11 - Schmerz und Leid
Henriette brachte es doch nicht über sich, das Schwert liegenzulassen. Völlig geschafft vom Tragen der schweren Waffe trat sie als Letzte ihrer kleinen Gruppe zurück ins Licht. Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Johann, Marie, Amorio und das Wer-Kaninchen standen vor ihr und versperrten ihr die Sicht. Sie hörte nur, wie weiter vorne heftig geatmet wurde, dann unterdrücktes Fluchen. Über die langen Schlappohren des Wer-Kaninchens hinweg, konnte sie sehen, dass der Raum nicht groß war und auch keine Sitze hatte. Es war eher eine Rumpelkammer mit winzigen, rechteckigen Fenstern. Überall auf dem Boden lagen Koffer und Taschen herum, aus denen Kleidungsstücke und Krimskrams und sogar der ein oder andere Kulturbeutel gekullert waren. Ansonsten war der Raum leer bis auf die beiden Kämpfenden.
Den einen erkannte sie sofort als den bösen Wicht. Dieses Mal trug er einen schwarzen Kapuzenumhang, der ein knochiges Gesicht verbarg. Unter den weiten Ärmeln schauten Skeletthände hervor, in denen er eine lange Sense hielt, mit der er auf sein Gegenüber eindrosch. Immer und immer wieder.
„Wer sagt es denn, da ist er ja", verkündete das Kaninchen und zuckte zusammen, als der böse Wicht in seine Richtung sah. Schließlich duckte es sich hinter Henriette. Dann wandte sich der Sensenbösewicht ab und holte zu einem weiteren Schlag aus. Der andere sprang zur Seite und die Sense zischte durchs Leere. Viel Zeit zum Durchatmen blieb dem Angegriffenen jedoch nicht. Es war ein Mann und er trug eine ähnliche Uniform wie das Wer-Kaninchen. Eine rote Jacke mit goldenen Knöpfen, von denen schon einige fehlten und eine blaue Hose mit einem langen Riss am Oberschenkel. Er war eindeutig menschlich und nicht mehr der Jüngste. Durch das kurze Haar zogen sich mehr graue als dunkle Strähnen. Dafür hielt er sich aber erstaunlich gut, obwohl er schnaufte wie eine Eisenbahn. Er packte eine Reisetasche am Griff und schleuderte sie dem bösen Wicht entgegen. Der wich im letzten Moment geschickt aus und holte fast gleichzeitig erneut zum Schlag aus.
„Helft mir doch!", rief der Bedrängte und riss einen Koffer vor sich in die Höhe. Keine Sekunde später sauste die Sense nieder und hinterließ einen hässlichen Kratzer in der Hartschale.
„He!" Johann schnappte sich einen Kulturbeutel und zielte auf den Kapuzenkopf. Die Richtung stimmte, aber Johann hatte das Gewicht unterschätzt und die Tasche schepperte viel zu früh zu Boden.
Amorio schwang den Gehstock und traf den Sensemann am Arm. Das einzige, was daraufhin passierte, war, dass dieser sich seinen neuen Angreifern zudrehte. Aus leeren Augenhöhlen wurden sie gemustert. Der böse Wicht wirkte völlig unbeeindruckt von dem, was er sah. Langsam hob er die in einem leichten Bogen geschwungene Sense.
„Einmal zisch, weg ich euch wisch", drohte er und holte aus. Amorio schob Marie hinter sich, Johann und Henriette wichen weiter zurück. Die Sichel sauste im weiten Bogen an ihnen vorüber, aber Henriette spürte den Luftzug. Im gleichen Augenblick ließ der fremde Mann, der aussah wie ein Schaffner, einen Aktenkoffer auf den Rücken ihres Widersachers fallen. Der Schaffner ächzte unter der Anstrengung, brachte den Sensenmann aber für einen Augenblick ins Straucheln. Johann und Amorio sahen sich eilig nach weiteren Wurfgeschossen um. Aber es war Marie, die als erste einen Gegenstand fand und auf den bösen Wicht schleuderte. Der hatte sein Gleichgewicht allerdings wieder gefunden. Maries Wurfgeschoss eierte durch die Luft und verfehlte das Ziel. Erst als es hinter dem Schaffner an der Wand aufschlug und zu Boden fiel, erkannte Henriette was es war. Eine wuchtige Messingglocke, die ein letztes Mal erbärmlich nachhallte.
„Mit dir hab' ich noch ein Hühnchen zu rupften", keifte Marie und zog eine Schnute. Der Messingglocke folgte eine Haarbürste und dieser ein Aufzieh-Wecker. Der fand zwar sein Ziel am Oberkörper des bösen Wichts, rutschte aber an der Robe hinab und polterte scheinbar wirkungslos zu Boden.
