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Wir betreten den Bahnhof und sofort bin ich dankbar, dass ich nicht geweint habe. Die Kameras sind wirklich überall. Manche stehen ganz offen da, andere sind versteckt hinter Büschen oder Dachgiebeln. Mein Mittribut - Alex - scheint auch in guter Verfassung zu sein. Das er weint kann ich mir aber auch nicht vorstellen. Er hat wieder seine gelangweilte, gleichgültige Miene aufgesetzt. Gespielt ist die sicher nicht. Niemand kann so gut schauspielern.
Geraldine schubst uns förmlich in den Zug. Vielleicht will sie nicht zu lange auf Kameras in einem der ärmsten Distrikte gezeigt werden. Vielleicht haben wir aber auch einfach nur massiven Zeitdruck. Ich bin noch nie mit einem Zug gefahren. Wir dürfen die Distrikte, in denen wir leben nicht verlassen. Aber ich habe auf Bildern Kohlezüge aus Distrikt 12 gesehen, doch die sind nichts im Vergleich zu dem, was wir gerade betreten. Die Kohlezüge sehen schmutzig und schäbig aus, Maximalgeschwindigkeit vielleicht 60 km/h. Dieser hier ist an den Innenwänden mit blauen Samt ausstaffiert, der Boden ist aus weißem Marmor, in dem sich verzerrt mein Gesicht spiegelt und überall stehen Tische, die sich vor Essen biegen.
Mein Mittribut greift misstrauisch nach einem saftigen grünen Apfel, dessen Schale makellos das Licht der Deckenlampen zurückwirft. "Keine Angst, die sind nicht vergiftet", trällert Geraldine, als Alex den Apfel zurück in die Obstschüssel fallen lässt. Aber ich muss ihm insgeheim rechtegeben. Alles hier sieht eine Spur zu perfekt aus. Zu künstlich. Es riecht sogar nach Kapitol. Der Duft soll wohl unseren Distrikt widerspiegeln: er erinnert mich an Wald, Bäume, Pflanzen. Doch auch er riecht etwas zu sehr aufgesetzt.
Wir folgen den schmalen Gang etwa fünf Meter bis er in einem großen, offenen Raum mündet. An einem weiteren kreisrunden Tisch kann ich zwei Personen sitzen sehen. Die eine scheint etwas jünger, zierlicher zu sein. Ein Mädchen. Ich erkenne sie sofort. Johanna Mason, Siegerin der Hungerspiele vor drei Jahren. Anfangs schien sie nur eine kleine Heulsuse zu sein, sodass die anderen sie völlig übersahen. Als dann nur noch eine Hand voll anderer Tribute im Rennen waren, zeigte sie, dass sie brutal töten konnte. Die andere Gestalt ist männlich, hat dunkles Haar und trägt sogar hier im Zug eine Sonnenbrille. Eret, The_Eret, Nachname unbekannt. Gewinner der vorletzten Hungerspiele, direkt nach Johanna. Der erste Tribut, der sich einen Gamertag zugelegt hat.
Ich bleibe unschlüssig stehen, während Alex bereits auf den Tisch zugeht und einen Stuhl an sich heranzieht. Sofort beginnt er eine Unterhaltung mit Johanna. Kein Wunder, wenn man die Arbeit mit einer Axt der beiden miteinander vergleicht, dann wäre nur schwer ein besserer Kämpfer zu küren. Geraldine stupst mir leicht ins Kreuz, um mich aufzufordern, mich ebenfalls mit unseren Mentoren bekanntzumachen.
Zögerlich gehe ich auf sie zu. Eret lächelt zwar, doch als ich ihm in die Augen sehe, sehe ich nur die Menschen, denen er auf seinem Weg zum Sieg das Leben genommen hat.
