08 - Langsamer Anfang
TW: Beschreibung von Gedanken zu Suizid
Sie trocknete schnell die Tränen mit dem langen Ärmel ihres Kleides ab und sah Dai erleichtert in die Augen.
Eine angenehme Stille folgte.
Dai wollte diese wohlige Atmosphäre nicht unterbrechen, aber ihm brannten einfach so viele Fragen auf der Zunge, dass er seinen Mund nur schwer zuhalten konnte.
"Was soll ich nur tun? Soll ich ihr einfach alles direkt fragen?
Was, wenn sie dann wieder Panik bekommt und wegrennt oder anfängt zu weinen?"
Dai debattierte in seinen Gedanken und kam folglich zu diesem Entschluss:
"Nein, ich kann mich heute nicht bei ihr über alles erkundigen, das ist zu riskant. Aber ein paar Fragen, welche ihren sensiblen Nerv nicht allzu sehr treffen, könnte ich schon versuchen, zu klären. Mal sehen..."
Dai überlegte kurz und sah wieder zu Hei-Ran.
"Darf ich dich fragen, wieso du, anstatt wie abgemacht im Musikzimmer, hierher gekommen bist?"
Hei-Ran lief wieder leicht rot an und senkte ihren Kopf.
"Ich... ehm... bin etwa eine Viertelstunde vor dir in der Schule angekommen... als ich in das grosse Musikzimmer hineingegangen bin, da... ehm... haben mich alle angestarrt..."
"Und?"
"Ich bin mir so viel A-aufmerksamkeit nicht gewohnt... i-ich hab mich sofort unbehaglich gefühlt... aber das ist es nicht gewesen, was mich aus dem Z-zimmer getrieben hat..."
"Und was ist es dann gewesen?", hakte Dai sofort nach.
"H-haruto hat mich so angesehen, als wolle er mir auf der Stelle etwas antun...d-dieser Blick... er hat mir einfach schreckliche A-angst eingejagt."
"Ah ok... ja dieser Kerl kann schon manchmal etwas irritierend rüberkommen."
"Deshalb hab ich mich d-dazu entschieden, hierher zu k-kommen und dich dann a-anzurufen... aber als ich plötzlich S-schritte vor der Türe gehört habe, habe ich b-befürchtet, dass mir vielleicht H-haruto oder jemand anderes g-gefolgt ist. Deshalb hab ich dich s-sofort angerufen."
"Ach so ok, jetzt wird einiges klar..."
"Ich hoffe, es s-stört dich nicht in diesem Zimmer zu arbeiten?"
"Nein, tut es gar nicht. Es hat mich einfach nur interessiert... und darf ich wissen, von wo du von diesem Raum mitbekommen hast? Ich meine, nicht einmal die Zehntklässler kennen dieses Zimmer!"
Hei-Ran lächelte bei dieser Frage und sah wieder Dai an.
"Ich habe vor Kurzem Charlie dabei e-entdeckt, wie sie beim Versuch, einen Vogel zu fangen, am M-metallzaun hängengeblieben ist.
Als ich sie befreit habe, hat sie mich direkt zum H-hausmeister geführt, der gerade dieses Zimmer am Abstauben war.
E-er hat mich sofort erkannt, weil er mich einmal spät am A-abend beim Geigespielen am Schulhof erwischt hat... Er hat mich direkt g-gefragt, ob ich d-dieses Zimmer zum Musikmachen möchte, da es sowieso nicht mehr b-benutzt wird. Im Gegenzug hat er einfach wollen, dass ich dafür sorge, dass der Raum gut e-erhalten bleibt.
Ich hab gedacht, dass es der perfekte Rückzugsort für mich ist... deshalb hab ich ihm sofort zugestimmt und hab schliesslich den Schlüssel z-zu diesem Zimmer b-bekommen. Seit dem bin ich öfters hier..."
"Ach so."
Es war schön, Hei-Ran flüssiger sprechen zu hören. Sie hatte eine weiche, angenehme Stimme.
Damit das auch so blieb, entschied sich Dai, sie nicht darauf anzusprechen.
Dai erforschte den Raum jetzt ein bisschen genauer.
