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Die Augen halb geschlossen, mit den Füßen im immer noch eiskalten Wassers des Sees baumelnd und auf dem Rücken auf dem Steg liegend fühlt es sich beinahe danach an, als wäre ich wieder dort. Bin ich aber nicht. Ich verweile nur in Tagträumen über die Arena, Clay, Liana und Tommy. Manchmal tauchen auch Sapnap und Purpled in ihnen auf. Oder Punz. Es gibt keine Spiele, keine ständige, lauernde Angst. Keine Kanonen die den plötzlichen Tod ankündigen. Oder Selbstmord. So ist nämlich Alyssa gestorben. Ich habe es gesehen, auf der Zusammenfassung, die sie mich gezwungen haben, anzusehen. Sie ist an einer Klippe gestanden, vermutlich eine, die zu unserem ungerundetem Terrain dem Berg gehörte, hat salutiert und ist gesprungen. Einfach so. Manchmal frage ich mich, ob das nicht auch die besser Option gewesen wäre.
Eine sanfte Briese streicht über mein Gesicht. Der Frühling meldet sich mit seinen ersten Vorboten in Distrikt zwölf schon früh, obwohl wir kein vergleich zu unseren Nachbarn im Süden, Distrikt elf, sind, bei denen vermutlich bereits der Sommer eingekehrt ist.
Ein Gong ertönt aus weiter ferne. Zeit für mich, zu gehen. Seufzend ziehe ich meine Füße aus dem Wasser und mache mich auf den Weg zurück zum Hob. Ich halte die Augen die meiste Zeit geschlossen, den Weg bin ich früher so oft mit Liana gegangen, ich könnte ihn im schlaf wiederfinden, und konzentriere mich auf mein Gefühl und Geruchsinn. Es duftet nach Kindheit und Freiheit. Unbeschwertheit. Dinge, die mir das Kapitol genommen haben.
Zurück im Distrikt fühle ich mich wie ein Fremder. Er ist verlassen, wie eine alte Geisterstadt. Die verwinkelten Schlacke Straßen sind leergefegt, dafür drücken sich die Kinder ihre Nasen an den Fensterscheiben platt, sobald ich vorbeilaufe. Sie haben nicht erwartet, mich wiederzusehen, und um ehrlich zu sein, ich auch nicht. Seit Haymitch's Spielen hat niemand mehr aus unserem Distrikt gewonnen.
Schwungvoll biege ich um die Straßenecke zum Dorf der Sieger. Nur zwei dieser Häuser sind bewohnt, ich und Haymitch sind also quasi Nachbarn. Wundervolle Bedingungen, ich weis. Noch dazu kommt, dass der Geruch von Schnaps über dem gesamten Dorf hängt und mir somit einen dauerhaft vernebelten Kopf verleiht. Ein Grund mehr, regelmäßig in den Wald zu flüchten.
Kaum habe ich mein neues Zuhause betreten, wirbeln auch schon Gabrielle, Calypso und Nona um mich herum. Mein Erneuerungsteam, extra für mich angereist aus dem Kapitol. Sie haben den Auftrag, mich für die Tour der Sieger, die traditionell ein halbes Jahr nach den Spielen ausgetragen wird, fertigzumachen.
Und noch eine Gestalt steht da. Sie ist etwas kleiner als ich und scheint nervös zu sein, denn ständig wippt sie auf den Fußballen vor und zurück. Ich möchte Stella, meine Stylistin, nach ihr fragen, doch finde keine Gelegenheit dazu.
Nach einer halben Ewigkeit scheuchen sie mich endlich nach draußen auf den Bahnhof. Einmal kurz für die Kameras lächeln, dann darf ich mich in Ruhe ausheulen. Der erste Stopp ist Distrikt elf, dann geht es weiter Schritt für Schritt über Distrikt zehn, nach Distrikt neun und so weiter. Zum Schluss geht es dann noch einmal hier her bis die Reise schlussendlich im Kapitol endet.
