5 - Der böse Wicht
Abteil 4:
Das nächste Abteil glich dem vorherigen. Grau melierter Linoleumboden, dieselben braunen lederbezogenen Sitze, große Fenster, eine Hutablage. Nichts weiter Aufregendes, wenn nicht das wimmernde Etwas im hinteren Teil des Waggons gewesen wäre. Nur zwei pelzige Hasenfüße ragten hinter einer Sitzreihe hervor.
Als die beiden Geschwister näher kamen, sahen sie das ganze Ausmaß des Elends. Das zu den Füßen gehörende Wer-Kaninchen lag in gekrümmter Haltung auf dem Boden, die Pfoten seltsam nach hinten verdreht und zitterte am ganzen Körper.
„Geht es dir gut?", erkundigte sich Henriette.
„Wer da noch fragen muss."
Johann beugte sich zu ihm hinunter. „Kann ich dir aufhelfen?"
„Wer, wenn nicht ihr?" Das Wer-Kaninchen machte eine zuckende Kopfbewegung zur Schulter. Erst als Johann nach seinen Pfoten griff, erkannte der den Grund.
Beide Hasenpfoten waren mit einem groben Strick umschlungen, der an einem Haltegriff festgebunden war. „Du bist gefesselt!", entfuhr es Johann.
„Wer Augen hat...", meckerte das Wer-Kaninchen. „Wer macht mich jetzt los?"
„Ich mach' ja schon!" Johann nestelte eine Weile an dem Strick. „Verflucht noch eins!" Er zog und zerrte. Das Wer-Kaninchen stöhnte und schimpfte.
„Jetzt halt doch mal endlich still", beschwerte sich Johann. Aber um dem Wunsch nachzukommen, zitterte das Wer-Kaninchen viel zu stark. Henriette strich ihm beruhigend über die Schultern.
„Ich krieg's nicht hin", verkündete Johann schließlich und gab auf.
„Lass mich mal." Henriette nahm seinen Platz ein und kniete sich neben das Wer-Kaninchen. „Im Knotenlösen war ich schon immer gut."
Aber auch sie plagte sich eine ganze Weile ab, ohne dass der Strick auch nur einen Millimeter nachgab. „Du hast nicht zufällig irgendwo eine Schere? Oder ein Messer?"
„Wer weiß?", antwortete das Wer-Kaninchen, schüttelte aber gleichzeitig den Kopf.
Henriette beugte sich ganz hinunter und nahm den Strick zwischen die Zähne und zerrte gleichzeitig mit den Händen daran.
„Wer hat dir das angetan?", fragte Johann. Immer wieder schaute er den langen Gang entlang, dorthin, wo der Schatten verschwunden war. Alles sah ruhig aus. Nichts war zu sehen. In den Fingern drehte er den Zettel hin und her und im Kopf die Worte, die darauf standen.
„Wer weiß das schon? Wer macht denn so was? Wer konnte das ahnen?" Das Wer-Kaninchen schüttelte hilflos den Kopf. Johann gab auf. "Wer hat überhaupt den Schaffner gesehen?"
„Ha!", rief Henriette triumphierend und richtete sich auf. Da löste sich endlich der Knoten und sie konnte ein Ende des Stricks hindurchschieben. Wenige Sekunden später waren die Handgelenke des Wer-Kaninchens frei. Johann hievte ihn auf einen der Sitze.
„Wer hält ihn auf?", fragte das Wer-Kaninchen, schaute die beiden aus großen Knopfaugen an, während er sich über das aufgeraute, struppige Fell seiner Vorderarme rieb.
„Können wir noch irgendetwas für dich tun?", erkundigte sich Henriette.
„Wer hält ihn auf?", wiederholte das sitzende, immer noch zittrige Fellbündel.
„Ja wen denn überhaupt?", fragte Johann sichtlich genervt. Ihm gefiel das alles ganz und gar nicht. Erst der wirre Blinde, dann dieser Zettel, und nun der gefesselte Fahrkarten-Hase. Was sollte als nächstes kommen? Oder wer?
Keiner hielt mehr den Gang im Auge. Und so bemerkten sie erst, dass sie nicht mehr allein waren, als die Schiebetür mit einem Krachen zugeknallt wurde.
