6 - Die Verfluchte
Das Wer-Kaninchen beruhigte sich nur langsam. Sein Atem ging immer noch viel zu schnell und immer wieder schüttelte ein Schluckauf seinen Brustkorb.
Henriette strich ihm über den Arm.
Johann stand auf dem Gang. Den Gehstock hielt er wie einen Baseballschläger vor sich.
„Was machen wir jetzt?", fragte Henriette. „Das war ganz schön unheimlich. Am liebsten würde ich sofort aussteigen und nach Hause gehen. Davon hat Oma nichts erzählt."
„Hält der Zug irgendwo an?", erkundigte sich Johann beim Wer-Kaninchen.
Das schüttelte den Kopf, dass die Schlappohren wackelten. „Wer eingestiegen ist, steigt nicht wieder aus."
„Nicht die Antwort auf meine Frage", entgegnete Johann. „Aber ich schätze, das heißt nein."
„Können wir irgendetwas tun?", fragte Henriette.
„Wer hält ihn auf?", wiederholte das Wer-Kaninchen.
Johann stöhnte. „Kannst du nicht irgendwie hilfreich sein?"
„Hicks!", war das Einzige, was es dazu zu sagen hatte.
„Ich schaue mal, ob ich die Tür verriegeln kann", erklärte Johann und stapfte zur Schiebetür, die ins nächst Abteil führte. Er warf einen letzten Blick über die Schulter zum Wer-Kaninchen. „Du hast nicht zufällig Schlüssel oder so?"
Das zitternde Fellbündel schüttelte den Kopf und... hickste.
„Ich sehe ihn nicht. Scheint alles ruhig zu sein", verkündete Johann, „aber abschließen kann man die Tür nicht."
„Und nun?" Henriette war den Tränen nahe und hätte am liebsten losgeheult.
„Wovor hast du am meisten Angst?", fragte ihr Bruder von seinem Ausguck an der Scheibe.
Die Frage überraschte Henriette. „Keine Ahnung", stammelte sie.
„Und du?", wandte sich Johann an das zitternde Kaninchen.
„Wer-Kaninchen hat Angst vor dem bösen Wolf."
Johann nahm die Antwort mit einem Kopfnicken zur Kenntnis. „Ich habe da so eine Theorie."
Henriettes Augen weiteten sich und sie schaute ihren Bruder an. „Erzähl!"
„Der böse Wicht hat sich verwandelt, nachdem ich ihn angegriffen habe. Dabei hatte ich kurz Angst, schwächer zu sein als er und weniger Kampferfahrung zu haben. Was wurde er?"
„Zu diesem Kämpfer?", fragte Henriette unsicher.
„Genau! Dann muss er gemerkt haben, dass er sich in eine ungünstige Position gebracht hat und wurde unsichtbar. Gerade in dem Augenblick als ich dachte, dass ich seine Bewegungen in dem neuen Outfit viel besser erkennen und voraussehen kann."
Henriette verstand. „Und dann hast du wiederholt, was Amorio über Geister gesagt hat." Johann nickte ihr zu. „Ich glaube, er lebt von unserer Angst. Die Angst des Wer-Kaninchens muss am stärksten gewesen sein. Was ist die größte Angst eines Bösewichts?" Er sah Henriette herausfordernd an.
„Besiegt zu werden?", fragte sie.
„Das!" Johann grinste über beide Ohren. „Oder nicht ernst genommen zu werden? Wenn er wieder auftaucht, stell dir vor, dein größter Alptraum wäre eine faulige Mandarine mit Wackelaugen."
Henriette schaute ihn an, die Augen zu schmalen Schlitzen verzogen. „Eine faulige Mandarine mit Wackelaugen?"
„Oder meinetwegen auch eine Avocado! Ich hab' da so eine Theorie."
Henriette runzelte die Stirn. „Sagtest du bereits."
„Erinnerst du dich an Harry Potter und der Gefangene von Askaban? Als sie in Verteidigung gegen die Dunklen Künste mit einem Irrwicht üben? Stell es dir in etwa so vor."
„Okay", sagte Henriette gedehnt.
„Bereit, die Theorie zu überprüfen?"
„Nicht wirklich."
„Du könntest mit dem Wer-Kaninchen zurück zu Amorio gehen und ich stelle mich dem bösen Wicht allein."
„Das halte ich für keine gute Idee. Ich will nicht von dir getrennt sein", antwortete Henriette. „Und außerdem hat er dich ziemlich übel erwischt."
Johann winkte ab. „Ach was. Ich war nur überrascht. Dachte, das ist so eine Traumsache, in der mir alles gelingt. Außerdem bin ich ja jetzt bewaffnet." Er schwang den Gehstock vor sich durch das Abteil.
