Get to know you in the library
„Louis, setz dich hin!" Verwirrt drehe ich mich zu Darla und schaue sie für einen Moment still an. „Wie bist du hier rein gekommen?", will ich als erstes wissen und spiele mit dem Stück Lego in meiner Hand. „Durch die Terrassentür, die war auf." Ich nicke nur und schaue wieder auf das Riesenrad, welches ich gerade zusammenzubauen zu versuche.
„Das kannst du gleich weiter machen. Ich muss dir was erzählen!" Sie lässt nicht locker, weshalb ich aus meinem Büro in den Flur deute. Wir können uns auf die Couch oder auf die Terrasse setzen, das ist mir egal. Nur nicht in mein Büro, dort habe ich ungern Menschen um mich herum. „Willst du was trinken?", biete ich ihr an und fahre mir durch die Haare.
Die Mappe in ihrer Hand fällt mir erst jetzt auf, weshalb ich sie verwirrt anschaue. „Danke, aber ich muss die Energie-Drinks erstmal abbauen. Puhhh, die Nacht mit den Dingern durchzumachen, war doch etwas zu viel." Was man unter anderem auch an ihren Händen merkt, die etwas zu sehr zittern.
Skeptisch nicke ich und setze mich auf einen der Stühle auf der Terrasse und schaue meine beste Freundin abwartend an. „Ich habe dir doch letztens von dieser Musiker-Familie erzählt. Von den Geschwistern, die als Duo starten wollen und der jüngste Sohn, der sich aus allem raushalten will?" Unbeeindruckt nicke ich und verdrehe die Augen, als Darla mir die Mappe hinhält.
Seitdem ich sie kenne, recherchiert sie immer über den neusten Klatsch und Tratsch in unserer Stadt. Und Seattle ist groß. Zu groß, um keine neue Schlagzeile zu finden. Es ist schon alles dabei gewesen. Eine Affäre des Präsidenten, irgendwelche Politiker, die etwas verbotenes getan haben und Influencer, die einen nur abzocken, während sie auf ihre eigenen Marken aufmerksam machen.
Alles interessant, wenn man sich für so etwas interessiert. Ich baue lieber an meinen Bauwerken aus Lego und verkaufe sie dann für teures Geld. Meine eigenen Kreationen sind am gefragtesten. Genau so, wie das Riesenrad, an dem ich gerade zu Gange bin. Es ist nicht irgendeins, sondern das London Eye.
„Lies es dir durch. Das ist der Wahnsinn. Der jüngste soll angeblich einer der talentiertesten Künstler sein, aber seit dem Autounfall seines Ehemannes vor drei Jahren sieht man ihn kaum noch." Ich öffne die Mappe und blicke direkt auf ein Bild einer fünfköpfigen Familie und zwei Katzen. Tiere. Bah.
Die zwei ältesten Leute schätze ich als Eltern ein, neben ihnen zwei junge Männer und eine junge Frau. Wahrscheinlich ihre Kinder.
Für mich sehen die Leute auf dem Bild aus, wie eine ganz normale Familie. Zwei Eltern mit ihren Kindern. Trotzdem lese ich mir ihren Artikel durch, bevor ich die Mappe wieder schließe.
„Wenn dieser Harry keine Lust auf die Öffentlichkeit hat, ist es doch sein Recht. Er kann für sich selbst entscheiden, auch wenn seine Eltern berühmt sind. Und ganz ehrlich. Er hat seinen Mann verloren, da würde ich die Aufmerksamkeit der Menschheit auch nicht unbedingt auf mir haben wollen.", erkläre ich und verschränke die Arme vor der Brust.
Wo auch immer Darla den Unfallbericht her hat, will ich gar nicht wissen. Laut Informationen sind Harry und sein Ehemann während eines Staus in einen Unfall verwickelt worden. Harry ist mit einem Trauma davon gekommen, während sein Mann noch an der Unfallstelle ums Leben gekommen ist.
Der Wagen vor ihnen hatte Stahlstangen geladen, die sich vom Anhänger gelöst haben und durch die Windschutzscheibe in das Auto der beiden gerutscht sind. Teilweise durch Harrys Ehemann.