„So, so, jemand ist erwacht, aus dem Schlaf der Nacht", höhnte der böse Wicht. „Und hat mit aller Macht, gleich Verstärkung mitgebracht. Es wird dir nichts bringen, ich werd' euch bezwingen." Er lachte und zielte mit der Sense nach Amorio. Der drehte sich zur Seite und parierte den Angriff mit dem Gehstock. Das Holz splitterte und Amorio warf frustriert den halben Stock mitsamt dem Handknauf, den er noch in der Hand hielt, nach dem bösen Wicht. Der lachte nur unbeeindruckt. Gleichzeitig holte Johann zum Tritt aus und der Schaffner fischte ein dickes Taschenbuch aus einem halbgeöffneten Koffer. Johanns Fuß krachte dem bösen Wicht in die Seite, was ein knackendes Geräusch verursachte, während der Schaffner den Wälzer mit aller Wucht auf den Schädel des bösen Wichts fallen ließ, was ein dumpfes Geräusch zur Folge hatte. Viel mehr aber auch nicht. Der böse Wicht rauchte vor Wut. Marie klatschte begeistert in die Hände, das Wer-Kaninchen zitterte und die Männer schauten sich nach neuen Waffen um. Dann fiel Henriette wieder das Schwert in ihren Händen ein. Sie hob es an und streckte es auf halber Höhe in Richtung des bösen Wichts aus. Die Klinge wackelte in ihren Händen.
Aber bevor sie angreifen konnte, zogen Nebelschwaden auf und umhüllten die Figur des Sensenmanns. „Er verwandelt sich", schrie Johann. „Jetzt oder nie!"
Gleichzeitig stürmten Johann und Amorio auf ihn. Der eine mit geballten Fäusten, der andere mit ausladenden Seitschritten und der Absicht, den Bösen mit einem Tritt zu Fall zu bringen. Henriette beschloss, abzuwarten. Es war nicht der richtige Moment. Zu viele Arme und Beine waren im Weg. Sie hatte keine freie Bahn. Die Gefahr ihren Bruder oder Amorio zu verletzten war zu groß.
Allerdings war es der Schaffner, dem ein Faustschlag in den vernebelten Rücken gelang. Der böse Wicht wurde, schon halb in der Verwandlung, vorwärts geschleudert und gelangte dadurch fast in die Reichweite von Henriettes Schwert. Der böse Wicht riss die nun schwarzen Augen auf. Johann und Amorio mussten ihm zur Seite ausweichen. Dabei stieß Johann mit seinem gestreckten Fuß auf Amorios Arm. Nur noch auf einem Bein stehend, geriet er in Schieflage und verlor das Gleichgewicht. Chancenlos plumpste Johann auf seinen Hintern. Amorios Faust wurde zur Seite abgelenkt und streifte lediglich die neue Gestalt des bösen Wichts an der Hüfte, ehe er sich fing und an ihm vorübertänzelte. Der böse Wicht hatte sich wieder in den Kämpfer im Ganzkörperanzug verwandelte. Aus dem Stand machte er einen kolossalen Sprung nach vorne, ließ Johann am Boden und Amorio und den Schaffner hinter sich zurück und landete mit einem Salto zwischen Marie, Henriette und dem Wer-Kaninchen.
„Das Schwert der Flammen wirst du nicht in mich rammen", sagte er. Aber genau das hatte Henriette vor. Jetzt oder nie! Mit aller Macht stellte sie sich vor, der böse Wicht wäre ein Gemüse, das sie zerschneiden müsste. Der hautenge Kampfanzug erinnerte sie in Form und Farbe sowieso ein wenig an eine Aubergine. Ja, das würde gehen. Es musste einfach! Sie schloss die Augen und stieß die Klinge vorwärts.
Aber es ging viel zu einfach. Das Schwert stieß auf keinen Widerstand. Es glitt nur durch Luft. Henriette spürte einen Luftzug.
„Zeig's ihm", feuerte Marie sie an. Das Wer-Kaninchen duckte sich nur noch ein wenig weiter an die Wand und klapperte mit den Zähnen. Henriette öffnete die Augen, aber der Platz neben ihr war leer. Der böse Wicht hatte in drei schnellen Bewegungen die beiden Mädchen umtanzt und stand nun hinter ihnen, während Henriette das Schwert nutzlos von sich streckte. Schweißperlen liefen ihr über die Stirn. Es war zu wuchtig und würde zu lange dauern, es nach hinten zu schwingen, außerdem war zwischen ihr und der Schiebetür zu wenig Platz. Der böse Wicht lachte. Dann schubste er Marie, so dass sie zur Seite taumelte und sich an der Wand abstützen musste. Amorio stieß einen Fluch aus und eilte zu ihr. Auch Johann, der sich in der Zwischenzeit wieder aufgerappelt hatte, und der Schaffner stürzten dem Angreifer entgegen.