„Wer hält ihn auf!", sagte das Wer-Kaninchen und dieses Mal klang der Satz weniger wie eine Frage.
„Ich glaube nur, dass wir dich besser vorher bei Amorio abliefern. Der Alte kann sicher etwas Gesellschaft gebrauchen und auch du solltest jetzt besser nicht allein sein", sagte Johann an das Wer-Kaninchen gewandt.
Das Fellbündel in Uniform nickte. „Wer-Kaninchen bei Amorio sicher."
„Dann ist es abgemacht", entschied Johann. „Ich halte hier Wache und du bringst ihn hin. Richte Amorio aus, dass ich seinen Stock gefunden habe."
„Komm", sagte Henriette und führte das Wer-Kaninchen mit schnellen Schritten davon.
Johann stand hinter der Schiebetür, beobachtete und lauschte. Regentropfen platschten gegen den Zug, als wollten sie mitfahren und der Donner krachte wie Bombenkugeln. Das heftige Gewitter, das draußen tobte, ärgerte ihn, denn so konnte er nicht hören, ob sich jemand näherte. Ein Blitz schlug irgendwo in der Nähe ein. Für einen Augenblick war alles erleuchtet und Johann erkannte die Ruinen einer zerstörten Stadt. Wie leere Augenhöhlen blickten ihn Fenster aus halbzerfallenen Häuserfronten an. Ihn fröstelte.
Eindeutig ein Alptraum-Szenario, in dem es besser war, wenn der Zug nicht anhielt. Johann lachte auf, weil ihm ein Spruch seiner Oma in den Sinn kam: Sei stets vorsichtig mit dem, was du dir wünscht, denn es könnte wahr werden.
Längst war draußen wieder alles in rabenschwarze Dunkelheit gehüllt. Johann ignorierte die Blitze, die in Sekundenschnelle über den Himmel zuckten, den prasselnden Regen und den Donnerhall. Er dachte über etwas nach, was seine Oma erzählt hatte.
„Da bin ich wieder. Grüße von Amorio, soll ich sagen."
Johann zuckte zusammen wie vom Blitz getroffen. Er hatte Henriette nicht kommen gehört, fing sich aber schnell wieder, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
„Bereit?", fragte er. Besser von Henny überrascht zu werden, als von etwas anderem. Ab jetzt würde er wachsamer sein.
„Matschige Mandarinen mit Wackelaugen", sagte Henriette und versuchte sich an einem Grinsen. „Wird schon schief gehen."
Johann grinste zurück und schob die Tür auf.
Das Abteil vor ihnen war auf den ersten Blick leer. Johann ging voran und Henriette folgte ihm dicht auf. Erst nachdem sie einige Meter gegangen waren, fiel Johann auf, dass sich das Gewitter verzogen hatte und draußen die Sonne schien. Der Himmel war strahlendblau und wolkenlos. Es überraschte ihn nicht mehr großartig. Hier war alles möglich, wie es schien und schlagartige Wetterwechsel sein geringstes Problem. Eine grüne Landschaft aus Wiesen, Feldern und Wäldern zog an ihnen vorüber.
„Hier lauert nichts Böses", stellte Johann fest, nur um im nächsten Moment erschrocken stehenzubleiben.
Jemand saß auf einem der Sitze. Die Knie zur Brust hochgezogen, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf tief dazwischen vergraben. Nur ein blonder Haarschopf ragte hervor. Die Gestalt wirkte klein – ein Kind, war Johanns erster Gedanke.
Die beiden Geschwister tauschten ratlose Blicke. Das Kind hatte sie noch nicht bemerkt. Henriette räusperte sich.
Das Kind zuckte zusammen. Vorsichtig hob sich der Kopf und ein paar kornblumenblaue Augen schauten hervor.
„Oh!", sagte Henriette. „Du bist ja gar kein Kind." Die Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Das Mädchen war höchstens ein paar Jahre jünger als sie selbst, eher eine junge Frau.
Es schaute sie aus großen Augen an. „Und du bist gar nicht dieser grauenhaft, grässliche Wolf", stellte sie fest und schaute zu Johann. „Und du auch nicht." Sie atmete erleichtert aus.
„Ich bin Henriette und das ist mein Bruder Johann", stellte Henny sich vor. „Wie lange bist du schon im Zug?"
„Ich weiß es nicht", sagte sie und legte die Stirn in Falten. „Ich habe geschlafen. Keine Ahnung wie lange genau, aber es fühlte sich an wie mehrere Jahre. Mindestens."
„Ist der Wolf hier entlang gekommen?", fragte Johann.