Der Knall klang wie ein Peitschenhieb. Unheilvoll, bedrohlich und viel zu laut.
Henriette untersuchte das Wer-Kaninchen auf weitere Verletzungen, kniete halb auf dem freien Sitzplatz, so dass keiner der beiden den Neuankömmling sehen konnte. Nur Johann, der im Gang stand, hatte freie Sicht.
Schlagartig richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und stellte sich schützend vor die beiden. Hauptsächlich vor Henriette.
Eine große, schwarze Gestalt war in das Abteil getreten und stehen geblieben. Auf den ersten Blick erkannte Johann nur die dunkle Kleidung, die den Neuankömmling gänzlich umhüllte. Schließlich ging ihm auf, dass derjenige die Kapuze eines langen, weiten Umhangs tief ins Gesicht gezogen hatte. Er hätte die Gestalt für einen riesenhaften Menschen gehalten, wenn nicht die Augen gewesen wären. Das einzige, was man vom Gesicht unter der Kapuze sah, war ein Paar rot glühender Augen.
Das Wesen stand reglos, beäugte den jungen Mann vor sich, als müsse es erst die Situation einschätzen. Johann war vor Schreck und Verwunderung wie erstarrt.
Er löste sich jedoch als erstes. „Wer zum Teufel bist du?"
„Ich bin der böse Wicht, über den jeder spricht." Die schwarze Gestalt, die jetzt breitbeinig im Gang stand, hatte eine tiefe, rauchige Stimme.
Johann wich einen Schritt zurück.
Der schwarze Riese kam näher. „Ich bin der böse Wicht, der jede Regel bricht." Der Umhang flatterte bei jedem Schritt, den er nach vorne machte, hinter seinem Rücken auf und ab. Johann hätte schwören können, dass die Temperatur mit seinem Erscheinen um mindestens zehn Grad gesunken war.
„Wer hält ihn auf?", flüsterte das Wer-Kaninchen. Es hatte sich bis ganz an die Fensterscheibe gedrückt und zitterte am ganzen Leib. Auch Henriette war so dicht in die Sitzreihe aufgerückt, dass sie spüren konnte, wie das Fell an ihrer Seite wackelte. Ihr Atem stockte. Johann hielt seinen Gegner mit Blicken fixiert. Der böse Wicht überragte ihn um Haupteslänge, hatte eindeutig breitere Schultern und wenn es nicht täuschte, trug er Waffen unter seinem Kapuzenumhang. Er kam Schritt um Schritt näher. Johann konnte jetzt auch einen struppigen schwarzen Vollbart ausmachen.
„Bleib, wo du bist." Was als Befehl gedacht war, kam mehr als ein unsicheres Bitten aus seinem Mund.
Unbeeindruckt machte der Schwarze einen weiteren Schritt auf ihn zu. „Ich komme schon. Rennst du davon?"
Johann verankerte seine Füße fest auf dem Boden. Wegrennen und Henriette zurücklassen, kam nicht in Frage. Er überschlug seine Chancen. Sie standen nicht gut. Die Überraschung stand auf seiner Seite. Sonst nichts. Er beschloss, diese zu nutzen.
Wieder machte der schwarze Mann einen Schritt nach vorn. Jetzt war er bedrohlich nahe. Fast schon in Reichweite. Der Kapuzenriese streckte die Hände nach Johann aus. Große, schwarze Pranken mit spitzen, gelben Fingernägeln. Johann wich ein wenig zurück, griff mit beiden Händen links und rechts nach einer Haltestange und schwang sich vorwärts.
Mit einem lauten Schrei stieß er sich vom Boden ab, hob den Fuß und trat dem Angreifer vor die Brust. Der Schwarze riss überrascht die rot glühenden Augen auf, torkelte ein paar Schritte zurück und fing sich wieder. „Bleib, wo du bist", wiederholte Johann.
Das Wesen schnaubte vor Wut und Überraschung. „Wag es nicht, du kleiner Wicht."
