One Shot 36 - Slum
Es gibt allgemein zwei Sorten von Menschen. Die eine Sorte war die Übliche: Reich, gebildet, mit einer wohlhabenden Familie. Die Menschen, die alles hatten und sich alles leisten konnten, weil sie alles Geld der Welt besaßen. Aber sie besaßen kein Herz, keine Vorstellung davon, wie es anderen geht. Denn die anderen, die zweite Sorte, hatten fast nichts. Lebten auf knapp fünf Quadratmetern Platz, den sie sich nochmals mit anderen teilen mussten, und noch dazu kam, dass um das Essen gekämpft wurde, als wäre es irgendein Lottogewinn. Für diese Menschen aber war es so etwas. Leute, die aus der ersten Kategorie kamen – die Reichen, die alles hatten und sich alles leisten konnten -, wollen sich das nicht vorstellen. Ob wollen oder können, ist alles nebensächlich, denn das einzige, was zählt, ist: Sie denken nicht darüber nach. Sie leben ihr Leben, als wäre es das Normalste, dass sie Geld und Dinge hatten, die sie begehrten, und dass es zum Alltag gehörte, täglich essen zu gehen oder mit den Töchtern shoppen zu gehen. Als wäre es normal, glücklich zu sein.
Ein perfektes Beispiel für Kategorie Zwei der Menschen ist Mexiko City. Eine Megastadt mit achtzehn- bis neunzehnmillionen Einwohnern, ungewiss aufgrund der Illegalen Bevölkerung; die, die nicht bei der Regierung angemeldet sind. Höhere Temperaturen als in Europa oder Amerika, gleichgestellt zu Asien, Afrika und Australien – rein mit der Hitze. Neunzig Prozent der Stadt besteht aus den Wohngebieten; manche groß und ausgebaut, andere eher kleiner und gemütlicher. Die restlichen zehn Prozent bilden die Slums.
Harry Styles, Leiter einer Hilfsorganisation für Kinder in Armut; und Liam Payne, Mitarbeiter der Organisation, stapften langsam in das Innere eines solchen Slums, und sahen mit gerunzelter Stirn die riesigen Müllberge an, auf denen ein paar Kinder kletterten, um nach etwas Essbarem zu suchen. Als Harry genauer hinsah, erkannte er, dass alle Kinder – Kleinkinder, Babys, Jugendliche – extrem abgemagert waren; es war zwar nicht ungewöhnlich, schockierte ihn trotzdem jedes Mal aufs Neue. „Liam? Verteil bitte die Essenspacks." Er nickte, drehte sich um und machte sich an die Arbeit, die darin bestand, den ausgehungerten Familien eine Freude zu machen und ihnen das zu geben, worum sie manchmal wie bei einem Wettkampf kämpften. „Hallo?", hörte Harry von rechts, er drehte den Kopf in die Richtung und lächelte leicht. Knappe zwei Meter vor ihm stand ein Jugendlicher, der ihn mit großen, blauen Augen ansah; im Gegensatz zu der restlichen Bevölkerung war er nicht dunkel-, sondern hellhäutig, und das fand Harry interessant. So jemanden wie diesen Jungen hatte er hier noch nicht gesehen.
„Hallo.", antwortete er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, und registrierte mit Entsetzen, dass der Junge vor ihm noch ärmer dran war als die anderen Kinder, die er bisher gesehen hatte. Seine Rippen stachen deutlicher hervor, die Arme und Beine dünn wie Stecken, und in seinem Gesicht und den schönen blauen Augen sah man die Erschöpfung, als trüge er ein Schild mit der Aufschrift „Schaut her, schaut alle her, hier bin ich, und hier werde ich auch verrecken, da ich nichts zu essen habe!" Harry schluckte, machte einen Schritt, und dann noch einen, bis er vor dem Jungen stand und sich vor ihn kniete. „Wo sind deine Eltern?" Der Junge senkte den Blick, sein Gesicht wurde traurig. „Hab nicht mehr.", murmelte er leise, und Harry sah, dass eine Träne aus einem Augenwinkel seinerseits lief. Vorsichtig hob er das Kinn des Jungen an, als befürchte er, dass er unter seinem Griff zerbrechen könnte wie hauchdünnes Glas, das man nicht mehr reparieren konnte.
