Memories change fast
,,Komm schon, Beeilung!", drängte Julie und knisterte ungeduldig mit der Chipstüte. ,,Ist ja gut, beruhige dich", meinte ich genervt. ,,Ich hab's gleich." Endlich umfasste meine Hand mein Handy und fischte es aus dem überfüllten, schwarzen Koffer.
Ich war mit meiner Klasse gerade auf Klassenfahrt und ein paar Jungs hatten die grandiose Idee gehabt, Flaschendrehen zu spielen. Meine beste Freundin wollte da natürlich unbedingt mitmachen und nun wurde ich gezwungen, ebenfalls hinzugehen.
Eigentlich hatte ich gar keine Lust darauf, mit den meisten aus meiner Klasse hatte ich eh keinen Kontakt. Stattdessen hätte ich mein Buch weiterlesen oder an meiner eigenen Geschichte weiterschreiben können. Ihr zuliebe ging ich trotzdem hin, widerwillig.
,,Los, komm jetzt!" Julie zog mich an dem Ärmel meines Hoodies hinter sich her, bis ich mich aus ihrem Griff wand. ,,Ist ja gut, ist ja gut", lachte ich. ,,Ich kann alleine laufen!" ,,Na dann, komm!" Fröhlich hüpfte sie den Gang entlang. ,,Wo sind die alle eigentlich?", wollte ich nun wissen. ,,Die haben sich nach draußen verpisst", sagte sie.
,,Wow, nicht sehr hilfreich. Weißt du, wie groß das Grundstück hier ist?" ,,Ach, folgt einfach der lauten Musik", kam es plötzlich von links.
Newt, einer der drei Neuen in unserer Klasse, lehnte im Türrahmen zu seinem Zimmer. Er, Minho und Thomas kamen vor ein paar Monaten mitten im Schuljahr zu uns, ein seltsamer Trupp, der sich jedoch recht schnell in unsere Klasse eingefunden hat.
Meine Freundin begann sofort, wieder wie blöd mit den Augenbrauen zu wackeln und übertrieben unauffällig zu Newt rüberzusehen. Seit dem ersten Tag, als Thomas, Minho und Newt in unserem Klassenzimmer aufgetaucht waren, shippte sie mich mit letzterem wie das größte Fangirl.
Ja, er sah gut aus, das musste ich zugeben. Und vielleicht, aber auch nur vielleicht, gefiel mir die Vorstellung, mehr Kontakt mit ihm zu haben. Doch ich hatte auch nie auch nur den Hauch einer Chance. Newt hing, genau wie Thomas und Minho, die meiste Zeit nur mit den anderen Jungs oder diesen typischen Mädchen-Mädchen ab. Dabei musste ich sagen, dass er von den dreien noch am nettesten war.
,,Ja, wahrscheinlich die beste Idee", gab ich zurück. ,,Kommen Minho und Thomas auch?", fragte Julie. ,,Ach, Tommy ist schon bei den anderen. Minho sollte gleich kommen." Newt verdrehte die Augen. ,,Er braucht immer ewig für seine Haare."
,,Gar nicht!", protestierte der Asiate und erschien hinter Newt in der Tür. Der warf ihm nur einen ungläubigen Blick zu. ,,Dann können wir jetzt los, oder?" Hibbelig trat meine Freundin von einem aufs andere Bein. Jetzt war ich es, die die Augen verdrehte. ,,Jaha."
Zu viert machten wir uns daran, unsere Mitschüler zu suchen. Das entpuppte sich jedoch nicht als große Schwierigkeit. Wie Newt sagte, mussten wir nur der lauten Musik folgen, die aus einer Musikbox der Jungs dröhnte.
Bei den anderen setzten wir uns in den mehr oder weniger runden Sitzkreis auf der etwas abgelegenen Wiese hinter der Jugendherberge. Das wenige Licht der Sterne über uns reichte nicht aus, um die Wiese zu beleuchten. Deshalb hatten einige kleine Kerzen um unseren Kreis aufgestellt, die den Platz in ein orangerotes Licht tauchten.
Einer der Jungs exte gerade eine Paulaner-Spezi für das Flaschendrehen und dann ging es auch schon los. Während wir einige Runden spielten, wurden haufenweise Süßigkeiten herumgereicht und irgendwo hatten die Jungs auch einen Kasten Bier her. Davon ließ ich jedoch lieber die Finger. Ich wusste noch genau, was auf der letzten Party passiert war.
Zu meinem Glück kam ich nur zwei Mal dran, wo ich einmal von meiner ersten Kindergartenbeziehung erzählen und ein Glas Gurkenwasser auf Ex trinken musste. Woher sie auch immer das her hatten. Aber ich hatte in meinem Leben schon viel schlimmere Sachen probieren dürfen.
