Der Held ohne Wiederkehr
erzählt von Rosalie
Seitdem wir das Lavendelfeld besucht hatten, waren nun ein paar Tage vergangen und manchmal hatte ich den Eindruck, dass niemand so wirklich das Dorf verlassen wollte. Trotz des Friedens hatte ich allerdings ein komisches Gefühl. Ich wusste nicht, was es war, doch ich spürte, dass es die Ruhe vor dem Sturm sein sollte und dass bald etwas Schlimmes passieren würde. Ich hoffte so sehr, dass ich damit Unrecht hatte, doch dem sollte nicht so sein.
Allerdings war in den vergangenen Tagen einiges geschehen. Visca hatte den Zwillingen weitere Tricks und Tipps für die Zubereitung neuer Tränke gegeben und uns Fünf Kriegern ebenfalls gezeigt, wie es ging. Ich selbst hatte mich gar nicht so dumm dabei angestellt, aber Ruben und Charlotte hatten mehr Chaos gebracht, als gut gewesen war. Beide hatten schließlich aufgegeben. Ruben mit der Begründung, dass seine Aufgabe das Kämpfen und Beschützen sei und nicht das Tränke brauen. Charlotte stimmte ihm zu und verzog sich daraufhin irgendwohin. Niemand fragte wohin sie ging, weil es niemanden interessierte. Alle außer Ophelia waren froh, wenn sie weg war.
Und Delilah und Perfor waren sich nähergekommen. Seitdem wir beim Lavendelfeld des Dorfes gewesen waren, war kein Abend vergangen, in dem die Beiden sich nicht alleine wohin zurückgezogen hatten. Letzte Nacht waren sie sogar gar nicht nachhause gekommen. Während ich mir Sorgen gemacht hatte, hatten mich Ophelia und Gwyneth breit angegrinst und gesagt: „Wir können uns sicher sein, dass es Delilah absolut gut geht"
Ich hatte sie wie ein Karpfen angesehen. „Was meint ihr damit?"
Gwyneth hatte sich neben mich auf mein Bett gesetzt, den Arm um mich gelegt und geantwortet: „Nun, ich möchte nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber sie und Perfor scheinen sich ineinander verliebt zu haben. Sie wollen nun einfach ein bisschen Zeit alleine verbringen, bevor wir das Dorf wieder verlassen müssen"
„Und warum nehmen wir Perfor nicht einfach mit?", fragte ich.
„Was? Wir können doch nicht einen Fremden mitnehmen", empörte sich Charlotte, die in ihrer Ecke des Gästezimmers gesessen und gedöst hatte.
„Was redest du? Perfor ist nun wirklich kein Fremder!", hatte ich sie geschimpft und dabei böse angesehen.
„Vor allem nicht mehr für Delilah, hihi", hatte Gwyneth gekichert.
Okay, da musste selbst ich grinsen. Es freute mich. Delilah und die Jungs hätten sicher auch kein Problem damit, Perfor mit nach Lakaria zu nehmen. König Theorus, Königin Juilette, die Prinzessinnen und das Volk musste einfach vom Dorf der Verstoßenen erfahren und was wäre da besser, als einen Bewohner als Beweis mitzunehmen? Etwas wurmte es mich, dass ich meine Kamera von der Erde nicht mitgenommen hatte. Sonst hätte ich Fotos von diesem wundervollen Ort gemacht. Und mein Handy funktionierte hier sowieso nicht mehr. Immerhin gab es im Paralleluniversum keinen Strom. Als Ophelia Gwyneth während unserer ersten Mission einmal erzählt hatte, dass ich in La Fleur gefragt hatte, ob es Strom gibt und ob ich da mein Handy anschließen könne, hatte Gwyneth verwirrt gefragt, ob Strom etwas zu essen sei. Ich hatte seitdem nie wieder nach Strom gefragt.
Mittlerweile waren wir seit fast einer Woche hier und nachdem wir mit Perfor und Nistra Mittag gegessen hatten, bat uns Perfor um ein Gespräch.
Augenblicklich zogen sich Nistra und Visca, die gerade von der Arbeit heimgekommen war, bedrückt in ihre Räume zurück. Ich ahnte Böses.
Perfor setzte sich auf den einzigen Sessel des Raumes, während sich Delilah auf die breite Armlehne neben Perfor setzte. Okay, die beiden war sich wirklich nahegekommen. Ophelia, Gwyneth, Ruben und ich quetschten uns auf die kleine Couch und Nyco blieb neben Charlotte am Fensterbrett des Wohnzimmers stehen.
Unsicher begutachtete ich Delilahs Gesicht. Wusste sie, was Perfor so Ernstes mit uns zu besprechen hatte? Doch ihrem sehr besorgten und traurigen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, wusste sie es.
