05 - Wortwechsel
"Oshin?" Der Genannte schreckte hoch, als er seinen Namen hörte und blickte direkt auf Dai's besorgtes Gesicht.
"Oh Daisuke... ich hab dich gar nicht gehört. Wie geht es dir?"
Es war ein ungewohnter Anblick, Oshin lächeln zu sehen. Bisher hatte er Dai stets finster angestarrt oder spöttische Bemerkungen geäussert. Auch war es das erste Mal, dass Oshin Dai beim Namen nannte.
Dai konnte nicht anders, als kurz zu schmunzeln, bevor er antwortete: "Mir geht es gut, danke. Aber dir scheint es nicht so gut zu gehen..."
"Wie meinst du das?" Oshin's Blick verfinsterte sich leicht.
"Ich habe dich jetzt schon eine Weile dabei beobachtet, wie du den Snack Automaten anstarrst."
Oshin wurde leicht rot. "Was? Wirklich?"
"Du hast nicht einmal geblinzelt, als ich kurz gehustet habe. Erst als ich deinen Namen gerufen habe, hast du reagiert... kannst du dich nicht entscheiden, was du nehmen willst?"
Oshin kratzte sich bei der Frage verlegen am Hinterkopf.
"Nein... es ist nur... ach, vergiss es. Ich wollte sowieso Diät machen."
Oshin hob seinen Rucksack vom Boden auf und wollte an Dai vorbeigehen, als Dai seine Hand auf Oshins Schulter legte.
"Hey warte kurz... ich hab noch dein Geld von der Wette."
Oshin sah ihn mit grossen Augen an, als Dai die 4000 Yen aus seinem Rucksack hervorkramte und es Oshin auf die Hand geben wollte.
"Nee, lass das! Du hast die Wette gewonnen und jetzt gehört das Geld dir. Du hast es dir verdient. An deiner Stelle würde ich es weise ausgeben."
Er nahm seine Hand zurück und wandte sich wieder zum Gehen, als Dai ihn am Arm zog.
"Ich will es ja WEISE ausgeben. Deshalb will ich es dir geben. Ich sehe doch, dass du das Geld brauchst... bitte tu nicht so, als wäre es anders."
Bevor Oshin etwas erwidern konnte, drückte ihm Dai die Scheine in die Hand und lächelte.
Oshin hingegen blickte Dai so an, als könnte er gleich in Tränen ausbrechen. Was zu Dai's Glück nicht erfolgte.
"Okay, ich geh dann Mal." Dai wollte unbedingt aus der Szene fliehen, weil er einem harten Brocken wie Oshin nicht dabei zusehen wollte, wie er Emotionen zeigte. Zudem war die plötzliche Verhaltensänderung von Oshin ihm gegenüber immer noch unangenehm.
"Danke", sagte Oshin und schenkte ihm ein warmes Lächeln.
"Ehm... ist schon gut." Dai lächelte zurück.
Als er sich umdrehen wollte, um zu gehen, hörte er Oshin noch fragen: "Ist es für dich denn nicht schlimm, nicht mehr spielen zu können?"
Dai drehte sich überrascht zu ihm um.
"Ich meine, du hättest es wirklich ins nationale Team geschafft! NATIONALES TEAM! Ich wüsste nicht, wie ich noch lächeln könnte, wenn man mir die grösste Chance meines Lebens in einem einzigen Augenblick weggenommen hätte..."
Dai war sprachlos angesichts der plötzlichen Frage und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte.
Oshin schien auch nicht auf eine Antwort abzuwarten, denn er setzte gleich mit dem Schwärmen fort: "Ich habe richtig grossen Respekt vor dir bekommen, als der Coach von dir erzählt hat. Ich und andere Teamkollegen haben uns nach deiner Geschichte richtig inspiriert gefühlt, weisst du?"
Ja wie könnte Dai das vergessen. Er war ja schliesslich dabei, als der Coach gleich nach der Wette auftauchte und aus dem Nichts begann, von seiner glorreichen Zeit als Basketballspieler zu erzählen. Ausser er und Takeo, war das ganze Team von seiner Geschichte zu Tränen gerührt.
Ehrlich gesagt hatte es Dai satt, bemitleidet zu werden.
Am Anfang hatte es eine tröstende Wirkung auf ihn gehabt. Aber jetzt fühlte es sich für ihn so an, als würden ihn alle nur als den "toten Basketballstar" sehen. Als gäbe es ihn nicht mehr.
"Danke", ist das Einzige, was Dai mit einem gezwungenen Lächeln noch herausbringen konnte.
Oshin wirkte nervös und fummelte an seinen Fingern herum, als ob er etwas Bedeutendes mitteilen wollte.
"Da ist doch noch was? Spuck schon aus."
Oshin kratzte sich wieder verlegen am Hinterkopf. "Du bist ganz anders, als das man von dir erzählt hat. Wirklich anders...."
Dai hob eine Augenbraue hoch. "Wie anders?"
Oshin schritt näher zu Dai. "Meine Freundin hat mir eine ganz andere Version von dir erzählt."
"Kenn ich sie vielleicht? Also deine Freundin und ihr Freundeskreis?"
Dai dachte dabei an Kumiko und ihre treue Gefährtin Izumi.
"Nein, das glaub ich kaum. Ich denke es war eher so, dass sie und ihre Freundinnen ein paar Gerüchte von dir gehört haben und so ihr Bild über dich gemacht haben. Wie ich es leider auch getan habe..."
Oshin schüttelte ungläubig den Kopf.
"Also ist es doch nicht Kumiko. Aber sie muss diejenige gewesen sein, die die Gerüchte über mich verbreitet hat" , nahm Dai in Gedanken an.