Der versuchte indessen, Henriette das Schwert abzunehmen. Er zerrte an ihren Fingern, aber sie hielt den Griff so fest sie konnte. Die Klinge begann in ihren Händen golden zu leuchten, ähnlich wie es der Mittelgang im Himmel-Hölle-Abteil getan hatte. Erst nur ganz schwach und nur an der Spitze, dann immer stärker und überall. Der böse Wicht ließ los als hätte er sich verbrannt.
„Nimm das, du Aubergine!" Henriette versuchte ihn zu treten, aber er war bereits fortgewirbelt, um sich den beiden neuen Angreifern zu stellen. Zuerst schleuderte er Johann zur Seite, dann den Schaffner, der hart auf dem Boden aufschlug und stöhnte.
„Hört auf mit den Faxen, ihr seid mir nicht gewachsen!"
Aber Henriette beachtete ihn nicht mehr. Die Schwertspitze, nun wieder metallen wie eh und je, war zu Boden gesunken und bohrte sich in den Linoleumboden. Marie stützte sich auf dem Griff ab. „Haben Sie sich etwas getan? Johann, tu doch was!" Der Schaffner drehte sich zur Seite. Er hielt sich die Rippen. Sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt.
Johann rappelte sich auf. Der böse Wicht hatte wieder Kampfhaltung angenommen und seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Johann schaute kurz zu Henriette. „Woher hast du das Schwert? Gib es mir!" Dann wandte er sich wieder seinem Gegner zu, führte das Gespräch aber trotzdem weiter. „Es ist unsere einzige Chance. Denk an das, was wir besprochen haben." Er tänzelte mit geballten Fäusten von einem Fuß auf den anderen wie ein Boxer in Abwehrhaltung. Der böse Wicht verharrte in seiner gebeugten Position und taxierte ihn ebenfalls.
Henriette dachte mit aller Kraft an sämtliche Obstsorten, die ihr in den Sinn kamen und zerschnitt sie im Geiste in zwei Hälften. Aber ihre Arme zitterten zu sehr, um die Waffe anzuheben, geschweige denn sie die paar Meter zu ihrem Bruder zu befördern. Es gab keinen Weg, der sicherstellte, dass sie nicht dem bösen Wicht in die Hände fiel. Sie schaute sich um. Der Schaffner war ans hintere Ende des Wagons gerobbt und hatte hinter einer Reisetasche Deckung gesucht. Amorio war noch damit beschäftigt, Marie zu beruhigen und das Wer-Kaninchen kauerte zitternd an der Wand neben der Tür und hatte die Pfoten vor die Augen geschlagen. „Ich kann nicht!", sagte Henriette und zerteilte in ihrer Vorstellung eine schimmelgrüne Zitrone. Sie war wütend, aber was nützte es.
Kurz flatterte der Blick des Ninjakämpfers zu ihr. Dann wieder zu Johann. Er spannte sich an. Die beiden starrten sich an. Schließlich legte der böse Wicht den Kopf schief, schaute kurz zum Wer-Kaninchen, dann zu Henriette und wieder zurück. Er zischte böse.
„Der Zug ist mein, das kann nicht sein. Ich will ihn lenken, den Menschen böse Träume schenken."
„Dann musst du erst an mir vorbei", sagte Johann.
„Kann ich machen. Gleich vergeht dir das Lachen." Der böse Wicht schnellte vorwärts, kaum dass er ausgesprochen hatte. Bevor Johann sich versah, wurde er mit voller Wucht getroffenen und krachte im nächsten Augenblick gegen einen Stapel Koffer an der Seitenwand. Es rumpelte und sowohl das Gepäck als auch der Junge stürzten zu Boden. Henriette ließ vor Schreck das Schwert fallen. Der böse Wicht lachte und wirbelte herum. Er drehte sich immer schneller wie ein Kreisel um die eigene Achse, wirbelte durch das Abteil und lachte. Zuerst näherte er sich dem Wer-Kaninchen. Er stupste es mit dem Fuß an, woraufhin es wimmernd in sich zusammensank. Dann kreiselte er lachend an Henriette vorbei, die er zur Seite stieß, so dass sie hinfiel. Schließlich versetzte er Amorio einen Tritt, dass dieser aufschrie und schubste Marie auf ihren Geliebten, so dass beide miteinander zu Boden gingen.
„Schmerz und Leid, seid bereit. Die Welt ist mein. So soll es sein."
Er lachte und lachte und hörte gar nicht mehr auf damit.
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