Perfor räusperte sich und verzog keine Miene. „Ihr könnt euch sicher denken, worum es geht" Niemand antwortete. Delilahs trauriges Seufzen war die einzige Antwort, die er erhielt. „Ihr seid seit fast einer Woche hier. Ihr solltet euch langsam Gedanken darüber machen, woher ihr Johanniskraut bekommt"
Wir alle sahen uns betreten gegenseitig an und Ruben sagte: „Na ja, wir wissen, dass es hier weit und breit keins gibt. Ich habe mich neulich mit Gwyneth und Nyco auf die Suche danach begeben, ob Nyco und ich etwas erschnüffeln können, aber da war nichts"
„Ja, hier gibt es kein Johanniskraut. Außer mir"
Für meinen Geschmack war er viel zu direkt. Und dass ich das mal von jemanden anderes behaupten würde, hätte ich auch nicht gedacht. Sonst war ich immer der Ansicht gewesen, dass alle ruhig ehrlicher sein könnten, doch Perfor war mir viel zu viel.
„Nein, das kommt nicht in Frage", antwortete Ruben für uns alle.
„Und wo wollt ihr dann eins herbekommen?", argumentierte Perfor.
Ruben war nicht sehr erfreut darüber. Er wusste genauso gut, wie wir alle, dass die Zeit der Königin bald ablief. Eigentlich hatten wir schon viel zu viel Zeit im Dorf verschwendet.
„Na bitte, ihr müsst mich nehmen"
„Wir werden ein anderes finden", sagte ich ehrgeiziger, als ich im Grunde war.
Perfor seufzte schwer. „Das werdet ihr nicht. Das hat euch meine Mutter doch gesagt" Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: „Nun, ursprünglich habe ich mir gedacht, ob es nicht auch reichen würde, wenn euch nur ein paar Blüten von mir geben würde. Das wäre zwar auch ziemlich schmerzhaft für mich, aber so müsstet ihr mich nicht töten"
Ein kleiner Hoffnungsschimmer wuchs in mir und freudestrahlend sah ich zuerst zu Delilah und dann zu Ophelia, doch beide sahen nicht so euphorisch aus wie ich und mir wurde klar, dass das zu schön um wahr zu sein war.
„Das geht nicht", bestätigte Ophelia meine Befürchtung. „Unsere Zauberin, Laetitia, hat meiner Schwester und mir erklärt, dass wir die ganze Pflanze brauchen, um auch sicher gehen zu können, genügend Wirkstoff im Gegengift zu haben"
Nun räusperte sich erneut und sagte: „Ich weiß, das hat mir Delilah auch gesagt" Ophelia lehnte sich schweigend zurück. „Trotzdem möchte ich euch helfen", sagte Perfor.
„Was? Wieso?", fragte ich schneller, als ich denken konnte.
Er schmunzelte. „Na ja, wenn ihr mit leeren Händen zurückkehrt und die Königin stirbt, werden euch bestimmt einige Bewohner hassen. Das mag sich jetzt vielleicht völlig seltsam für euch anhören, aber..." Verliebt sahen er und Delilah sich gegenseitig an. „ich möchte nicht, dass Delilah verachtet und gehasst wird, nur weil ihr kein anderes Johanniskraut, außer mir, gefunden habt. Ich möchte, dass sie glücklich ist. Darum opfere ich mich, damit sie in Frieden leben kann"
„Das ist dein Grund?", kam es völlig schockiert und verständnislos von Charlotte. „Das ist der Grund, warum du sterben möchtest? Tut mir leid, aber das ist das bescheuertste, was ich seit langem gehört habe"
„Nur, weil du niemals jemanden finden wirst, der dich liebt", grummelte ich gemein.
„Ach ja, denkst du?", fauchte mich Charlotte an. „Ich bin tausendmal hübscher als du und wenn selbst du einen Verehrer hast, dann werde ich hunderte finden"
„Gut und wo sind sie?", fragte ich, sah sie unverwandt an, stand auf und ging zu ihr hin. „Ich mag keine Ahnung von Liebe zu haben, aber ich weiß trotzdem, dass man sich gerne für jemanden opfert, den man von ganzen Herzen liebt"
Ich brauchte gar nicht hinzusehen. Ich spürte, dass die Zwillinge beeindruckt und überrascht davon waren. Obwohl Nyco neben Charlotte und mir stand, wagte ich mich nicht, ihn anzusehen. Das war mir viel zu peinlich.
„Uh, der Mensch, die niemals jemand wollte, spuckt große Töne", machte sich Charlotte über mich lustig.
Nyco berührte sanft, so dass ich es kaum spürte, mit seiner Hand meine und murmelte: „Bitte setz dich wieder Rosalie. Mit Streiten kommen wir nicht weiter"
Nun sah ich ihn doch an, schnaubte wütend auf, grummelte „Na gut" und setzte mich widerwillig erneut neben Ophelia. Ich hasste diesen doofen Engel. Ich hasste sie.