Mittlerweile war auch ein zweiter Kasten Bier angefangen worden, den der große Bruder von Leonie heimlich hergebracht hatte. Je angetrunkener meine Mitschüler wurden, desto dümmer und leider auch kreativer wurden die Aufgaben.
Unauffällig verkroch ich mich hinter meinem Kissen, das ich mir mitgebracht hatte, und flehte die Flasche regelrecht an, nicht bei mir stehen zu bleiben.
Doch ich hatte Glück gehabt. Die Flasche drehte sich weiter und kam zwei Plätze neben mir bei Eileen zum Stillstand. Das dunkelhaarige Mädchen zog leicht die Schultern hoch und entschied sich für 'Wahl'. Anscheinend mochte sie dieses Spiel genauso wenig wie ich.
,,Mit wem aus dieser Runde könntest du es dir vorstellen, am ehesten etwas anzufangen?" Ich verdrehte genervt die Augen. Es waren doch immer wieder dieselben, unkreativen Fragen. Konnten die sich nicht einmal was neues ausdenken?
Doch Eileen schien diese Frage mehr als unangenehm zu sein. ,,Ehm, keine Ahnung", stammelte sie und blickte hilfesuchend zu ihren Freundinnen. ,,Jetzt sag schon!", rief Quentin aus irgendeiner Ecke. Er war schon ziemlich angetrunken und spannte übertrieben stolz seine nicht vorhandenen Muskeln an. ,,Ähm, vielleicht Amar? Keine Ahnung", nuschelte Eileen verlegen.
Bevor noch jemand weiter nachfragen konnte, rutschte sie in die Mitte unseres stetig kleiner werden Kreises und drehte die Flasche. Sie drehte eine Runde, dann die zweite. Schließlich wurde sie langsamer und blieb stehen. Der Flaschenhals zeigte direkt in die Mitte von Julie und mir.
Mit meinen Blicken versuchte ich ihr klarzumachen, dass sie das übernehmen sollte, was sie als beste Freundin glücklicherweise auch verstand. Sie wählte 'Pflicht' und musste dann für die restlichen Runden, immer wenn Enver dran war, einen Schluck Bier trinken.
Ich hoffte für sie, dass der Blondhaarige nicht mehr dran kam. Schon jetzt hatte Julie mehr getrunken, als gut für sie war. Besonders wegen der großen Wanderung, die unser Klassenlehrer für morgen organisiert hat.
Übermütig drehte meine beste Freundin die Flasche, die bei Newt zum Stehen kam. Ich atmete lautstark aus, hatte bei ihr doch Bedenken gehabt, sie könnte bei mir irgendwelche dummen Sachen machen, gerade in ihrem jetzigen Zustand.
Aber ich hatte mich zu früh gefreut. Julie schien fieberhaft zu überlegen, bis sie sich mit einem unheilsverkündenen Grinsen zu mir umdrehte und ihr Blick zwischen Newt und mir hin und her flog. Ich schüttelte leicht panisch ganz langsam den Kopf.
Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht!
Wenn jetzt herauskam, dass ich Newt vielleicht doch mochte, war ich am Arsch. Und er ebenfalls.
,,Newt, was nimmst du?", fragte sie unschuldig. Ihr Blick schien jedoch beinahe bedrohlich 'Wähle weise!" zu schreien. Er bemerkte dies allerdings nicht, oder ignorierte es gekonnt, und sagte zu unserem beider Pech 'Pflicht'.
Ich schloss gequält die Augen. Was hatte sich meine beste Freundin ausgedacht? Ein Kuss zwischen uns? Den ganzen Abend über Händchen halten? Irgendein geschauspielertes Verlobungsszenario, nur damit sie ihren Spaß hatte? Doch ihre nächsten Worte ließen mich überrascht aufschauen.
,,Dann müsst ihr zusammen Train Wreck von James Arthur singen."
Sie deutete auf Newt und mich und lächelte mir aufmunternd zu. Sie wusste genau, wie gerne ich sang. Und genauso wusste sie, dass das mein absolutes Lieblingslied seit einiger Zeit war. Irgendwie konnte ich ihr dafür nicht böse sein. Julie versuchte nur, mir damit etwas Gutes zu tun, auf ihre Art und Weise.
Etwas peinlich berührt stand ich auf und ging zu Newt rüber, der schon etwas außerhalb des Sitzkreises stand. Bei ihm angekommen, schnitt ich verlegen eine Grimasse und wartete, bis die Jungs es hingekriegt hatten, das Lied über Spotify anzumachen. Endlich hatten sie es dann auch soweit geschafft. Die ersten Töne erklangen aus der Box. Und wieder einmal schwor ich mir, dieses beschissene Spiel nie wieder zu spielen.