~
Teilnahmslos starre ich in die stumme Menge zu meinen Füßen. Meine Augen müssen glasig und leer sein und ich höre nicht einmal richtig zu, wie der Präsident eine Rede zu meiner Ehren hält. Ich bringe es einfach nicht über mich, Purpleds Großvater in die Augen zu sehen, der ganz alleine auf dem Podium neben Tommys Geschwistern und Eltern steht. Aber am aller schlimmsten ist, dass der alte Mann nicht einmal die Spür von Hass in seinem Gesicht gezeigt hat, als sie meinen Namen verkündet haben. Sein Blick war eher...verständnisvoll? Macht das Sinn? Als der Bürgermeister von Distrikt zehn seine Ansprache endlich beendet hat, niemand klatscht, wäre es Zeit für mich, meine Rede vorzutragen. Zu dumm das ich kein einziges Wort vorbereitet habe. Nicht das ich es nicht versucht hätte, aber das was ich fühle kann man nun einmal nicht in Worte fassen. Dennoch kann ich den Distrikt nicht verlassen, ohne Tommy auf wiedersehen gesagt zu haben. Das wäre nicht richtig. Also trete ich langsam, am ganzen Körper zitternd, auf das Mikrofon zu und beginne zu sprechen.
"I-ich habe lange darüber nachgedacht, was ich sagen soll wenn ich einmal hier stehe. Was ich euch über Tommy und Purpled erzählen soll. Wie gute Menschen sie doch waren und wie falsch es ist, dass sie sterben mussten. Aber das tue ich nicht. Das fühlt sich nicht richtig an. Ich kannte die Beiden nicht lange, den einen so gut wie gar nicht, dennoch ist mir der anderen ans Herz gewachsen wie ein kleiner Bruder. Ich hätte Tommy nie töten können, wären wir beide als letztes übrig gewesen. Aber ich habe jemanden getötet und darauf bin ich nicht stolz. Ich wollte das nie und es tut mir so unfassbar leid dass ihr das mit ansehen musstet. Purpled war zu jung um zu sterben. Wenn er die Chance dazu bekommen hätte, wäre etwas älter gewesen, er hätte mich vernichten können, ohne mit der Wimper zu zucken. Und er hätte es genauso stark bereut. Er war eine Kämpfernatur, die bis zu seinem letzten Atemzug nicht für sich selbst aber für seine Liebsten weitergemacht hat"
Und zum ersten Mal an diesem Tag sehe ich dem alten Mann in die Augen, der mich mit einem warmen Lächeln ansieht. Und seine Augen sprechen Bände.
Für meine nächsten Worte muss ich mich wappnen, denn es kann gut sein, dass ich jetzt zu heulen beginne.
"Ich weiß wie es sich anfühlt, jemanden zu verlieren, der einem wichtig war. Ich habe viele solcher Personen verloren. Meine Schwester, Tommy, Clay... Opfer der Spiele, die uns ein ums andere mal beweisen, dass wir den Krieg verloren haben. Aber ich für meinen Teil habe nie mit dem Kämpfen aufgehört. Und so auch nicht die leise Stimme in meinem Kopf, Tommys Stimme, die mir ständig sagt, ich sei kein kleines Kind mehr, ich solle mich aufraffen und nicht in Selbstmitleid versinken. Nicht abdriften. Das würde ich machen, hätte ich die Spiele für mich gewonnen. Aber ich stehe nicht für mich hier. Ich trage diese Krone nicht für mich. Ich trage sie für Tommy, stehe hier für Clay, in dem wissen, sie irgendwann wieder zu sehen"
Damit erstirbt meine Stimme und ich werde von einer starken Hand ins Innere des Justizgebäudes gezogen, ohne die Reaktion der Menge mitzubekommen. Aber das tue ich doch. Denn ich höre wütende Schreie. Gegen das Kapitol, gegen mich, gegen die Welt.
