06 - Takeos Geheimnis
"Es ist wirklich eng hier, man kriegt ja fast keine Luft mehr!", beschwerte sich Takeo.
"Wenn du die Strafliegestützen schneller gemacht und beim Duschen nicht so lange gebraucht hättest, wären wir jetzt schon längstens bei KFC!", gab Dai verärgert zurück und kämpfte sich durch die enge Menschenmasse hindurch.
Dai hatte Recht. Wenn die beiden eine halbe Stunde früher gekommen wären, hätten sie den Feierabendverkehr noch so knapp vermeiden können. Aber leider hatten sie ausgerechnet diese Zeit erwischt, wo die meisten Bewohner Japans von ihrer Arbeit nach Hause gingen. Durch die fast 10 Millionen Einwohner im Zentrum Tokios alleine, konnte man doch denken, dass es ziemlich eng werden würde. Aber Takeo hatte damit wohl nicht gerechnet, obwohl er in dieser Stadt aufgewachsen war.
Der Himmel war bereits dunkel geworden und man konnte die ersten Sterne aufblitzen sehen. Die Stadt erwachte mit dem Aufleuchten von neonfarbigen Reklamen, bunten Dekorationen und riesigen Bildschirmen an Hochhäusern, erneut zum Leben.
Aus den Karaoke-Bars und Spielhallen dröhnte in unermesslicher Lautstärke japanische Popmusik, die man schon kilometerweit entfernt hören konnte. Dai musste, als er an einigen Gebäuden vorbeilief, die Ohren fest zuhalten, um ja nicht sein Trommelfell platzen zu lassen.
"Wir sind bald da!", schrie Takeo Dai förmlich ins Ohr.
"Das wurde aber auch Zeit!", rief Dai zurück.
Der wachsende Hunger motivierte Dai, die Menschenmenge und die erdrückende Luft zu ignorieren und mit schnellen Schritten seinem Lieblingsrestaurant näherzukommen.
Plötzlich packte jemand Dai am Arm und zog ihn mit sich mit.
"Hey! Was soll das?"
Dai wollte schon seinen Arm wegschütteln, als er in ein allzu bekanntes Brillengesicht blickte.
"Joshua?!", kam es aus Dai heraus.
"Lasst uns irgendwo reden, wo es nicht so voll ist!", rief dieser zurück und zog Dai weiterhin mit sich mit. Dai blickte schnell zu Takeo, der die Person auch bemerkt hatte und ihnen wortlos im Gedränge folgte. Als sie an einer Gasse ankamen, wo sich nicht so viele Menschen aufhielten, liess Joshua Dais Arm los.
Zuerst blickten sich die drei für einige Minuten stumm an, bevor Takeo das Wort ergriff: "Schon lange nicht mehr gesehen, Joshua. Wie geht es dir?"
Joshua drückte mit dem Zeigefinger seine Brille zurecht und lächelte.
"Ganz gut, ich bin gerade an meinem Abschlussprojekt dran und es scheint alles gut zu kommen. Stellt euch mal vor, ich habe seit drei Monaten nichts mehr kaputt gemacht!"
"Oh das klingt ja gar nicht nach dir!", neckte Dai und musste auch schmunzeln.
Joshua gehörte auch zu Dais Kindheitsfreunden. Sie hatten sich, als Joshua vor zehn Jahren mit seiner Familie in Dais Nachbarschaft einzog, kennengelernt.
Dai, Takeo und Joshua waren fortan zu einem unzertrennlichen Trio und erlebten zusammen in ihrer Kindheit viele unvergessliche "Abenteuer".
Aber als sie älter wurden, wollte Joshuas Mutter plötzlich nicht mehr, dass ihr Sohn seine Freizeit mit ziellosem Herumtreiben und albernen Spielen in der Nachbarschaft verbrachte. Stattdessen donnerte sie ihren Sohn, wie viele andere Eltern auch, dass er sich aufs Lernen und seine Zukunft konzentrieren sollte.
So konnten sie sich leider nur noch in der Schule sehen.
Als sie gegen Ende der Mittelstufe angelangten, entschied sich Joshua die Oberstufe an einer technischen Schule zu absolvieren, um seinem Traum näherzukommen. Er wollte nämlich der grösste Erfinder Japans werden. Dai und Takeo unterstützten ihn natürlich dabei. Aber dadurch sahen sie sich nur noch seltener.
Als Dai's Unfall passierte, wurde der Kontakt für kurze Zeit wieder auferlebt, aber auch schnell wieder abgebrochen.
Jetzt schrieben sie sich nur noch auf Line (das "WhatsApp" in Japan) , was Dai nicht störte. Aber er merkte, dass sie langsam auseinanderdrifteten.
