3 - Der blinde Passagier
Sie sahen ihn sofort.
Er saß mit dem Rücken zu ihnen an einem Fensterplatz.
Als sie sich näherten, wandte er den Kopf und sie starrten in ein trübes paar Augen. Ein Schleier lag über der Iris, so dass man keine Augenfarbe bestimmen konnte.
„Wer ist da?", fragte er.
Johann räusperte sich. „Hallo. Ich bin Johann. Das ist meine Schwester Henriette."
Die Antwort schien dem Mann zu genügen. Er wendete sich wieder der Scheibe zu. Henriette musterte ihn. Die Ärmel seines gestreiften Hemdes waren hochgekrempelt. Aus der Brusttasche ragte eine Ecke seiner Fahrkarte heraus und auf seinem linken Vorderarm prangte eine Tätowierung. Ein Anker mit einem Herz und einem geschwungenen Buchstaben. Henriette legte den Kopf schief und entschied, dass sie es für ein A hielt.
„Sind Sie-?", begann Henriette, unterbrach sich aber gerade noch rechtzeitig und setzte erneut an. „Wer sind Sie?"
Ein Ruck ging durch den Mann und er richtete sich auf. „Ah, mein Name." Die Hand mit der Tätowierung fasste nach seinem Gesicht. Er strich sich über Nase, Kinn und Wange, als müsse er sich versichern, wer er sei.
„Danach hat lange niemand mehr gefragt. Amorio bin ich." Er tastete noch immer über die weißen Bartstoppeln und das faltige Gesicht. Dann seufzte er. „Alt bin ich geworden."
„Sind sie schon lange an Bord?", erkundigte sich Johann.
Auch die andere Hand des Mannes wanderte zu seinem Gesicht. Er brummte etwas, bewegte die Finger. Am Ringfinger dieser Hand trug er einen dicken Siegelring, in den ein Kompass eingraviert war.
„So lange, dass ich schon nicht mehr die Stunden, erst recht nicht die Tage und schon gar nicht die Jahre zähle." Er seufzte und seine Hände wanderten hinab zu seiner Brust, wo er sie über dem Herzen faltete. „Aber ich komme ihr näher. Ich spüre es." Er atmete lange aus.
Henriette stockte der Atem. „Wem kommen Sie näher?"Auf den anderen Teil seiner Antwort wollte sie erst gar nicht eingehen.
Er drehte den Ring zwischen Daumen und Zeigefinger. „Der Einen. Meinem Herzblatt. Aber ich kann sie nicht mehr sehen", sagte er leise. „Sie war noch so jung. Wir beide. Jung und glücklich und es ist schon so lange her."
„Was ist denn passiert?", wollte Henriette wissen. Der blinde, alte Mann tat ihr irgendwi leid.
„Ich habe sie verloren."
„Oh nein, wie schrecklich!"
„Aber jetzt seid leise, ich will auf mein Herz hören." Er lauschte und wendete den Blick erneut ab.
Johann zupfte seine Schwester am Ärmel. Mit der anderen Hand machte er eine wischende Handbewegung vor seinen Augen. „Komm mit, wir gehen weiter." Er deutete zum nächsten Abteil.
„Auf Wiedersehen", sagte Henriette leise. „War nett Sie kennengelernt zu haben und ich hoffe, dass Sie sie finden."
Der alte Mann nickte und drehte den Kopf genau in ihre Richtung. Seine blinden Augen richteten sich auf ihre Gesichter, als wollte er etwas sagen.
„Warst du das? Diese Schritte?" Schon halb im Vorübergehen kam ihm Johann zuvor, der keine Lust auf weitere Verrückheiten hatte. Sich in einem Zug mit seltsamen Fahrgästen, komischem Fahrkartenverkäufer und einem unbekannten Reiseziel wiederzufinden, reichte ihm für eine Nacht vollkommen, auch wenn er nicht bewusst darüber nachdachte. Trotzdem war es für seinen Geschmack Zeit für ein paar Antworten.
„Nein." Der Blinde schüttelt den Kopf. „Ich sitze hier nur und lausche der Stimme meines Herzens und suche die Bilder meiner Erinnerung."
„Aber du hast sie auch gehört?"
„Was?"
„Diese Schritte?"
Der Alte schüttelte den Kopf.
„Da waren eindeutig Schritte! Du musst sie doch gehört haben!" Johanns Stimme wurde lauter.
„Ich höre schon lange nichts mehr", antwortete der alte Mann ruhig.
Johann gab auf. Von dem verrückten Alten würden sie nichts Brauchbares erfahren. Energisch zog er seine Schwester weiter.
„Wir leben in Angst vor Geistern, aber was ist, wenn Geister Angst vor uns haben?", murmelte der Mann plötzlich.
Die beiden Geschwister hielten inne. Henriette drehte sich langsam um. „Wie bitte?"
„Ich kann sie einfach nicht mehr sehen." Er schüttelte den Kopf. Eine Traurigkeit lag in seinen trüben Augen. Er wirkte verloren und ihr Herz schmolz für den alten Mann, der blind vor Liebe geworden war, blind für die Augen dieser Welt.
„Ich bin sicher, Sie werden sie finden. Aber jetzt müssen wir wirklich weiter." Johann zerrte bereits ungeduldig an ihrem Schlafanzugoberteil. "Wir halten auch nach ihr Ausschau", fügte sie spontan hinzu.
„Jetzt komm schon!", raunte ihr Bruder und warf dem blinden Passagier einen letzten Blick zu. Der schaute schon wieder hinaus, als würde er dort die Antworten seiner Sehnsucht finden. Draußen bevölkerten rosa Wattewolken die Leinwand des Himmels, die der Alte jedoch nicht sehen konnte. Auch das Pärchen, das eng umschlungen unter einer von Efeu überwucherten Eiche stand und sich innig küsste, als hätte es die Welt um sich vergessen, sah er nicht.
"Ach, die Liebe", dachte Johann und fühlte sich bestärkt. "Überbewertet und für nichts gut." Er hielt nichts von romantischen Gefühlen, während Henriette leise seufzte. „Hach, der Arme."
Der Alte schmunzelte wehmütig. „O, die Ungeduld der Jugend. Wollen immer weiter. Immer weiter. Haben keine Zeit. Wollen nie dort sein, wo sie sind. Dabei vergeht die Zeit von ganz allein und das Leben bringt dich schon an den richtigen Platz." Er winkte ihnen zum Abschied zu, aber das sahen sie nicht mehr, weil sich hinter ihnen bereits die Schiebetür zum nächsten Wagon schloss.
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