~
Wenn ich dachte, die Ansprache in Distrikt zehn war die heftigste, dann habe ich mich getäuscht. Und das gewaltig. Denn ich habe etwas viel schlimmeres als die verständnisvollen Augen Purpleds Großvater gesehen. Ich habe seine grünen Augen gesehen, waldgrün, wie ein Blätterdach, durch das die Sonne bricht, die mich hasserfüllt angestarrt haben. Nein, nicht hasserfüllt. Wütend und berechnend, das trifft es eher. Das kleine schwarzhaarige Mädchen stand ganz alleine da und stütze eine bucklige, steinalte Frau. Drista und - wie es aussieht - Technos Großmutter.
Nach meiner Rede habe ich noch etwas Zeit, bis das Festessen beginnt, also beschließe ich, mich etwas im Justizgebäude von Distrikt sieben um. Es ist sperrig, in dunklen Holztönen gehalten und wirkt etwas fehl am Platzt.
Jemand tippt mir auf die Schulter und ich wirble herum. Es ist die kleine unbekannte Frau, die ich auch schon zuhause im Dorf der Sieger gesehen habe. Sie drückt mir einen zusammengefalteten Zettel in die Hand, nur um kurz darauf wieder zu verschwinden. Ich falte die Notiz auseinander und beginne mit gerunzelter Stirn zu lesen.
Ich war seine Stylistin. Sie haben mich zu einem Avox
gemacht um dir bei deiner Tour zu dienen. Geh und
verabschiede dich richtig von ihm. Du hast eine Stunde.
-Y
Ich schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken und seufze, wie ich es schon so oft bei Clay gesehen habe, dann mache ich mich aus dem Staub.
~
29/08/3804
Clay Fabrics
beloved brother and son
"find what you love and let it kill you"
und direkt darunter
28/08/3804
Alex Benville
beloved grandson
"good things don't happen to heros"
Gedankenverloren drehe ich die weiße Rose zwischen meinen Fingern und starre auf die Namen, die in den Grabsteinen eingraviert sind. Eine weibliche Stimme, die eines Kindes, reißt mich schließlich zurück in die Wirklichkeit.
"Du solltest nicht hier sein"
Ich muss mich nicht umdrehen um zu wissen, wem die Stimme gehört.
"Es fühlte sich richtig an" Mit einem schiefen Grinsen, die Art von Grinsen, mit dem mich Clay immer bedacht hat, drehe ich mich zu seiner Mini-Ausgabe in Form seiner kleinen Schwester um. Sie sieht mich nur böse an, doch dann wird ihr Blick weicher, ihre Stimme sanfter und einige Oktaven leiser.
"E-es ist n-nur so. Er h-hat mich gebeten, dich etwas zu fragen. Vor seinem Tod. Sie haben einen Brief im Innenfutter seines Hoodies gefunden. Er muss ihn schon vor den Spielen verfasst haben. Sie haben ihn nicht geöffnet, sondern mir gegeben"
Ich nicke langsam, kann aber immer noch nicht verstehen, worauf sie hinaus will.
"Hast du ihn geliebt?"
Ich sehe sie nur verwirrt an.
"Ich frage dich kein zweites Mal, George Davidson. Hast du ihn geliebt?"
Und ohne darüber nachzudenken nicke ich.
Sie lächelt. "Er hat dich geliebt. Ich bin froh, dass er glücklich sterben durfte. Verbring mit ihm so viel Zeit wie du willst. Du hast die Ewigkeit. Er nicht"
Und mit diesen Worten dreht sie sich um und geht, der letzte Schimmer ihres rabenschwarzen Haares noch einmal im schwachen Sonnenlicht aufblitzend. So unbedeutend. So wunderbar unbekannt. Aber nicht mehr lange. Denn in drei Tagen wird man sie kennen.
Als Panems jüngster nachweislicher Suizidvorfall.
(A/N: gebt niemals nie "deep quotes" bei pinterest ein. glaubt mir, dafür seid ihr nicht bereit. JEDENFALLS *trommelwirbel* wars das mit der story :/ es hat mir unfassbar viel spaß gemacht zu schreiben und danke an jeden einzelnen von euch, der mich auf dem weg begleitet hat <3 luv u guys <33 *mic drop*)
1615 Wörter
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