"Alle Tribute haben etwas an sich, was ihnen hilft, in der Arena zu überleben. Was ist mit euch? Welche Fähigkeiten besitzt ihr?", fragt Johanna und nagelt mich mit ihrem Blick auf dem Stuhl fest. Alex hebt die Hand, als wolle er sprechen, greift aber dann doch zu einem Fleischmesser in einem der Besteckbehälter. Er packt den Griff fest mit der Hand und zielt direkt auf die Wand ihm gegenüber. Die Klinge bleibt leicht zitternd in der Halsader eines gemalten Ritters stecken. Ein tödlicher Schuss, wäre das ein echter Mensch gewesen. Unsere Mentoren nicken anerkennend. "Und was ist mit dir?", wendet sich Eret nun an mich. Ich zögere kurz. Ich besitze keine besonderen Fähigkeiten, bin nicht so zielsicher wie mein Mittribut und kann bei weitem nicht so schwere Lasten heben wie er es tun könnte. Aber irgendwie muss ich doch zurück nach Hause kommen, das habe ich meiner kleinen Schwester versprochen, oder nicht?
"Ich... Ich lege sie herein. Ich greife aus dem Hinterhalt an, wenn sie es am wenigsten erwarten. Meine Stärken liegen im Nahkampf" Ganz falsch liege ich mit dieser Aussage nicht, aber es ist auch nicht 100 prozentig die Wahrheit. Ich kann gut kämpfen, ja, aber bisher waren es nur kleine Raufereien auf dem Schulhof. Die Klinge einer Axt habe ich bisher nur in Baumstemme versenkt, nicht in Menschen. Wo ist der Unterschied, flüstert mir Dristas Stimme gedanklich zu. Genau, wo ist der Unterschied? Es gibt keinen, beantworte ich mir die Frage. Ich muss wohl ziemlich dümmlich aussehen, wie ich da so mit leicht geöffneten Mund und glasigen Augen dastehe, doch die anderen Personen im Wagon scheint es nicht zu kümmern. Nur Eret blinzelt ab und zu in meine Richtung.
~
Nach einem so anstrengenden Tag möchte man eigentlich nur ins Bett. Schlafen. Die Welt vergessen. Das Leben vergessen. Sterben. In meinem Kopf sind 1000 Gedanken. Unsortiert schwirren sie umher. Einige drehen sich um Überlebenstaktiken, manche sagen mir, ich soll aufgeben und mein Schicksal akzeptieren und ein oder zwei verlangen einfach nur nach Essen. Aber ich bekomme nichts von dem, was ich mir wünsche. Nicht den Tod, keinen Schlaf. Nur Essen im Überfluss. Aber ich kann nichts anrühren. Jedenfalls nicht während Drista zuhause hungert. Stattdessen zwingen uns unsere Mentoren die Ernten der anderen Distrikte anzusehen. Um die Konkurrenz zu kennen? Seit wann verhalten wir uns eigentlich wie die Karrieros?
Apropos Karrieretribute: Dieses Jahr hat es uns ganz scheußlich erwischt. Die vier Jungen aus eins und zwei sehen aus, als würden sie alles weg töten, was ihnen auf zwanzig Metern zu nahe kommt. Maschinen, die aufs Morden getrimmt worden sind. Distrikt vier steht ihnen da um nichts nach. Der eine, Foolish nennt er sich, sieht aus als würde er mir mit der bloßen Hand das Genick brechen können. Der andere, Quackity, ist nicht besonders groß, doch die Art, wie er die anderen Freiwilligen über den Haufen gestoßen hat, um sich einen Weg zur Bühne zu bahnen und sein süffisantes Lächeln jagen mir Angst ein. Alles an ihm schreit nach mörderischem Genie. Alyssa, das Mädchen aus 3 ist zierlich, doch in ihre Miene spricht Bände. Außerdem haben wir zwei zwölfjährige. Sie können aber auch schon dreizehn sein. Ist schwer zu sagen. Toby Smith aus 11 und Tom Simons aus 10. Keiner der beiden versucht seine Angst zu verstecken, und als die Kameras auf ihre Gesichter halten, während sie in den Zug steigen, kann man sehen das sie geweint haben. Aus 12 kommt ein Junge, der überrascht aber alles in allem nicht sehr verängstigt wirkt. Und noch ein zweiter. Vielleicht sechzehn oder siebzehn. Dunkle Haare, stechend blaue Augen. Als sein Name, George, aufgerufen wird, sieht er erschöpft aber doch sehr gefasst aus. Ich muss schlucken.
Als die Sequenz endet und die Hymne abgespielt wird, wird mir klar, dass ich nicht die geringste Chance habe.
(A/N: Nur zum Verständnis, Clay ist 17)
1102 Wörter
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