Das Mädchen schlang die Arme wieder enger um die Knie. Ihre Augen huschten einmal hin und her. Dann nickte sie. Henriette boxte Johann in die Seite und schüttelte den Kopf.
„Wer bist du?", fragte sie sanft.
Die Arme sanken zur Seite und die Füße schoben sich auf den Boden. „Ich bin Marie und ich bin verflucht." Sie schaute Henriette mit festem Blick an.
Johann verdrehte die Augen, aber das konnte Marie nicht sehen. „Verflucht?"
Sie nickte wieder. „Und dabei hat er mich extra noch gewarnt."
„Wer hat dich gewarnt?", fragte Johann.
„Der böse Wolf. "
„Du bist ihm begegnet?"
Sie nickte wieder. „Das war am Tag, bevor ich in den Zug gestiegen bin. Ich war im Wald und wollte Blumen für meine Großmutter pflücken. Sie liebt Blumen, musst du wissen. Ich wollte ihr von meiner Verlobung erzählen und ich malte mir den Tag der Hochzeit schon in den schillerndsten Farben aus. Wie ich mir Margeriten ins Haar flechten würde und wie ich mit Oma den schönsten Brautstrauß aller Zeiten im Wald pflücken würde." Sie hielt inne und wischte sich die Augen.
„Was ist dann passiert?", erkundigte sich Henriette.
„Der Wolf kam vorbei, sah mich und sprach mich an."
Johann wurde langsam ungeduldig. Jetzt war keine Zeit für lange Märchen. „Was hat er gesagt?"
„Ich warne dich heute", sprach sie mit tiefer Stimme, „die Glocke zu läuten." Inzwischen waren ihre Augen von Tränen verschleiert. „Ich hab's einfach nicht verstanden. Ich dachte, er spricht von den Hochzeitsglocken und ist vielleicht eifersüchtig auf mein Glück, also habe ich gefragt, was er genau meint."
„Lass die Glocke in Ruh oder verflucht bist du, sagte er." Jetzt liefen ihr die Tränen offen über die Wange.
„Und dann?" Johann umklammerte den Gehstock.
„Dann hat er einen Schritt auf mich zugemacht, 'buh' gerufen und ich bin weggerannt."
„Und dann?"Johann hielt vor Spannung den Atem an.
„Ich bin über etwas gestolpert. Mitten im Glockenblumenfeld lag ein goldener Gegenstand. Ich konnte erst nicht erkennen, was es war. Also habe ich mich gebückt und das Ding aufgehoben. Es war eine Glocke aus Messing und ich war so geblendet von ihrem Glanz. Natürlich habe ich sie sofort ausprobiert." Sie schluchzte und der Damm war gebrochen. „Dann erst ist mir die Warnung wieder eingefallen. Ich wollte das doch gar nicht. Ich konnte es nicht wissen. Es ging so schnell. Das war alles nur ein riesengroßes Versehen und es tut mir so leid." Sie wischte mit dem Ärmel über das Gesicht. „Und jetzt bin ich verflucht. Verflucht. Verflucht." Die Tränen liefen hemmungslos über ihre rosigen Wangen.
Henriette legte ihr eine Hand auf die Schulter und machte beruhigende Laute.
„Ich wollte doch nur mit meinem Geliebten glücklich werden und meine Freude mit allen teilen." Sie schniefte.
„Was ist das für ein Fluch?"
Sie schnäuzte sich erneut und schaute Johann blinzelnd an. „Das hat er nicht gesagt."
„Dann fragen wir ihn danach", entgegnete Johann. „Kann es zufällig sein, dass verflucht zu werden, deine größte Angst war?"
Marie wandte kopfschüttelnd den Blick zu ihrem Bruder, obwohl sein Mangel an Taktgefühl sie nicht mehr überraschen sollte.
„Nein. Ich hatte nur Sorge, dass etwas zwischen die Hochzeit kommen könnte. Schließlich ging es Großmutter gesundheitlich schon seit Wochen nicht besonders gut."
Jetzt war es Johann, der die Zähne fletschte. „Dieser Schuft! Aus großer Kraft folgt... große Verantwortungslosigkeit. Warum liegt solche Macht immer in den Händen der Falschen? Wie konnte er dir das nur antun! Das wird er büßen."
Draußen lichtete sich der Wald. In der Ferne ragte ein Schloss mit seinen Türmchen und Zinnen auf einem Hügel empor. Blumen blühten und Vögel zwitscherten in den Bäumen, aber das konnten Johann, Henriette und Marie nicht hören.
Manchmal lag die größte Angst nicht in dieser Welt verortet, sondern in dem, was darüber hinausging.
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