Es war viel kleiner als die beiden Musikräume im Obergeschoss. Die Wände waren alle komplett in langweiliges weiss gestrichen. Nur der dunkelblaue Teppichboden und die roten Gardinen gaben dem Ganzen etwas artistischen Touch.
Im hinteren Teil des Raums standen etwa 8 Pulte mit alten Stühlen, die aber noch ganz gut erhalten und stabil aussahen.
Am anderen Ende des Zimmers, wo Hei-Ran vorhin ihren Kopf anschlug, standen in der linken Ecke ein hohes Buchregal und direkt nebenan ein Sofa, welches die gleiche Farbe hatte wie der Boden.
Mitten im Raum, wo sich gerade Dai und Hei-Ran befanden, stand der schwarze Steinway Flügel und gegenüber ihr, die Tür.
Dai fragte sich, wieso er das prächtige Klavier nicht schon beim Eintreten des Zimmers bemerkt hatte.
An der Decke schien ein grelles LED Licht, welches den Raum ein bisschen moderner erscheinen liess.
Dai staunte nicht schlecht.
"Sieht so aus, als hätte der Hausmeister die richtige Zimmerhüterin gefunden."
Hei-Ran lächelte schüchtern und musterte unauffällig Dai an, welcher nach der Komplimentgabe damit beschäftigt war, Charlie beim Schlafen zu beobachten. Plötzlich weiteten sich ihre Augen und sah sofort beschämt weg.
Dai sah wieder zu Hei-Ran und hob verwirrt eine Augenbraue in die Höhe. "Ist was?"
"Ehm... ich weiss nicht, ob ich... n-nein es ist nichts."
Dai merkte, dass sich etwas an ihm falsch anfühlte und sah sofort auf sich runter.
Der Prothesenteil am linken Unterschenkel war umgeknickt und es sah von aussen so aus, als hätte er seinen Bein schlimm verbogen.
"Wie zur Hölle ist das denn passiert?", sprach Dai seine Verwirrung laut aus und bückte sich, um das metallisch plastische Teil wieder richtig herzurichten. Er hielt kurz inne und schielte zu Hei-Ran rüber, die ihm etwas besorgt ansah.
"Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken", gab Dai peinlich berührt zu und krempelte sein linkes Hosenbein hoch.
Hei-Ran lief darauf rot an, schaute aber zu Überraschung Dai's nicht weg.
"Wusste ich's doch, dass sie es unbedingt sehen wollte", dachte Dai und rollte das Hosenbein nach dem Richten wieder runter.
Als er sich wieder hinsetzte, ging die Röte in Hei-Ran's Gesicht nicht weg.
"Was sie wohl gerade denkt?", fragte er sich.
"Es tut mir Leid...", hörte er Hei-Ran darauf traurig sagen.
"Für was?"
"Dass ich einmal, als du hingefallen bist, einfach weitergelaufen bin... und eigentlich auch dafür, dass ich immer vor dir geflüchtet bin... es tut mir nochmals schrecklich Leid!"
Tränen standen ihr in den Augen.
Dai wollte nicht, dass sie wieder weinte, deshalb sagte er ihr schnell "Ist schon gut!" zu.
Am liebsten hätte er ihr einfach nachgefragt, wieso sie das immer tat.
Aber er war sich bewusst, dass Hei-Ran für die Beantwortung dieser Frage noch nicht bereit war. Soviel konnte er schon aus Hei-Ran herauslesen.
"Am besten frage ich sie, nachdem wir unser Lied fertig gestellt haben." entschloss Dai.
Um Hei-Ran auf andere Gedanken zu bringen und ihr Vertrauen gegenüber ihm noch mehr zu festigen, fragte Dai: "Wenn du willst, kann ich dir meine Geschichte erzählen, wie ich das Klavierspiel für mich entdeckt habe."
Hei-Ran sah völlig verwirrt Dai an, aber man konnte ihr ansehen, dass sie über das Themawechsel froh war.
Sie nickte Dai zur Bestätigung.
Dai räusperte sich kurz und ging sofort auf Erzählermodus:
"Ich spiele schon seit ich eigentlich 5 Jahre alt bin Klavier. Aber so richtig habe ich es nie wirklich gemocht. Die wöchentlichen Unterrichtsstunden und das ständige Üben waren eine richtige Qual für mich..."