Die Einzige Emotion, die ich bei dem Ganzen verspüre, ist Trauer und Mitleid. Für Harry. Und selbst dieser Unfall geht mich nichts an.
Ich halte von dem Ganzen nichts. Jeder soll so leben, wie er leben will und das Recht darauf haben, seine Privatsphäre so zu leben, wie er will.
Trotzdem will Darla sich davon nicht abbringen lassen. „Damit könnte ich es endlich raus schaffen, Louis. Dann bin ich endlich Journalistin und muss nicht die ganze Zeit die Scheißarbeit der anderen machen. Verstehst du? Das ist meine Chance!" Das sagt sie seit drei Jahren und immer wieder mit jeder neuen Story, die sie ans Land bringt.
Anhalten kann ich sie nicht, weshalb ich ihr die Mappe kommentarlos zurück gebe und meine Augen schließe. „Du findest eine andere Story, um rauszukommen. Aber über seinen toten Ehemann zu schreiben geht nicht.", rate ich ihr, bevor sie beinahe aufspringt und um den Tisch auf mich zu kommt.
„Ich mach das schon." Dann wuschelt sie mir durch die Haare und verlässt meinen kleinen Garten wieder mit ihrer Mappe. Hoffentlich weiß sie, was sie macht.
*
„Das kann doch nicht sein, dass Sie diese Aufbauanleitung nicht mehr haben! Ich habe vor zwanzig Minuten hier angerufen und sie zurücklegen lassen. Wieso ist sie jetzt nicht mehr da?", rege ich mich in der Bibliothek auf, die die Aufbauanleitung für mein Lego-Projekt nicht mehr haben.
Sie haben ein ganzes Regal voller Anleitungen aber genau diese fehlt? Die wollen mich doch verarschen.
„Sir, wir haben die Anleitung wirklich nicht hier. Aber wenn Sie in zwei Wochen wiederkommen, können Sie sich sie gerne ausleihen." Verständnislos schnaube ich und drehe mich von der Kasse oder was auch immer ist, weg und gehe wieder auf das Regal mit den Anleitungen zu. Vielleicht haben sie eine andere Ausgabe, die mir hoffentlich weiterhelfen kann.
Genervt schaue ich durch die einzelnen Regale und sehe aus dem Augenwinkel, wie jemand anderes DIE Anleitung aus dem Regal zieht. „Wenn Sie die Anleitung mitnehmen, dann werde ich wütend.", motze ich und reiße dem Mann die Anleitung aus den Händen.
Nochmal lasse ich mir keine Anleitung einfach wegnehmen, die ich viel dringender brauche, als jeder andere. Und erst recht nicht von jemandem, der in Skinny Jeans und pinkem Hemd vor mir steht. „Entschuldigung?" Ich merke seinen Blick auf mir, während ich die Anleitung etwas fester umschließe. Antworten tue ich aber nicht. „Es gibt wirklich Menschen, die diese Anleitungen ausleihen?", will er wissen und grinst mit ekelhaft schönen Grübchen.
Und dazu kommen diese grünen Augen, die mir irgendwie bekannt vorkommen. Aber ich habe keine Ahnung, woher.
„Ja, ich habe die oberen beiden Regale durch. Irgendein Idiot hat die Anleitung geklaut, die ich brauche. Und wenn Sie mir diese jetzt vor den Augen wegschnappen, werde ich zum Biest." Abwehrend hebt er die Hände, bevor er sich mit einer durch die Haare fährt.
„Sie kommen an die obersten Regale dran?" Mir klappt der Mund auf, während mein Gegenüber anfängt zu grinsen. „Ey, ich bin nicht der größte, aber so groß wie Sie will ich gar nicht sein. Da stößt man sich doch jedes Mal den Kopf am Türrahmen.", feixe ich zurück und schüttle den Kopf.
Für einen Moment lacht er, bevor er den Kopf schüttelt. „Mein Mann hat sich damals immer an der Tür vom Auto den Kopf gestoßen, aber dieses Problem habe ich zum Glück nicht.", erklärt er und spielt mit seinem Ehering.
