Trübe Tage
Nach zwei sehr windreichen Tagen hing der Himmel nun voller Wolken und ein feiner Nieselregen fand seinen Weg durch das Blätterdach der Bäume.
Es war kühl geworden. Zum ersten Mal fand die Kälte auch ihren Weg in die kleine Felshöhle und lies die Zeit dort unbehaglich sein. Im Schlaf fror man- besonders die Mädchen klagten schon jetzt darüber.
So kalt es in der Höhle war, so unsicher war auch der Wald dieser Tage.
Da man ein Ausweich- Quartier weiter westlich angelegt hatte, war keine Gelegenheit, die Beendigung der Arbeiten am Knüppeldamm zu verfolgen. So erfuhr man auch nicht, dass sofort am Tage darauf der Großteil der lutizischen Krieger durch die Wälder zog- auf der Suche nach den Rebellen und den vermissten Kriegern.
Man getraute sich nicht, allein Holz zu holen oder Wasser zur Höhle zu schaffen. Überall musste man vorsichtig sein. Jedes Geräusch konnte die Gruppe verraten.
Durch Zufall hatten die Mädchen Gesa und Nemanja am gestrigen Abend nahe dem Fluss Kartaniza die große Kriegerschar lagern gesehen- weit östlich der Burg Slivor. Sie schienen von Norden her dem Flusslauf gefolgt zu sein und legten dort eine Pause zur Nacht ein. Ein Feuer hatten sich die Krieger dort gemacht.
Sollten die Lutizen weiter nach Süden dem Fluss folgen und dann westlich den Wald absuchen, so konnten diese Krieger bereits heute oder morgen das Lager in den Felsenbergen aufspüren.
Und noch etwas hatten die Mädchen festgestellt: Nemanja erkannte unter den Lagernden auch einige Leute aus Slivor. Neben Slawav, dem Freund Wladims, waren auch der unbeherrschte Witwer Gniewko, der unglücklich wirkende Zimko und der alte Jaropolk unter den Lagernden. Fünfzehn Mann oder mehr waren es – angeführt von dem Mann mit den Narben. Gesa kannte diesen Mann schon- vom Blutbad auf der Burg Slivor. Er war enger Vertrauter des Fürsten Neromir.
Ohne am Fluss wegen dieser Gefahr fischen zu können, waren die Mädchen am Abend zurückgekehrt.
Sladko und Gesa waren außerhalb der Höhle und hielten die Augen für die Ruhenden im Walde seit heute Morgen auf. Gesa war zwar von gestern erschöpft, wollte aber unbedingt mit Sladko gemeinsam wachen.
Larno hatte vorgeschlagen, das Alle dieses Höhlen-Lager nach Westen hin zu verlassen und den Höhlenzugang zu verstecken. Nur vorerst, bis man sich wieder sicherer fühlen konnte. Doch nicht zu dem neuen Ausweichversteck- noch weiter wollte er weg von der großen Gefahr- mindestens einen Tagesmarsch und tiefer in das Brisanenland, wohin die Verfolger sich vielleicht noch nicht trauen würden.
Vieles jedoch war mitzunehmen- Lebensmittel, Waffen, Ausrüstungen, Decken. Was nicht zu tragen war, war gut zu verbergen. Damit hatte man gestern den Abend zugebracht- ebenso überhastet das Nötigste zum Aufbruch vorbereitet.
Mit knurrenden Mägen und schwerer Last waren jetzt alle aufgebrochen- ungern verließ man das geschützte Höhlenquartier.
Der Nieselregen wurde mal schwächer, dann wieder heftiger. Die Sachen wurden klamm und kalt, je länger Sie marschierten- auch wenn das Blätterdach des Waldes viel der Nässe schon abhielt.
Am Nachmittag rastete man zum Ersten Mal unter zwei eng stehenden Eichen, um etwas zu essen und kurz Kraft zu schöpfen.
Andra- sonst ein herumwirbelnder Geselle- hatte sich durch die Nässe in den Schuhen Blasen gelaufen. Er konnte einem leidtun.
Beim Weitergehen traf man am frühen Abend einige 'alte Bekannte' wieder. Es waren Schweine, die Sladko in diesen weit von der Burg liegenden Teil des Waldes getrieben hatte. Doch man wollte sich nicht aufhalten- freute sich jedoch über diese Ablenkung.
Ein Lager zur Nacht zu finden war schwer. Das Gelände war zumeist flach und in diesem Teil des Waldes auch nicht so dicht bewachsen. Recht weit konnte man durch die Bäume sehen, gedeckt liegende Stellen waren kaum zu finden.