Der Umhang flatterte, dann stieg Nebel darunter hervor, grau und wabernd und hüllte die schwarze Gestalt ein. Dann verschwammen seine Umrisse und auch der Nebel lichtete sich wieder. Der Kapuzentyp war immer noch pechschwarz, sah jetzt aber nicht mehr aus wie eine zum Leben erwachte, dunkel gekleidete Ausgabe von Ezio Auditore da Firenze oder einem anderen Bösewicht aus Film und Fernsehen, sondern wie ein waschechter Ninjakrieger der bösen Sorte. Die eng anliegende Kleidung nebst dazugehöriger Augenbinde unterstrich seine unheilvolle Erscheinung. Er nahm Kampfhaltung ein, die Beine gespreizt, bereit zum Sprung.
„Was willst du von uns?" Fieberhaft überlegte Johann, was er tun konnte, um ihn aufzuhalten. Wie war das im Selbstverteidigungstraining gewesen? Verwickle Angreifer in ein Gespräch? Ruf nach Hilfe? Schreie laut? Wähle die 110? Nichts davon erschien ihm wirklich hilfreich in dieser Situation.
„Dass ihr verschwindet, woher ihr gekommen seid, damit der Zug steht für mich bereit." Noch ehe der Ninja fertiggesprochen hatte, wirbelte er vorwärts. Stieß Johann mit einem schnellen Haken in die Brust, sodass dieser zwei Sitzreihen nach hinten taumelte und setzte ihm nach. Johann hatte keine Gelegenheit, sich zu fangen, da versetzte der Krieger ihm einen Tritt in genau die gleiche Stelle, der ihn endgültig zu Fall brachte. Johann knallte hart auf dem Boden auf, hob die Hände vor das Gesicht und wartete auf weitere Tritte. Henriette schrie.
„Wer hält ihn nur auf?", wimmerte das Wer-Kaninchen.
Jetzt stand der Angreifer zwischen Johann und Henriette und dem Wer-Kaninchen. Aber Johann war zu überrascht, um einen Vorteil daraus zu ziehen oder überhaupt erst mal einen zu erkennen. Seine Rippen schmerzten an der Stelle, die der schwarze Ninja getroffen hatte und er schnappte nach Atem.
Der Angreifer schien um seine ungünstige Position zu wissen, denn erneut stieg Nebel um ihn herum auf und dieses Mal nahm der Nebel beim Auflösen alles Schwarze mit sich und auch die Gestalt des Kriegers. Der Ninja löste sich einfach in Luft auf. Nur noch ein Schimmern in der Luft markierte die Stelle, an der er gestanden hatte, wie ein Hitzeflimmern an einem heißen Tag. Nur dass er eine extreme Kälte ausstrahlte. Johann rappelte sich mühsam in die Höhe, klammerte sich an einer Haltestange fest und wartete auf einen weiteren Angriff.
„Ich stehe nicht im Licht, ihr seht mich nicht", höhnte das Wesen und flimmerte auf und ab.
„Gut, dann verzieh dich", presste Johann hervor.
„Sonst was?", fragte der böse Geist. „Nimm das!" Der wabernde Schatten stürmte vorwärts und prallte gegen Johanns Brust, so dass dieser erneut mit einer Wucht zu Boden geschleudert wurde.
„Verzieht euch jetzt, bevor es dich verletzt", drohte das unsichtbare Wesen. Wie um seine Warnung zu unterstreichen, waberte er vor Johann auf und ab. Johann rollte sich zur Seite und etwas geriet in sein Blickfeld.
Auf dem Linoleumboden, ganz am Rand unter einem der Sitze ragte etwas Längliches hervor. Johann streckte den Arm aus, um den Gegenstand zu erreichen. Aber ihm fehlten gut dreißig Zentimeter.
„Kusch, kusch, husch, husch", zischte die wabernde Erscheinung und stürzte sich auf Johann.
Henriette schrie.
Das Geistwesen hielt inne, drehte ab und waberte auf das Mädchen zu. „Kusch, kusch, husch, husch."
Henriettes Schrei war markerschütternd. Dann erstarb er plötzlich.
Johann spürte eine eisige Kälte wie eine Welle über seinen Körper hinwegrollen. So schnell er konnte, rutschte er unter den Sitz und fischte mit klammen Fingern nach dem Ende des Gegenstands, den er in diesem Moment als Gehstock erkannte.