"Du hast mir doch mal geschrieben, dass du an einem Dino-Roboter arbeitest, ist das auch gleich dein Abschlussprojekt?", fragte Dai neugierig.
"Ja genau!", gab Joshua begeistert zurück und holte sein Handy heraus. Er zeigte ein Video, wo zu sehen war, wie er an einem dinoartigen Metallskelett schraubte.
"Impressive!", schwärmte Takeo.
"Das ist noch nicht alles. Ich kann es kaum erwarten, euch bald das Endresultat zu zeigen!"
"Wir auch nicht", gab Dai ehrlich kund.
Takeo blinzelte mehrmals unauffällig zu Dai, um ihm irgendein Zeichen zu geben. Dai verstand es sofort und nickte Takeo zur Bestätigung zu.
"Hey hör mal, wie geht es eigentlich deinem Cousin Enji? Er besucht doch auch die gleiche Schule wie du, oder?"
Joshua staute sein Handy wieder zurück in seine Hosentasche.
"Ja äh also... er ging zwei Jahre mit mir in die gleiche Klasse, aber es gefiel ihm hier nicht mehr so. Deshalb wechselte er im dritten Jahr auf die technische Oberschule in Saitama."
"Ach so, deshalb hatten wir ihn also nicht mehr gesehen!", stellte Takeo fest.
"Wo gesehen?", fragte Joshua verwirrt zurück.
"Na äh..." Takeo lief plötzlich leicht rot an und fuhr nervös über seine Haare.
Dai versuchte die Situation zu retten: "Er meinte damit, dass wir euch doch sonst immer zu zweit sehen..."
"Ach so", meinte Joshua, "er kommt übrigens am Wochenende wieder nach Tokio."
"Was wirklich?" Takeo hatte seine Augen weit aufgerissen und bewegte sich nervös hin und her.
Joshua hatte zum Glück Takeos übertriebene Reaktion nicht bemerkt und fuhr fort: "Ja. Wir wollen am Samstag zum Gamecenter gehen. Als ich euch beide auf der Strasse entdeckt habe, habe ich mir gedacht euch zu fragen, ob ihr auch mitkommen wollt. Wir hatten ja schliesslich schon lange nichts mehr zusammen unternommen..."
"Ja, natürlich kommen wir mit!", sprudelte es aus Takeo heraus.
"Cool! Und wann?"
"Wie wäre es um drei vor der Halle?", schlug Dai vor.
"Perfekt."
Joshua blickte schnell auf seine Armbanduhr. "Ou Mist, ich muss jetzt leider weiter. Aber wir sehen uns ja in ein paar Tagen wieder. War schön mit euch zu plaudern!"
Er winkte noch zum Abschied und lief in schnellen Schritten wieder davon.
❀❀❀
"Du schwitzt ja richtig schlimm, was ist mit dir los?", fragte Dai belustigt. "Bist du jetzt schon nervös wegen Enji?"
"Nein, bin ich nicht!", versuchte Takeo sich zu verteidigen, was ihm jedoch nicht wirklich gelang. Er zitterte leicht und kaute nervös auf seinen Nägeln herum.
"Denkst du, dass Joshua was mitgekriegt hat?", fragte Takeo unsicher und trank zur Beruhigung einen Schluck aus seiner Cola.
"Nein, ich denke nicht... falls er was bemerkt hätte, hätte er sicher anders reagiert. Da bin ich mir ganz sicher." Dai biss daraufhin in sein letztes saftiges Chicken Wing hinein.
"Aber ich hätte ihm fast verraten, dass ich ihn und Enji an seiner Schule gestalkt habe!", rief Takeo entsetzt und fuhr frustriert über seine Haare.
"Ja und jetzt? Er hat es ja schliesslich nicht mitbekommen, also beruhige dich erstmal! Der Kerl ist sowieso an seinem Roboter mehr interessiert als dein komisches Verhalten zu analysieren!", fuhr Dai ihn an.
"Aber falls er oder irgendjemand über mich herausfindet, bin ich am Arsch. Die werden mich alle hassen und verstossen! Ich könnte sogar meine Karriere als Basketballspieler verlieren, Bro. Das weisst du!" Dai nickte verständnisvoll.
Niemand ausser Dai wusste, dass der Starspieler Takeo ein Geheimnis mit sich trug, welches ein Teil der Gesellschaft im Moment nicht akzeptieren könnte. Obwohl der Stadtbezirk Tokio der Offenste über diese Art von Liebe war und Antidiskriminierungsgesetze erliess, waren Personen wie Takeo vor den Erwartungen seines Umfelds dennoch nicht geschützt.