"Aber darauf will ich nicht hinaus..." Oshin atmete nochmals tief durch, um genug Mut zu sammeln.
"Ich will mich für mein vergangenes Verhalten dir gegenüber entschuldigen und es wiedergutmachen. Vielleicht können wir unsere Wette freundschaftlich weiterführen... einfach an einem anderen Ort."
Dai nickte als Zusage und wurde neugierig.
"Hättest du am Wochenende Zeit und Lust mit mir im Gamecenter abzuhängen und zu zocken? Natürlich kann Takeo auch mitkommen... und ich werde alles bezahlen!"
Dai fühlte sich, von seinem plötzlichen Angebot, etwas überrumpelt und wusste nicht, was er antworten sollte.
"Ah denkst du wegen dem Geld nach? Das ist kein Ding, ich bekomme am Samstag wieder viel Taschengeld, also sollte das kein Problem sein. Also, was sagst du dazu?"
"Ja sicher... ehm", Dai überlegte kurz, "am Samstagmorgen muss ich an einem Musikprojekt arbeiten... aber am Nachmittag hätte ich Zeit und Takeo sicher auch."
"Toll, dann sehen wir uns also am Samstag um drei?"
"Ja klingt gut."
Dai machte mit Oshin zum Abschied eine Brofist und begab sich daraufhin zu seinem Klassenzimmer.
Oshin sah noch Dai nach und schenkte danach dem Snackautomaten seine volle Aufmerksamkeit.
❀❀❀
Dai streckte sich, als er aus dem Schulgebäude trat und ging zu seinem Lieblingssitzplatz hin.
Es war auf einem kleinen Hügel, direkt neben der Schule. Man konnte von dort aus über das ganze Schulgelände sehen.
Der Matheunterricht fiel aus, weil der Lehrer krank war und er keinen rechtzeitigen Ersatz finden konnte. So hatte Daisuke jetzt eine Stunde für sich Zeit, bis Physik dran kam.
Die Sonne schien hell über den Himmel.
Man könnte meinen, es wäre immer noch Hochsommer, obwohl es schon Mitte September war. Eine leichte Brise wehte, was ihn sofort wach werden liess.
Der Oberschüler kam an seinem Platz an. Es stand ein runder schwarzer Marmortisch und zum Sitzen eine ebenso edle Marmorbank.
Neben der Bank ruhte ein hoher Kirschbaum. Seine Äste hingen wie ein Schutzschirm über dem Tisch.
Kein Regen kam da durch, wie der 17-Jährige einmal festgestellt hatte.
Im Frühling war es hier besonders schön, wenn die rosafarbenen Blüten zum Leben erweckt wurden und die Vögel mit ihrem Gezwitscher ihn in Frühlingsstimmung brachten.
Plötzlich entdeckte Dai Hei-Ran, die an seinem gewohnten Sitzplatz sass.
Sie hatte Kopfhörer auf und schien an etwas konzentriert zu schreiben. Also konnte sie Dai nicht kommen hören.
"Die wäre bestimmt weggerannt, wenn sie mich gesehen hätte."
Dai setzte sich absichtlich neben sie. Er beäugte kurz, was sie gerade schrieb und konnte eine Notenfolge erkennen. Er summte die erste Reihe nach und war sofort von der Melodie begeistert.
Hei-Ran schien seine Anwesenheit immer noch nicht bemerkt zu haben.
Als er weitersummen wollte, aber Hei-Ran's Arm im Weg stand, riss er das Blatt von ihr weg.
Hei-Ran wollte protestieren und das Blatt wieder aus seinem Besitz ergreifen, als sie jedoch Dai erkannte, verharrte sie sofort in ihrer Bewegung. Hilflos starrte sie ihn an.
Dai bemerkte Hei-Ran's Reaktionen nicht, denn er war bereits in ihrer Melodie versunken.
"Das ist wunderschön!", brachte Dai schliesslich nach dem Lesen heraus und sah Hei-Ran begeistert an.
"Ich wusste gar nicht, dass du so gut Melodien schreiben kannst. Es liegt doch klar auf der Hand, wieso Yoshiaki dich ausgewählt hat!"
Hei-Ran löste sich langsam von ihrer erstarrten Position und entwendete wortlos das Blatt von Dai. Sie nahm ihre Kopfhörer ab und legte alles, was sie auf dem Tisch ausgebreitet hatte, wieder in ihren Rucksack.
Dabei hielt sie ihren Blick gesenkt und lief langsam rot an. Bevor sie wieder wegrennen konnte, hielt Dai sie rechtzeitig am Handgelenk fest.
"Du hast mir gestern am Telefon versprochen, dass du vor mir nicht mehr weglaufen wirst, schon vergessen?"
Hei-Ran hielt kurz inne, lief noch röter an und setzte sich mit gesenktem Blick wieder hin.
Dai liess ihre Hand wieder los.
"Gut, wusst ich's doch, dass du dich an Versprechen hältst."Dai lächelte zufrieden.
"Sag mal, hast du diese Melodie für unser Projekt geschrieben?"
Hei-Ran schüttelte den Kopf. "F-für mich selbst."
"Ach so, find ich gut."
"Daisuke..."
"Ja?"
Sie sah ihn beunruhigt an. "I-ich muss jetzt w-wirklich los... e-es tut m-mir leid."
Bevor Dai reagieren konnte, ist sie schon davongeflitzt.
Er sah ihr noch nach, wie sie in eines der Schulgebäude reinging und komplett aus seinem Blickfeld verschwunden war.
Dai seufzte. Die Zusammenarbeit wird wohl noch schwieriger werden als er dachte.
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