Dann begann Newt zu singen.
Laying in the silence
Waiting for the sirens
Signs, any signs I'm alive still
Ich konnte nur zuhören und ihn anstarren. Das erste was mir einfiel, war, warum konnte Newt so gut singen?
I don't wanna lose it
But I'm not getting through this
Hey, should I pray? Should I pray, yeah
Aber das hier kannte ich. Irgendwie kam mir das bekannt vor. Das war unser Lied!
To myself? To a God?
To a savior who can
Lautlos sang ich mit, während ich weiterhin Newt anstarrte und mir Tränen in die Augen stiegen.
Unbreak the broken
Unsay these spoken words
Find hope in the hopeless
Pull me out of the train wreck
Jetzt liefen mir die Tränen die Wange runter und tropften auf den Boden. An Newts Gesicht sah ich, dass auch er sich erinnerte.
Unburn the ashes
Unchain the reactions now, not ready to die, not yet
Pull me out of the train wreck
Das war unser Lied. Unser Lied auf der Lichtung gewesen. Bis WCKD uns unsere Erinnerungen genommen und in diese Welt geschickt hatte. Jetzt sang ich leise mit.
Pull me out, pull me out, pull me out, ah
Pull me out, pull me out
Newt verstummte nun ganz und meine Stimme hallte über die Wiese.
Underneath our bad blood
We've still got a sanctum, home
Still a home, still a home here
Wie konnten wir alles vergessen? Die Lichtung, WCKD, uns selbst...
It's not too late to build it back
'Cause a one-in-a-million chance
Is still a chance, still a chance
And I would take those odds
Wie konnten wir uns jeden Tag sehen, miteinander reden, ohne uns wiederzuerkennen? Wie?
Jetzt sangen wir beide.
Unbreak the broken
Unsay these spoken words
Find hope in the hopeless
Pull me out of the train wreck
Und in unseren Stimmen war alles Leid, aller Schmerz, zu hören, den wir miteinander erlebt hatten.
Unburn the ashes
Unchain the reactions now, not ready to die, not yet
Pull me out the train wreck
Es war genau wie damals auf der Lichtung gewesen. Nur wir beide, die Musik und die Sterne über uns.
Pull me out, pull me out, pull me out, ah
Pull me out, pull me out, pull me out
Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Endlich waren wir wieder zusammen. Endlich war der Teil, der mir seit einem halben Jahr fehlte, wieder da.
Newt ließ mich den nächsten Teil singen, so wie immer.
You can say what you like, don't say I wouldn't die for you
I, I'm down on my knees and I need you to be my God
Be my help, be a savior who can
Unbreak the broken
Unsay these reckless words (find hope in the hopeless)
Und jetzt kam Newt wieder dazu.
Pull me out of the train wreck
Unburn the ashes
Unchain the reactions now, not ready to die, not yet
Pull me out of the train wreck
Die letzten Zeilen sangen wir zusammen, lautstark, so wie immer, und ließen allen Gefühlen freien Lauf.
Pull me out, pull me out, pull me out, ah
Pull me out, pull me out, pull me out
Die letzten Töne erklangen, dann war alles komplett still auf der Wiese. Ich schluchzte auf und warf mich Newt in die Arme. Auch ihm flossen Tränen das Gesicht runter, das er in meinen zerzausten Haaren versteckte.
,,Ich hab dich vermisst. Es tut mir leid, es tut mir so leid, ich, ich", stammelte ich und konnte nicht mehr aufhören zu weinen. ,,Schhhh", machte Newt und strich mir beruhigend über den Rücken. Doch auch er schluchzte unaufhaltsam.
Es war, als wäre ich nun endlich wieder ganz. Als würde nicht irgendetwas fehlen, wie es sich die letzten Monate angefühlt hatte. Endlich war ich wieder glücklich und sicher. Sicher in seinem Armen.
,,Minho? Thomas?" Mit verheulten Augen drehte ich mich zu den anderen Lichtern um. Schon waren sie bei uns und drückten mich ganz fest an sich. ,,Es ist schön, dich wieder zu haben, du Strunk", grinste Minho mich an, doch auch in seinen Augen glitzerte es verdächtig.
Ich nickte nur und klammerte mich weiter heulend an Newt, als würde ihn mir jemand wegnehmen wollen. Doch das würde niemand mehr tun, das schwor ich mir. Nie wieder würden wir getrennt voneinander sein. Ich blickte in die ebenfalls tränennassen Gesichter meiner besten Freunde und wusste:
Jetzt war alles perfekt.
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