Hei-Ran lächelte und hörte Dai mit grossen Augen aufmerksam zu.
"Mein einziger Traum und Leidenschaft war es, ein nationaler Profibasketballer zu werden und für die Weltmeisterschaft spielen zu können..."
Dai seufzte kurz auf, als er an seinen früheren Lebenstraum, welches er zusammen mit Takeo geteilt hatte, erinnerte.
"Alles änderte sich auf einem Schlag, als mein Unfall passierte... plötzlich besass ich ein Bein, einige Rippen, mehrere Knochen und einen Nierenteil weniger... und mein Traum war für immer zerplatzt... es war hart für mich, meine neue Realität zu akzeptieren."
Dai drehte sich von Hei-Ran weg und atmete langsam ein und aus, um sich zu beruhigen. Er dachte, es würde ihm nicht mehr so schwer fallen, über das Geschehene zu reden. Aber da hatte er sich wahnsinnig getäuscht.
"Es ist alles gut Dai, reg dich jetzt nicht unnötig auf", sagte er zu sich selbst und schweifte sein Blick zur Beruhigung aufs Klavier, während er weitersprach:
"Als alles um mich herum wortwörtlich am Zusammenbrechen war... da wusste ich einfach nicht mehr, was ich tun sollte.... Ich fühlte mich wie ein nutzloser, überflüssiger Mensch, eine zu grosse Last für alle..."
Dai schluckte.
"Und da dachte ich, dass es wohl am besten wäre, wenn ich für immer aus dieser Welt verschwinde..."
"Was?!" schrie Hei-Ran plötzlich und starrte Dai entgeistert an.
Dai zuckte bei Hei-Ran's Schrei auf und sah direkt auf ihr blasses Gesicht.
"Wow, diese Reaktion hab ich von dir nicht erwartet", gab Dai zu und lächelte.
Aber Hei-Ran war es gar nicht zum Lachen zumute. Sie sah ihn so an, als könnte sie gleich wieder in einem heftigen Schluchzer ausbrechen.
"Oh nein, ich habe die Stimmung ja noch schlimmer gekippt, als es schon war", stellte Dai fest. "Sollte ich vielleicht aufhören, ihr alles zu erzählen? Nein, das kann ich nicht machen, der gute Teil kommt ja gleich..."
Dai gab einen aufmunternden Blick zu Hei-Ran.
"Mach dir keine Sorgen, ich bin ja noch hier und meine Geschichte hat ja gut geendet... mehr oder weniger."
Hei-Ran entspannte sich ein bisschen, aber sah immer noch von Dai's Geschichte betrübt aus.
Er fuhr mit ruhiger Stimme fort: "Als ich gerade auf dem Weg war, mein eigenes Leben zu nehmen... da hörte ich plötzlich jemanden Klavier spielen... ich folgte dem Geräusch und entdeckte, mitten im Spital, ein Musikzimmer, welches ausschliesslich für Patienten eingerichtet worden war... Als ich eintrat, war jedoch niemand mehr da." Er atmete kurz auf, bevor er weitersprach.
"Ich weiss nicht warum, aber das Klavier, das dort stand, zog mich einfach magisch an...
Ich setzte mich davor und entschloss, noch ein letztes Mal vor meinem Tod zu spielen... ich schloss meine Augen und spielte einfach drauflos... ich übertrug all meine Schmerzen, Ängste und Trauer auf die Tasten... aber niemals hätte ich gedacht, das genau DAS, dieses kleine Klavierspiel, mein Leben retten würde ..."
Dai atmete nochmals tief ein und aus. Stille herrschte.
Dai hatte eigentlich nicht vor gehabt, es so ernst anzugehen. Er wollte seine Geschichte auf eine lustige Art erzählen, um Hei-Ran ein bisschen zum Lachen bringen.
Aber irgendein Gefühl in seinem Inneren, eine unbändige Kraft, brachte ihm doch dazu, seine wahren vergangenen Gedanken auszusprechen. Auch wenn er viele Details ausgelassen hatte.
Es war das erste Mal, dass er seine Selbstmordgedanken an jemanden offenbart hatte. Nicht einmal Takeo wusste davon.
