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Ich befinde mich in einer Schockstarre. Mein Mund ist leicht geöffnet während mein Gehirn die Situation versucht zu verarbeiten. Urplötzlich steigt die Übelkeit in mir hoch und ich habe Angst, mich übergeben zu müssen. Alle Augen haben sich auf meine kleine Schwester gerichtet. Meine kleine, zerbrechliche Drista, die schon vor ihrem eigenen Schatten davonläuft. Wie sollte sie in der Arena länger als fünf Minuten durchhalten? Geschweige denn gewinnen? Und noch bevor mir wirklich bewusst wird, was ich da eigentlich tue, hebe ich meinen Arm.
"Ich melde mich freiwillig. Ich melde mich freiwillig als Tribut"
Wenn man vorher gedacht hat, es ist still, dann ist das nichts im vergleich zu jetzt. Alle starren mich an. Klar, ist auch sehr ungewöhnlich. Man meldet sich für Familienmitglieder nicht freiwillig. Punkt. Kann schon sein, dass Ellie ihre kleine Schwester Sophie letztes Jahr nicht gerettet hat aber ich könnte nicht zulassen das sie Drista mit einem Schwert im Magen zurückschicken. Apropos Drista. Sie schreit. Schreit mich an, den Mist sein zu lassen. Sie gehen zu lassen. Nicht zu sterben. Aber ich blende sie aus. Ignoriere ihre Stimme, die mir wie 1000 Scherben ins Herz schneidet.
"Wundervoll! Wundervoll. Wie heißt du denn, Herzchen?", zwitschert Geraldine während sie begeistert in die Hände klatscht. Meine Kehle ist trocken, ich bringe fast keinen Ton raus. "C-Clayton Fabrics" Ich gebe mein bestes, damit meine Stimme nicht wackelig klingt, denke aber nicht, dass ich das wirklich hinbekommen habe. "Oh, ich wette meinen Hut darauf, dass das deine Schwester war!" Ich nicke kaum merklich. Bloß keine Emotionen zeigen, ermahne ich mich. Ich bin zufrieden mit dem Ergebnis. Ich sehe meine eiserne, gefühlslose Miene auf den Bildschirmen, die überall auf dem Platzt angebracht sind. "Wolltest dir von ihr nicht die Show stehlen lassen, was? Nun gut. Fröhliche Hungerspiele..." ...und möge das Glück stehts mit euch sein, beende ich den Satz gedanklich. "Und nun bitte einen kräftigen Applaus für unsere Tribute aus Distrikt 7!" Das muss man unseren Distrikt echt lassen: Es klatscht kein einziger. Sie starren uns an, schweigend, und ich habe das Gefühl, sie starren mir in meine Seele. Dann, einer nach dem anderen, heben sie den rechten Arme und führen drei Finger zu ihren Lippen, danach zu uns. Jetzt weiß ich nicht mehr, wie lange ich meine gleichgültige Maske noch tragen kann. Dieser Gruß ist etwas besonderes. Ein Abschied von einem geliebten Menschen.
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Ich war noch nie im Justizgebäude. Wozu auch? Manche Kinder in meinem Alter sind schon hier gewesen. Familienteile sind bei der Arbeit verunglückt - tödlich. Sie mussten sich eine Tapferkeitsmedaille abholen. Als ob das den Verlust eines Vaters oder einer Mutter, für den das Kapitol Verantwortung trägt, ausgleichen könnte. So gesehen haben wir aber auch die Hungerspiele. Da bekommt schließlich niemand Tapferkeitsmedaillen. Nicht einmal Jonathans Familie, obwohl er die Karrieros wirklich erstaunlich lange auf Trab gehalten hat.
Der Raum in dem sie mich eingesperrt haben ist auch nicht besonders wohnlich. Für mich jedenfalls nicht. Aber Paulin Beckson, eines der Mädchen, die ständig bei den wohlhabenderen Schülergrüppchen rumhängt, würde es bestimmt gefallen. Abgesehen davon, dass man innerhalb fünf Tagen tot wäre. Der Boden ist aus dunklen Fichtenparkett, große schmutzverkrustete Fenster werden von schweren, satinroten Samtvorhängen verdeckt. Ein sperriger Kamin verbraucht mindestens ein Drittel des Platzes und ein großes, weinrotes Sofa steht in der Mitte.
Ich höre, wie jemand einen Schlüssel im Schloss herumdreht und die Tür aufstößt. Einen Herzschlag später kommt ein Mädchen hereingestürmt und umarmt mich so fest, dass ich einen Moment lang keine Luft bekomme. Das Mädchen hat ihren Kopf in meinem Hemd vergraben und ich spüre, wie warme Tränen es durchnässen. Drista hebt den Kopf und sieht mich direkt an. Ihre Augen sind rot und verquollen aber auch ihre sorgfältig geflochtenen Haare sind nun wirr als ob sie jemand durcheinandergebracht hätte. "Du h-hast es v-versprochen! Du h-hast v-versprochen das du dich ni-hicht f-freiwillig meldest", krächzt sie und sieht mich vorwurfsvoll an. "Hey, es ist alles gut. Du weißt, dass ich dich nie in die Arena lassen würde" Ihre Augen füllen sich erneut mit Tränen als ich die Arena erwähne. Ich streiche ihr sanft übers Haar, um sie zu beruhigen. "Versprichst du, dass du wieder zurückkommst? Versprichst du's mir?" Eine Welle von Schuldgefühlen baut sich in mir auf. Ich habe doch nicht die geringste Chance gegen die anderen Tribute. Dennoch nicke ich langsam. "Ich versprech's. Ich bin ziemlich schlau, weißt du?" "Und du kannst jagen. Dir essen besorgen", hickst sie. "Tiere. Keine Menschen" "Wo ist der Unterschied, Clay?" Und als sie meinen Namen flüstert wir mir schrecklich bewusst das es keinen Unterschied geben wird. Das es fast leicht sein wird, eine Axt in den Bauch eines Menschen zu vergraben. Ich muss nur vergessen, dass es Menschen sind.
775 Wörter
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