder ruhig.
Zu ruhig.
Auf einmal hörte der Junge lautes Rascheln über ihn.
Als er hinaufblickte, realisierte er, dass die Lianen das Dach nicht mehr länger halten werden.
Dai ging reflexartig in seine Knie und hielt seine Arme schützend über seinen Kopf.
Er gab sich mit der Antwort geschlagen, dass es keinen Ausweg mehr für ihn gab.
"Es ist besser so für alle..., wenn ich gehe."
In dem Moment, wo er seinen Gedanken laut ausgesprochen hatte, war ein lautes Krachen von oben zu hören.
"Endlich werde ich von all dem Schmerz und Leiden erlöst werden..."
Der Tunnel war zusammengebrochen und in den Abgrund gestürzt.
"Ich habe versagt..."
Das Metallgerüst prallte auf dem Körper des Jungen auf.
Sie vergruben ihn in Schutt und Asche.
Es war vorbei.
Staubwolken flogen umher.
Es wurde dunkler.
Und kälter.
Die Eiswüste ist zu einer untröstlichen Ruinenlandschaft geworden.
Aber...
"Wieso bin ich noch nicht tot?"
Dai war komplett eingebuddelt. Aber er blieb bis auf weiteres unverletzt.
Rostige Metallfetzen, die gegen seinen Körper drückten, nahmen ihm die Puste weg.
Aber er war noch da. Er atmete.
Plötzlich spürte er, wie eine kräftige Hand seine umklammerte.
Nur mit einem Ruck wurde er in Sekundenschnelle aus den Trümmern rausgezogen.
Als würden die Metallteile nichts wiegen. Oder überhaupt real sein.
Als der Junge auf den Beinen war, liess die unbekannte Hand ihn los und schien, wieder davonzulaufen.
Dai machte seine Augen augenblicklich auf und konnte seine Sicht nicht trauen.
Es war Nacht.
Sterne glitzerten dem Himmel empor.
Aber auf dem Grund herrschte ein einziges Chaos.
Um ihn herum lag eine riesige Trümmerlandschaft.
Mit dem Unterschied, dass es diesmal real war.
Obwohl es dunkel war, konnte er die kaputten Strassen, abgestürzten Hochhäuser und zusammengefallenen Gebäuden erkennen.
Staubwolken erschwerten seine Sicht.
Der Geruch von Feuer stieg ihm in die Nase.
Schreie von Frauen und Kindern dröhnte in seine Ohren.
Er kannte diesen Ort! Er war sich sicher, dass er schon Mal hier war.
"Es kann doch nicht..."
Dai erstarrte, als er den Mann, der ihn vorhin aus den Trümmern raushalf, erkannte. Er zeigte ihm den Rücken und lief vor ihm weg.
Dai wollte ihm etwas zurufen, aber bevor er das tun konnte, hielt der Mann abrupt an und kam ihm zuvor: "Bist du wirklich der Sohn von Jinan Chou Sakurazaki?"
Der Junge erstarrte. Die ihm bekannt vorkommende tiefe Stimme hallte in seinen Ohren und die ausgesprochenen Worte wiederholten sich in seinem Kopf.
Er spürte, wie ein Gefühl von Erleichterung, Erstaunen, Schock und Trauer sich miteinander vermischte, seine Seele berührte und ihn dazu brachte, in stumme Tränen auszubrechen.
Er konnte nicht sprechen.
Er traute sich nicht einmal, auf ihn zuzulaufen und ihn fest in seine Arme zu schliessen. So sehr hatte ihm ein einziger Satz erstaunt und gleichzeitig verletzt.
Um noch mehr Salz in seine Wunde zu streuen, fuhr der Mann fort: "Wenn du wirklich sein Sohn wärst, hättest du niemals aufgegeben, Daisuke!"
Dai konnte, trotz der Härte in seiner Stimme, die Enttäuschung und Trauer des Mannes hören.
"Vater... ich..."
Weiter kam er nicht.
Sein enger Vertrauter war bereits in der Staubwolke verschwunden.
Wie an jenem Tag vor sechs Jahren...
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