Nahe einem brisanischen Bauerngehöft umging man abgeerntete Felder. Leute sah man nicht- dies erschien Allen auch gut so, denn je weniger man gesehen wurde, desto weniger konnte Andere Auskunft geben.
Der Boden wurde sandiger, auch der Wald nahm nun eine andere Gestalt an, als Larno beschloss das Nachtlager zu finden. Die Dobrawa und ihr Bruder Premyslaw fanden eine gute Stelle zwischen mehreren noch dicht beblätterten Buchen und Büschen, wo man sich das Lager schaffen konnte.
Die Holzfälleraxt von Nemanja's Vater leistete gute Dienste. Einige kleinere Bäume konnten mit der Axt schnell gefällt werden. So schuf man sich einen Unterstand über die Astgabeln. Den Boden legte man mit den Dellen und Decken aus, um nicht auf den vielen harten Bucheckern und Ästen liegen zu müssen.
Da man die Verfolger fern wähnte, lies man sich ohne Wache nieder. Jedoch auch ohne ein wärmendes Feuer.
Alle Mädchen aus der Gruppe gingen gemeinsam tiefer in den Wald. War dies den Jungen zwar mittlerweile gewohnt, war man dennoch in Sorge. Doch nach geraumer Zeit hörte man schon, dass diese Sorge unbegründet war.
Es war aussichtslos, seine Bekleidung zu trocknen, daher schlief man diese Nacht in ausgekühlten und feuchten Sachen- nahe beieinander kauerten alle unter dem leidlich vorhandenen Dach der Bäume und der Astabdeckung.
Geredet wurde auch am nächsten Morgen nur wenig. Getrocknetes, fahl schmeckendes Fleisch wurde von Nemanja verteilt.
Auch dieser Morgen war- ohne das es jetzt Regen gab- recht trübe. Der Tag mochte wohl nicht mit Sonnenstrahlen anbrechen.
Die Gruppe marschierte weiter.
Es muss um die Zeit gewesen sein, als die Sonne über den Wolken wohl am höchsten stand, da fand man einen kleinen Waldsee. er war umgeben von recht sandigem Boden und ufernah war reichlich Bewuchs, der undurchdringlich wirkte und fremde Blicke fernhielt.
Hier sollte es sein- das neue Lager, bis die Gefahr vorbei war.
Niemand kannte diesen Flecken von den Slivorer Kindern. Befand man sich vielleicht schon nahe den großen Flüssen?
Wie dem auch sei- hier konnte man Schutz finden, war tief im Brisanenland und fern von Burg Slivor und den entsandten Verfolgern. Soweit würden selbst die Redarier und Lutizen sich nicht vorwagen- fraglich zudem, ob die Gejagten bis hier verfolgt werden konnten. Es gab Wasser- und einen kleinen , steilen Hangabbruch nicht weit vom See. Er war von drei Seiten geschützt in einem Waldstück. Ein kleines Rinnsal floss unterhalb zum Waldsee hin. Hier musste man vorerst bleiben.
Holz wurde herangeschafft von allen- im Schutz des Hanges getraute man sich nun auch erstmals wieder, eine Feuerstelle anzulegen. Die Wärme war wohltuend- durchdrang den ganzen Körper.
Larno war ebenso erschöpft, wie die Anderen in der Runde. Aber dies würde er als der Älteste und Erfahrenste nicht offen zugeben können. Er übernahm daher die erste Wache auf dem oberen Hangstück, von wo man den nahen Waldsee und auch ein Stück des Waldes einsehen konnte. Damit hatten die Anderen Gelegenheit zur Ruhe, konnten wieder Kräfte sammeln.
Andra versorgte seine schmerzenden Füße. Dobrawa umband den Fuß mit Leinen.
Sladko und Milorad schliefen schon, Premyslaw schien gedankenversunken ins Feuer zu starren.
Gesa und Nemanja flüsterten noch kurz- dann stand Nemanja auf und kam den Hügel zu Larno herauf.
Larno blickte ihr entgegen und auf die müden Gestalten im Lager.
Sie setzte sich zu ihm. „Ich denke, hier können wir bleiben vorerst. Der Platz ist wirklich gut gewählt."
„Sie uns an, Nemanja. Unseren Haufen dort. Ich muss gestehen, ich hätte nie gedacht, dass wir uns so gut durchschlagen würden. Sind alles feine Gesellen."
„Ja. Das sind sie." Auch Nemanja gefiel dieser Anblick von Ruhe- und endlich auch der Entspanntheit- fern der Ängste.
Larno schaute zwar ebenfalls hinab ins Lager, sprach aber zu Nemanja neben sich: „Ich gestehe es nur ungern ein, aber ohne Dich hätten wir es wohl alles nicht so gut geschafft."
