Nerin in Gedanken
In täglicher Eintönigkeit ruckelte die Kutsche immer weiter vorwärts auf ihrem Weg.
Hatten sich die jungen Damen darin vor kurzem noch angeregt unterhalten, so waren zwischenzeitlich alle eingeschlafen und dösten umhangen von dicken Fellen vor sich hin.
Es erschien Nerin zuweilen anstrengend, stetig das Polnische ihrer Begleiterinnen zu hören und selbst die geeigneten, richtigen Worte zu suchen und zu finden, um an den Gesprächen teilzunehmen. Und wenn es nicht das Polnische war, so übte sich die Herrin Reglindis darin, die deutsche Sprache zu erlernen.
Herrin Reglindis- so jung, wie sie noch an Jahren war- zwang sich regelrecht dazu, mit der deutschen Sprache zu Recht zu kommen. Besonders seit man der Gefangenschaft durch die Redarier und Lutizen entronnen war und an die Burg Lenzen, der Stammburg von Nerin's Vater, gut und sich gelangt war vor einigen Wochen.
Die Beweggründe der Herrin waren für Nerin nachvollziehbar. Sie hatte den großen Wunsch, in der hier üblichen Landessprache mit ihrem Gemahl reden zu wollen und auch den Würdenträgern geistlicher und weltlicher Macht hierzulande in Gesprächen nicht nachzustehen. Herrin Reglindis war wegen ihres hohen Standes und dem Wunsche des Vaters auch im Lateinischen am Hof gemeinsam mit ihren Geschwistern unterrichtet worden. Aber hierzulande- ob mit den Leuten höheren oder einfachen Standes und Ansehens- wurde das Deutsch gesprochen.
Nerin sah sich unter den Frauen um.
Während Herrin Reglindis im tiefen Schlafe war und auch deren engste Vertraute, die ebenso junge Fürstentochter Lieschna von Masowien, suchte Frau Sania von Dobschitz noch eine gute und erträglich bequeme Sitzstellung zum Ruhen. Frau Sania rutschte hin und her, öffnete ab und an ihre Augen. Wenn Sie dabei zu Nerin herüber sah, hatte Frau Sania fast immer ein freundliches Augenzwinkern für Nerin über.
Frau Sania von Dobschitz stand ihr, Nerin, unter den Frauen am nahesten. Vielleicht auch, weil Frau Sania fast im gleichen Alter wie sie selbst war. Sania hatte um das Fest der heiligen Könige herum Geburtstag, wie sie vor längeren kundgetan hatte. Damit war sie nunmehr zumindest bis zur Zeit des Palmsonntags gleichalt wie Nerin und damit Neunzehn. Sania war ein gütiger und sanfter Mensch, deren Gesellschaft für sie sehr angenehm war.
Obgleich Sania einem sehr angesehenen, hohem Adelsgeschlecht entstammte- ihr Vater stand in der Gunst des polnischen Königs Boleslaw Chrobry I. sehr hoch und ihrer Familie gehörten mehrere Burgen und Landbesitz- war sie nicht nur eine bodenständige Frau von großer Herzlichkeit, sie scheute sich auch nicht erbarmungswürdigen, einfachen Menschen in Not nahe zur Hilfe gehen. So hat Nerin auch in Magdeburg erlebt, wie Frau Sania kurzentschlossen einer armen Frau zu Hilfe eilte, die augenscheinlich krank, geschwächt und wohl auch von einem Ausschlag geplagt nahe dem eigenen Kirchgang- Weg zusammengebrochen war. Selbst Nerin hatte in diesem Moment- obschon sie auch gleichen Wunsch hegte in Angesicht der armen Frau- nicht gewagt, aus dem Kreis um die Herrin Reglindis und die anderen Begleiter heraus zu treten.
Herrin Reglindis und ebenfalls die Tochter des Herzoges von Masowien, Frau Lieschna, blieben in dieser Situation- wie von ihrem Stand erwartet muss- reglos und sichtlich unbeeindruckt.
Nerin war in sich noch im Zweifel, wie viel sie von sich selbst und persönlichen, inneren Wünschen und Hoffnungen unter den edlen polnischen Frauen vielleicht offen aussprechen würde oder durfte- doch wenn, würde sie selbst sicherlich Frau Sania in das persönliche Vertrauen ziehen wollen.