Das Wer-Kaninchen wimmerte nur noch leise. „Wer... Wer... Wer?"
Endlich bekam Johann das untere Ende des Stocks zu fassen. Seine Fingerkuppen waren gerötet und er hatte kaum mehr Gefühl darin, als hätte er zu viel Zeit ohne Handschuhe im Schnee verbracht. Der Stock drohte ihm zu entgleiten. Henriette machte wimmernde, halb erstickte Geräusche, die er so noch nie von seiner Schwester gehört hatte. Johann konnte vom Boden aus nicht sehen, was passierte. Die Angst kroch ihm bis ins Mark.
Er biss die Zähne zusammen, ignorierte den Schmerz und seine Besorgnis. Ein Spruch seiner Oma kam ihm in den Sinn: Es bringt nichts, in Sorge zu leben, denn die Sorgen machen was sie wollen, ob du ihnen Raum gibst oder nicht, entscheidest nur du allein. Etwas drängte sich in seine Erinnerung. „Wir leben in Angst vor Geistern", murmelte er und packte den Stock mit beiden Händen. Mühsam rappelte er sich vom Boden auf. Nicht ohne sich dabei auf dem Gehstock abzustützen. Seine Rippen schmerzten bei jedem Atemzug und er hoffte, dass nichts gebrochen war. Er schaffte es, zu stehen. Endlich konnte er sehen, was im Abteil geschah. Das unsichtbare Wesen hatte vor Henriette Halt gemacht, die wie zu einer Eissäule erstarrt dasaß und die Hände vors Gesicht gepresst hatte.
„Aber was ist, wenn Geister Angst vor uns haben!" Johanns Worte waren laut und deutlich zu hören. Im Stehen überkam ihn eine Welle des Zorns und vertrieb die Kälte aus seinen Fingern. Johann schwang den Gehstock, an dessen oberen Ende eine gelbe Binde mit drei schwarzen Punkten befestigt war, wie eine Waffe.
Mit jedem Schritt, den er auf das Geistwesen zumachte, sonderte dieses wieder seinen grauen Nebel ab, bis es ganz darin eingehüllt war. Henriette, in purer Verzweiflung, hatte sich die gelösten Fesseln geschnappt und hob diese wie ein Schild vor ihre Brust. Das Wer-Kaninchen stieß immer noch leise, klägliche Laute aus.
Im Nebel verfestigte sich allmählich eine Gestalt. Oder verfestigte sich der Nebel selbst zu dieser? Johann wusste es nicht. Aber ihm war klar, dass er zustoßen musste, während der böse Wicht sich verwandelte. Leider wusste er auch, dass er zu spät kommen würde. Trotzdem schwang er den Blindenstock in einem Anflug von Entschlossenheit, aber sein Hieb ging wie erwartet ins Leere.
Der letzte Nebelrest verflüchtigte sich und das neu erwachte Biest stieß einen langen, knurrenden Laut aus.
Zwei krallenbesetzte, riesige Pranken stießen das Wer-Kaninchen zu Boden, aus dem Maul mit unzähligen scharfen Zähnen tropfte der Speichel auf das Sitzpolster und die nun grauschwarzen Augen blitzten böse.
„Der Schrecken der Nacht ist erwacht", knurrte es aus tiefster Kehle.
Schließlich setzte der böse Wicht in Form einer riesigen Wolfsgestalt über die Ledersitze hinweg, stieß dabei ein schauriges Geheul aus und das Letzte, was die beiden Geschwister sahen, war der breite Rücken, ehe der Wolf am anderen Ende des Abteils verschwand.
Wo Wallbanger weiches, kuscheliges Fell hatte, das man am liebsten streicheln wollte, erinnerte der Wolfspelz an borstige Nadeln.
Johann rümpfte die Nase, es stank nach Hund und Schwefel, und umklammerte den Gehstock. Die Zettelbotschaft war in all dem Tumult zu Boden gesegelt.
Draußen donnerte und blitzte es, als wollte die Welt zu Grunde gehen. Dicke Regentropfen prasselten gegen die Scheiben.
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