„Wie heißt du?" Der Kleine richtete die Augen auf die des Mannes vor sich, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber kurz darauf wieder; er wusste anscheinend nicht so recht, was er antworten sollte. „Ich nicht wissen." Harry runzelte die Stirn und nickte, obwohl er die Situation völlig absurd fand; jeder wusste doch seinen Namen und geisterte nicht namenlos in der Gegend herum. „Komm erstmal mit, ja? Dann bekommst du was zu essen." Seine sonst so trüben blauen Augen bekamen einen glücklichen Glanz, und ein Strahlen überzog sein Gesicht, sodass das Herz des Lockenkopfes sofort aufging wie eine Blüte im Frühling. Als er die kleine Hand des namenlosen Jungen in seine große nahm und ihn vorsichtig zu dem Vorratswagen führte, spürte er einen immensen Beschützerinstinkt in sich und lächelte. Anscheinend war ihm der Junge ans Herz gewachsen, ohne dass er irgendetwas machen musste. Die beiden kamen an, und Liam sah Harry leicht lächelnd an, als er ein Essenspack aus dem Kofferraum holte und es für den kleinen Jungen aufmachte. Dieser sah mit großen Augen auf das Essen darin, und Harry konnte gar nicht so schnell sehen, da war auch schon das Meiste davon in seinem Mund verschwunden.
„Harry?", rief er, und kam ein wenig näher; der Kleine zuckte wegen dem Tempo zurück. „Hey, alles gut, Kleiner.", beruhigte Harry ihn und wandte sich Liam zu. „Ja?" Der Mitarbeiter sah einmal kurz zu dem Kind, dann wieder zu seinem Vorgesetzten. „Anscheinend ist er dir wichtig." Harry nickte. „Es gibt eine Möglichkeit, ihm noch ein bisschen mehr zu helfen." Der Lockenkopf hob eine Augenbraue. „Und die wäre?" Ihm fiel nichts ein, was er noch nicht in Betracht gezogen hätte. „Du könntest ihn in ein Heim bringen, wie viele andere von den Kindern auch." Er überlegte. Eigentlich war es gar keine so schlechte Idee, aber er wollte ihn nicht in ein Heim bringen, in dem er keine Aufmerksamkeit bekommen würde; er wollte ihn bei sich haben. „Kein Heim. Zu mir." Liam runzelte die Stirn und sah ihn zweifelnd an, während Harry's Blick zu dem Jungen wanderte. „Und wie willst du das mit dem Staat regeln? Du musst erst zum Jugendamt gehen. Und die werden ihn dir sicherlich nicht lassen, wenn du keinen Termin für eine Prüfung ausmachst. Und erst recht nicht, wenn sie nicht wissen, ob der Kleine noch Eltern hat." Liam sah ihn abwartend an, und Harry antwortete: „Er hat keine mehr. Ich hab ihn gefragt." Er sagte es leise, damit der Blauäugige nichts davon mitbekam. Seufzend nickte Liam. „Ich kann sowieso nichts dran ändern, aber wenn du irgendwelche Probleme bekommst: ich hab dich gewarnt." Harry nickte; etwas anderes blieb ihm schließlich nicht übrig.
Drei Monate später stellten sich jedoch alle Sorgen Liam's als unbegründet heraus, auch, wenn er viele Gerichtstermine beim Familiengericht, unzählige Gespräche mit dem Jugendamt und der Gemeinde über sich ergehen lassen musste. Aber das war jetzt alles egal, denn Harry war jetzt der offizielle Erziehungsberechtigte von Louis Styles – er hatte sich wieder an den Namen erinnern können – und saß im Moment mit dem Kleinen auf der Couch, einen Arm über seine Schulter gelegt, und sah sich mit ihm einen Kinderfilm an. Und zum ersten Mal fühlte Harry sich darin bestätigt, das Richtige getan zu haben, etwas erreicht zu haben. Denn er wusste: er hatte einem wehrlosen, unschuldigen Kind ein neues Leben geschenkt; wie zehntausend anderen Kindern ebenso, die bei fürsorglichen Familien das bekamen, was ihnen zustand: ein richtiges Leben.
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