Den habe ich bis gerade gar nicht gesehen, obwohl mir seine Hände eben schon positiv aufgefallen sind. Seine langen, aber schmalen Finger und der gebräunte Handrücken. Genau so wie sein Gesicht.
„Oh, Sie sind verheiratet? Ich habe Sie nicht so alt eingeschätzt. Also nicht, dass Sie alt wären, aber..." Ich unterbreche mich selbst, indem ich den Blick senke. Wieso rede ich mit einem Fremden, der mir eben die Lego-Anleitung klauen wollte, über seinen Ehemann? Ich sollte einfach gehen und ihn von nichts abhalten. Vielleicht wartet sein Mann auch schon auf ihn, während er sich mit mir unterhält.
„Wir haben mit achtzehn geheiratet. Und ich würde es wohl immer wieder tun, aber er ist gestorben. Es fühlt sich an, als wäre es gestern passiert.", haucht er und schaut mich entschuldigend an. „Ich will Sie gar nicht vollquatschen, aber Sie kennen mich tatsächlich nicht, oder?" Verwirrt schüttle ich den Kopf und kratze mich am Nacken.
Doch dann fällt es mir wieder ein. Er ist dieser Musiker-Harry. Er hat seinen Mann bei einem Autounfall verloren und meine beste Freundin will einen Artikel über ihn veröffentlichen. Über ihn und seine Familie.
„Es hat Klick gemacht, nicht wahr?" Er seufzt und will sich umdrehen, doch ich halte ihn am Handgelenk bei mir. „Ich habe es erst vor ein paar Tagen von meiner besten Freundin erfahren. Mich interessiert sowas nicht. Jeder sollte seine Privatsphäre haben. Auch Sie. Und wenn Sie keine Lust auf die ganze Berühmtheit haben, soll das Ihre Sache sein. Nicht die der Menschheit." Ich lasse sein Handgelenk los und fahre mir durch die Haare.
„Und das mit Ihrem Mann tut mir leid. Wirklich." Er nickt nur und atmet zittrig aus. „Danke." Ich lächle vorsichtig und blättere durch die Anleitung. „Haben Sie Lust auf einen Kaffee? Oder einen Tee? Ich höre zu und stelle keine Fragen." Für einen Moment scheint er zu überlegen, nickt dann aber.
„Ich bin Harry.", stellt er sich dann vor, was mich schmunzeln lässt. „Louis, schön dich kennenzulernen." Ein Lächeln ziert seine Mundwinkel, bevor er neben mir aus dem Gang geht und noch auf mich wartet, bis ich die Anleitung ausgeliehen habe.
„Worüber willst du als erstes sprechen?", frage ich draußen und schaue mich einmal um. Obwohl es heute recht sonnig ist, sind kaum Menschen auf der Straße, was Harry als Vorteil nutzt.
Anscheinend ist er doch bekannter, als dass es mir bewusst ist. Aber Musik ist für mich zum Hören da, nicht um den Mensch dahinter zu verfolgen.
„Ist es okay, wenn ich über ihn rede? Nicht jeder will mit mir über Nick reden. Eigentlich niemand.", bricht er die Stille und greift nach seinem Ehering. Es muss unfassbar schwer für ihn zu sein, eine Person zu lieben, die neben ihm gestorben ist. Und trotzdem ist er so stark. „Natürlich ist es okay. Ich höre zu und schweige wie ein Grab. Ich gebe es dir auch gerne schriftlich, wenn es dir lieber ist.", entgegne ich, worauf er mich erstaunt anschaut. „Wirklich?"
Ich nicke und lächle ihn aufmunternd an. Anscheinend hat er nicht viele Menschen, denen er vertrauen kann. Und dann einem wildfremden, der sich über eine Anleitung eines Legobauwerkes beschwert, über sein Leben zu erzählen? Da wäre ich schreiend weggerannt.
Aber Harry nicht. Und das weiß ich irgendwie zu schätzen.
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