Hatte er das getan, weil er eine Verbindung zu Hei-Ran beim Spielen spürte, die ihrer gemeinsamen Liebe zur Musik hinaus war?
"Das Geigespielen hat auch mein Leben gerettet...", sagte Hei-Ran leise.
"Was wirklich?", reagierte Dai erstaunt.
"Ja..."
"Vielleicht haben wir genau aus diesem Grund vorhin so gut miteinander harmonieren können..."
Hei-Ran nickte bestimmend und sah Dai schüchtern an.
"Danke Daisuke... ehm... dass du mir deine Geschichte anvertraut hast."
Sie lief wieder leicht rot an und strich sich eine Haarsträhne zur Seite.
Dai wollte über ihre Hintergrundgeschichte nicht ausfragen.
Er wusste, wie schwierig es war, über die eigene Vergangenheit und die damit verbunden Schmerzen, zu reden.
"Wenn sie genug Vertrauen in mir aufgebaut hat, dann wird sie es mir schon von sich selber aus erzählen, ich muss einfach noch ein bisschen Geduld haben..."
Es wurde wieder still im Raum.
Bis Dai die Stille brach: "Mir fällt gerade ein... als ich deine Melodie gelesen habe, habe ich bemerkt, dass du an einigen Stellen kleine Notizen neben deinen Noten geschrieben hast. Denkst du dir etwa auch immer eine Geschichte aus, bevor du ein Stück schreibst?"
"Ja genau, das mache ich... ehm... wie soll ich sagen... eh... es hilft mir, schwierige Erlebnisse besser zu verarbeiten und b-beunruhigende Gedanken zu vergessen..."
"Sowie bei mir auch!"
Dai hielt kurz inne und rief plötzlich:
"Hey ich hab eine Idee! Wie wäre es, wenn wir für unser Lied auch zuerst eine Geschichte zusammen ausdenken, und erst dann anfangen, zu komponieren?
Es würde etwas länger dauern, bis wir was haben, aber ich glaube, dass es sich für dieses Projekt lohnen wird!"
Hei-Ran lächelte und strahlte Dai förmlich an.
"Das... das wollte ich auch gerade vorschlagen... f-find ich eine gute Idee!"
Sie schien froh zu sein, jemanden gefunden zu haben, welche die gleichen Gedanken über die Erschaffung der eigenen Musik teilte wie sie.
Plötzlich vibrierte Dai's Handy. Als er es hervorholte, erschien auf dem Bildschirm eine Nachricht von Joshua:
Hey Dai, ich und Enji werden schon um zwei im Gamecenter sein. Wollen wir uns um drei direkt vor der Super Mario Abteilung im dritten Stock treffen?
Dai sah auf die Zeitanzeige.
"Waas, es ist schon eins? Haben wir den wirklich so lange geredet?!"
Dai fuhr sich nervös über die Haare.
"Oh nein, ich habe doch um diese Zeit mit Takeo verabredet? Und wir haben noch nicht einmal mit dem Projekt angefangen aah..."
"Daisuke..."
"Nenn mich bitte einfach nur Dai. Daisuke kann ich nicht mehr hören!"
"Ou ok, Entschuldigung... Dai?"
"Ja?"
"Wir können ja morgen am Projekt weitermachen. Ich kann den Hausmeister für den Schlüssel zur Schule fragen. Und auch wenn wir nicht gleich fertig werden sollten, haben wir ja noch bis Mittwoch Zeit."
"Ja, da hast du Recht. Aber ich will bei der Vorführung nicht gestresst sein. Deshalb sollten wir, meiner Meinung nach, bis spätestens Montag mit unserer Komposition fertig werden.
So hätten wir die restlichen zwei Tage noch genügend Zeit, unser Stück zu üben, findest du nicht?"
"Ja f-finde ich auch." Hei-Ran lächelte dann zu Dai. "Jetzt wo ich ein paar Stunden mit dir verbracht habe, denke ich... ehm... dass wir schon morgen fertig werden... da... da bin ich mir ganz sicher."
"Deine positive Einstellung gefällt mir sehr Hei-Ran! Lass uns morgen also unser Bestes geben!"
Dai streckte seine Hand zu einer High Five hin, welches Hei-Ran zögernd und mit geröteter Wange darauf einschlug.
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