Bislang- und soweit dies Angelegenheiten der Frauen nur betraf, wie das wiederkehrende Ausbluten- tauschte man sich jedoch helfend untereinander noch aus und versuchte den Ratschlag auch für die anderen Frauen hier in der Runde zu geben. Seit die im Trossgeleit der vorgesehenen Braut Reglindis mitgereiste ältere Nonne im Slawischen Land im Hinterhalt erschlagen zurück geblieben war, mussten sich die jungen Frauen hier gegenseitig Beistand und Rat geben. Und die Zeit der Gefangenschaft ließ alle Vier zudem näher zu einander Vertrauen fassen.
Nerin's Blick wanderte hinüber zu der schlafenden Tochter des polnischen Königs. Fünfzehn Jahre war die edle Reglindis. Und- wie ihr anerzogen- bereits bereit, sich dem politischen weltlichen Aufgaben durch Bündnisheirat zu stellen. Die Hochzeit war im Zuge der Kaiserlichen Wallfahrt nach Gnesen im letzten Jahr beschlossen worden. Der Vater von Hermann, Markgraf Ekkehard von Meißen, steht dem Kaiserhaus der Sachsen sehr nahe. Reglindis Vater kannte den Markgrafen wohl bereits von verschiedenen Treffen, insbesondere den festlichen Osterfeierlichkeiten, welche jedes Jahr für die Hochgeborenen des Reiches am Reichsstift und der Pfalz in Quedlinburg am Harz stattfanden. Mehrfach hatte man sich hier und bei anderer Gelegenheit gesehen. Die Nähe des polnischen Herrscherhauses zu den Ekkehardingern war auch durch die Blutlinie bestimmt, denn Boleslaw war Halbbruder Ekkehards- so hatte man sich im Wallfahrtslager Gnesen mit Ehren und großer Freude unter kaiserlichem Wohlwollen dazu entschlossen, das freundschaftliche Bündnis durch Heirat von Reglindis und Hermann erneut zu bezeugen. Reglindis war Zeugin seinerzeit dieses Versprechens der Väter, wenngleich Hermann ihr nicht vor die Augen kam in jenen Tagen im vorigen Jahr. Und so trägt sie nun die- wie Nerin es empfindet- Last, das väterliche Versprechen halten zu müssen mit Würde.
Und Nerin? Tief in sich hasste sie ihres Vaters Entscheidung, dass Sie sich zu beugen hatte und mit der Wallfahrt nach Polen gehen musste. Auch wenn es ihr selbst in den polnischen Landen besser gefiel, als in den südlichen, bergigen Marken. Waldreich war es dort und die Polen von ritterlichen Gemeinschaftsgedanken mehr geprägt, als die Sachsen hierzulande. Auch waren die Polen mehr noch als die Deutschen bestrebt, den christlichen Glauben in ihrem Reich zu verbreiten- egal ob seinerzeit im Fürstentum oder nun als Königreich. Die Polen haben eine erhabene, große Ritterschaft mit enormer militärischer Schlagkraft.
Und einem dieser Herren, den Nerin selbst nicht einmal bislang gesehen hatte, war Sie nun versprochen. Alt soll der vorgesehene Gemahl schon sein, sehr alt sogar. So alt, dass er nicht die Reisen des polnischen Herrschers mehr begleiten kann. Nerin hatte gehört, dass der anversprochene Rittersmann kein Kind in erster Ehe hatte und seine erste Frau überlebt habe. Ruhm und großes Vermögen soll der Ritter sich bei Kriegen und Feldzügen im Osten der polnischen Gebiete durch harten Kampf errungen haben, weshalb es Reglindis Vater eine Ehre erschien, diesen polnischen Ritter zur Festigung des Bündnisses mit den Linonen durch Heirat vorzuschlagen. Vater Berogast hatte- auch in der Hoffnung auf starkes Bündnis zu Polen- sofort bereitwillig die Werber begrüßt und schnell eingewilligt, Nerin nach Polen mitzugeben.