Vor allem für seine Basketballmannschaft und Sponsoren, die ihn gezielt als "Prinzen" der weiblichen Fans promovierten, würde sein Outing in einem Imageverlust und in einer finanzieller Katastrophe enden. Befürchtet Takeo jedenfalls.
Takeo seufzte und starrte zum Fenster hinaus.
"Er ist meine erste Liebe. Es tut richtig weh ihm meine Gefühle nicht offen sagen zu können. Ich fühle mich wie ein Idiot..."
"Ja du bist ein Idiot, ein ziemlicher Idiot sogar!" Takeo sah jetzt zu Dai.
"Welcher Idiot würde jeden Freitag einen Liebesbrief an seinem Crush schreiben, zu seiner Schule hinfahren, auf ihn stundenlang warten und ohne ihm auch den Brief zu geben, wieder nach Hause gehen? Und den gleichen Fehler jede Woche wiederholen?! Ich wette deine Kiste mit den Briefen und Geschenken, die du ihm alle vorenthalten hast, sind jetzt zum Platzen voll geworden!"
"Ja ist sie! Und was willst du jetzt dagegen machen, hm?", schmollte Takeo und blickte wieder zum Fenster. Sein Blick wurde traurig.
"Es ist nicht so einfach Bro. Ich bekomme jede Woche neuen Mut es zu tun. Aber jedes Mal, wenn ich ihn sehe, bringe ich es nicht mehr übers Herz, ihm den Brief oder Geschenk zu geben. Und als er nach den Ferien nicht mehr zur Schule gekommen ist, hab ich richtig Panik gekriegt. Aber jetzt weiss ich zum Glück ungefähr, wo er ist. Ich werde ihm die ganze Kiste schenken, wenn ich dafür bereit bin."
"Und wann bist du bereit?", fragte Dai skeptisch.
"Ich weiss es nicht Dai."
"Wie lange liebst du ihn jetzt schon hmm?"
"glaube etwa 5 Jahre..."
"Und du denkst ernsthaft, dass du noch mehr Zeit brauchst?"
Takeo schwieg für eine Weile, bevor er weitersprach: "Ehrlich gesagt habe ich einfach nur Angst, dass er nicht das Gleiche empfinden würde wie ich. Was, wenn er mich gar nicht zurückliebt und mich nur als seinen Kumpel sieht? Ich will unsere Freundschaft nicht zerstören, aber gleichzeitig halte ich es nicht mehr aus!"
Takeo legte seine Hände vors Gesicht und seufzte. Dai klopfte ihm tröstend auf die Schulter.
"Ich spüre doch, dass zwischen uns etwas ist. So wie er mich anschaut, redet oder mich manchmal berührt... aber" Takeo verstummte und versuchte ruhiger zu atmen.
Dai ergriff daraufhin das Wort: "Ich denke, dass Enji die gleichen Gedanken und Ängste teilt wie du. Ich habe auch oft an seinem Verhalten bemerkt, dass er an dir grosses Interesse hat und es dir am liebsten sagen möchte.
Sogar ein Blinder, ausser Joshua, würde die Spannung zwischen euch fühlen und die Chemie zwischen euch sehen. Aber ich glaube, dass es für ihn wegen seiner Religion noch schwieriger ist, mit dieser Liebe umzugehen."
Takeo nahm seine Hände wieder von seinem Gesicht weg und nickte.
"Bitte nimm mir es nicht übel, aber ich finde es besser, wenn du deine Gefühle ihm gegenüber bald gestehst. Sonst wirst du diese Last für immer tragen müssen. Und man weiss nie, wann es zu spät ist."
Takeo liess Dais Worte in seinem Kopf einwirken und stimmte ihm schliesslich zu.
"Du hast Recht Bro. Ich muss es ihm endlich sagen, egal ob er meine Liebe akzeptieren wird oder nicht!" Takeos Gesicht leuchtete wieder hell auf.
"Weisst du was? Ich werde es am Samstag tun, gerade wenn ich ihn im Gamecenter treffe!"
"Was, echt jetzt?"
"Ja, ist mein voller ernst. Ich werde mich nicht mehr zurückziehen!"
"Oh, klasse Taki! Genauso kenn ich dich!"
Sie gaben sich zur Feier ein High Five.
"Was ist dann mit Oshin und Joshua? Die werden doch auch dabei sein?"
"Lass das Mal meine Sorge sein. Ich werde sie schon irgendwie ablenken und von euch wegführen, bis du deine Sache mit Enji erledigt hast."
Dai zwinkerte ihm zweideutig zu, woraufhin Takeo ihm ein Schlag mit dem Ellbogen verpasste. "Du Perversling! So weit wird es doch nicht kommen?!"
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