Nemanja lächelte. „Aber Du führst uns. Uns alle. Und – dann muss ich Dir das auch eingestehen- nicht einmal schlecht."
„Danke." Larno freute sich über diese kleine Anerkennung von Nemanja. Sie war wohl doch nicht so kratzbürstig zu ihm, wie er dachte. Und mit einem Male erinnerte er sich auch an die Worte, die Gesa und Sladko auf der Reise in das Redarier- Land gesagt hatten. Konnte es sein, dass Nemanja etwas für ihn empfand?
„Nemanja? Erinnerst Du Dich noch an damals, als wir Beide mit den anderen Kindern am Fluss baden gingen im Sommer? Wo dein Vater uns Jungen von der Stelle verscheuchte, wo ihr Mädchen ward?"
„Ja. Hat sein Stock nicht sogar deinen Rücken getroffen, als ihr davon gelaufen seid?"
„Ja. Hat er. Er hat Deine Mutter und Dich schon damals gut beschützt."
„Oh ja. Ich hoffe, es geht ihm gut dieser Tage so allein."
„Ja. Das hoffe ich auch."
„Das war in dem Sommer, wo dich der Herr Wielzko nach Rethra mitgegeben hat, stimmts?"
„Ja."
Nach kurzer Zeit des Schweigens musste Larno weiter erzählen.
„Ich habe dich damals an der Wasserstelle nackt gesehen. Aber nur deinen Rücken. Und ich war wie gebannt, weil du dein langes und braunes Haar ausgerungen hast, um die Nässe heraus zu bekommen. Du warst vollkommen unbeschwert irgendwie. So sicher- für Dich allein unter den anderen Mädchen- schienst Du jedoch aufgehoben und sehr zufrieden zu sein. Ich habe zwar nur neugierig – wie die Anderen auch- mal schauen wollen, aber diesen Anblick – von dir, wie du nackt dein Haar ausgerungen hast. Diesen Anblick werde ich nie vergessen- irgendwie hat es mich einfach- naja, gefesselt? Beeindruckt? Ich weiß nicht, wie man das beschreiben soll."
Nemanja zog ihre Haare auf einer Seite zusammen und ließ sie herabfallen. Dann zeigte sie, wie sie ihre Haare wohl auswringt. „War das so etwa?"
Larno schaute belustigt, aber nachdenklich zu ihr herüber.
„Ja, aber doch auch anders. Ich kann das nicht so richtig in Worten beschreiben. Irgendetwas jedoch hat dieser Anblick in mir ausgelöst. Und ich habe mir dieses Bild bis heute fest bewahrt. Auch in Rethra musste ich sehr oft daran denken. An Dich, deine braunen Augen, dein Gesicht, dein Haar- und diesen Eindruck von Ruhe und Sanftheit, mit dem Du damals dein Haar getrocknet hast."
Nemanja's braune Augen strahlten in diesem Abendlicht- wohl auch wegen der sanften Worte Larno's. In diesem Moment fühlte sie sich nicht wie eine Rebellin- nicht wie eine Jägerin- nicht wie eine Kampfgefährtin. Sie fühlte sich einfach nur, wie ein Mädchen. Ein Mädchen, der man gerade etwas sehr Schönes gesagt hatte.
Es war wie ein magischer Moment, den Nemanja jetzt und hier auch mit Larno hatte. Ihre Blicke- tief in die Seele des Anderen greifend. Ein wunderschöner Moment, der alles und jeden herum verschwinden ließ.
Und so kamen ihre Köpfe nah zueinander.
Ein langer und warmer Kuss zwischen Beiden.
Larno spürte die weichen, warmen Lippen Nemanja's auf seinen Lippen- mochte diesen Kuss nie mehr lösen.
„Och. Nein! Andra, Du Ungeschickter!" rief Dobrawa laut im Lager heraus. „Sieh nur, was du angerichtet hast!"
„Ich konnte doch nichts dafür, der Fuß hat einfach wegen des Schmerzes weggezuckt!", rechtfertigte sich Andra.
Gesa rief zu Nemanja und Larno auf der Hügelkante hinauf- die gerade erkannten, dass sie nicht allein auf der Welt waren. „Larno? Der Andra hat deinen aufgewärmten Brei mit dem Fuß ins Feuer gestoßen! Wirst wohl hungrig einschlafen!"
Nemanja stand lächelnd auf: „Warte. Ich werde Dir retten, was noch zu essen ist."
„Danke."
'Ja. Vielleicht werde ich hungrig einschlafen müssen- aber dennoch werde ich nachher glücklich einschlafen!'- dachte Larno so bei sich.
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