Tagelang hatte Nerin auch unter den Augen des Vaters geweint. Angefleht hatte sie ihn, nicht gehen zu müssen. Doch hartherzig hatte der Fürst Berogast darauf beharrt- aus Sorge, die Lutizen und deren Bündnispartner könnten sich seiner Herrschaftsgebiete an der östlichen Elbe bemächtigen. Das Eheversprechen an die Polen hatte Wirkung gezeigt und Vater konnte zufrieden sein, denn weder Lutizenbund noch die Redarier würden es nun wagen, sich über die lande der Linonen herzumachen und zu plündern, wenn deren Ostland durch die mächtigen Polen bedroht wird. Da zudem die Bündnisse mit den Abodriten im Norden und Sachsen im Westen bestehen, würde man dem Lutizenbund bei Gefahren oder Einmarsch lutizischer Truppen entschlossen beikommen können.
Nerin jedoch war noch immer betrübt, nach Polen versprochen zu sein. An manchen Tagen, wenn diese innere Bitternis zu gewaltig durchbrach, suchte Nerin selbst zuflucht im Gebet und gab sich ihren Tränenflüssen hin.
Die dicke Stoffbespannung am Fenster löste sich kurz an einer Ecke, als der Wagen durch ein Bodenloch ruckelte. Ein kalter Windhauch wehte in das Innere der Kutsche hinein.
Der wedelnde Stoff wurde am Zipfelstück durch den Windhauch umgeschlagen und gab den Blick nach Außen frei.
Larno ritt neben der Kutsche.
Aufrecht auf dem fast zu klein wirkenden Pferd sitzend, ließ Larno sein Reittier langsam neben der Kutsche einherschreiten, ohne es antreiben zu müssen. In der einen Hand die Zügel und in der rechten den langen Speer fest umfasst, welchen Nerin ihm zur Ernennung als Herrn von Bojek selbst ausgesucht und geschenkt hatte. Der lange, spitze Schild war seitlich am Sattel auf linker Seite des Tieres zu sehen. Obgleich Larno erschöpft aussah, war er wohl aufmerksamen Blickes in die Umlande des Weges- immer auf der Hut, um Gefahren früh zu erkennen.
Ein leichtes Grisseln überkam Nerin an ihren Armen- doch nicht durch die Kälte des hereinwehenden Windes.
Es kam aus ihrem Inneren- vom Herzen her.
Und sie wusste es- tiefen ehrlichen Herzens wusste es Nerin- doch durfte Sie es sich selbst nicht eingestehen und musste sich zwingen, nicht darüber zu reden oder sich vielleicht durch Blicke oder Gesten zu verraten.
Larno galten ihre inneren Gefühle- ob es nun Zuneigung zu diesem Mann war oder gar schon Liebe genannt werden konnte.
Oft dachte sie an ihn- bereits in jenem Moment der Angst auf Burg Slivor, als Larno entschlossen in die kleine Hütte der gefangenen Frauen herein trat und dann für alle beruhigende Worte der Sicherheit sprach. Vom ersten Moment an war Nerin von diesem Larno erobert, ohne das es seine Absicht war- ihr Herz gehörte ihm.
Und er konnte es nicht wissen, durfte es nicht erfahren.
Selbst wenn Nerin ihm ihre Gefühle gestehen würde- in Larno's Herz war noch kein Platz für eine neue Frau. An dieser anderen, kränklichen Frau, die kurz nach der Hochzeit mit ihm vom weltlichen in das geistliche Reich der Götter übertrat- an seiner verstorbenen Braut Nemanja hing sein Herz noch allzu sehr und seine Gedanken waren noch betrübt von ihrem Tod.
Nerin durfte ihren Gefühlen nicht nachgeben, auch wenn sie es gern wollte.
Der Stoffbezug am Fenster blähte sich leicht unter dem kalten Wind von außen.
Nerin konnte nicht den Blick von Larno wenden.
Erst als Frau Lieschna neben ihr leicht fröstelnd sich im Schlaf bewegte, wurde Nerin aus ihren Gedanken heraus gerissen. Und Nerin zwang sich fast, ihren Blick abzuwenden vom Mann ihres Herzens.
So zog sie den Riemen der Fensterbespannung wieder um die Öse am Haken, damit die Fensterbespannung die Wärme im Wagen halten konnte.
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