„Ach kommt schon, ich kann doch nicht die Einzige sein, die das absurd findet", sagte Charlotte und sah uns alle an. „Die beiden kennen sich wie lange? Seit einer Woche? Da kann man doch nun wirklich nicht schon von Liebe reden. Geht's noch?"
Ich sagte nichts mehr. Ich hatte keine Lust mehr.
Gwyneth und Ophelia wollten gerade etwas sagen, doch Perfor kam ihnen zuvor, seufzte tief aus und sprach: „Das mag sein. Ich sagte ja, es klingt für euch wahrscheinlich total seltsam. Dennoch ist es so"
„Glaub mir", murmelte Delilah leise. „Ich bin auch kein Fan davon. Ich habe die letzten Tage verzweifelt versucht, ihn davon abzubringen, aber ich hatte keine Chance"
Charlotte schnaubte böse und lehnte sich wieder an die Wand neben dem Fenster. Gut so. Wenn sie still war, konnte kein Bullshit aus ihrem Mund kommen.
„Hast du dir das auch gut überlegt?", versuchte es Gwyneth diplomatischer.
Perfor nickte.
„Was sagen Visca und Nistra dazu?", fragte Ophelia.
„Sie haben ähnlich reagiert wie Delilah und wollten mich davon abhalten, aber mein Entschluss steht", erklärte er. „Ich könnte mit Delilah nicht glücklich werden in Lakaria, wenn die Bewohner sie dafür fertig machen würden, dass die Königin gestorben ist. Ich möchte euch helfen und das ist nun mal der einzige Weg"
„Dann werden wir das dankend annehmen", kam es traurig von Ruben. Er und Perfor sahen sich intensiv in die Augen, doch keiner von beiden freute sich. Keiner von beiden lächelte oder schien in irgendeiner Form erleichtert zu sein.
„Werden wir?" Schockiert sah ich Ruben an und er erwiderte meinen Blick. „Was sollen wir stattdessen tun, Rosalie? Hier gibt es kein Johanniskraut. Und Lavendel allein wird uns nicht helfen. Das weißt du. Ich möchte auch niemanden töten, damit unsere Königin leben kann und Perfors Opfer ist das wohl größte Opfer, das jemals einer für Lakaria getan hat, aber wir haben keine Wahl"
Ich schluckte meinen dicken Kloß im Hals weg. Ich durfte jetzt nicht weinen. Bloß nicht.
„Die Königin wird darüber nicht erfreut sein", sagte Gwyneth, die zwischen uns saß.
„Das sicher nicht, aber... es geht nicht anders", stimmte ihr Ruben zu.
„Dann ist es beschlossene Sache? Ihr nehmt mein Angebot an?", fragte Perfor in die Runde.
„Ich habe noch eine letzte Frage", sagte ich und hob, wie in der Schule, meine rechte Hand. Perfor nickte mir zu. „Wenn du dich opferst, denkst du nicht, dass Lakaria hier im Dorf nur noch mehr verhasst sein wird?"
„Manche werden bestimmt eine Zeit lang wütend auf euch sein, aber ich denke, die meisten werden vernünftig sein und es akzeptieren" Er wagte es, mich anzulächeln. Warum lächelte er? „Ihr lebt seit fast einer Woche hier und die Pflanzenmenschen sind doch schon viel netter zu euch, oder nicht?" Ich zuckte mit den Schultern. „Siehst du? Ich möchte, dass unser Dorf wieder mit Lakaria verbunden ist. Ich möchte nicht, dass meine Mutter, meine Schwester, meine Nachbarn und Freunde noch eine Sekunde länger Angst vor Lakaria haben. Außerdem wissen die meisten im Dorf schon davon"
Wir alle kuckten nicht schlecht, als er dies sagte.
„Wann hast du...?", fragte Ruben.
„Ich habe gestern meine Anstellung als Dorfwache gekündigt und so machte es die Runde. Mir ist es wichtig, dass alle wissen, dass ich das freiwillig mache und ihr mich nicht dazu gezwungen habt", erklärte Perfor ruhig.
Obwohl ich ihn am liebsten in einen Käfig einsperren und somit verhindern würde, dass er sich das Leben nimmt, nur damit wir die Königin retten konnten. Doch dies wäre auch keine besonders tolle und langfristige Lösung.
„Hmmm, trotzdem fühle ich mich nicht wohl dabei", murmelte ich.
Da spürte ich Gwyneths Arm um meine Taille. „Das tun wir alle nicht, Rosalie"
Ich seufzte und Gwyneth löste ihren Arm wieder von mir. „Wann möchtest du, dass wir es tun?", stotterte ich. Die Worte wollten einfach nicht ausgesprochen werden.
„Ihr habt schon genug Zeit verloren. Ich dachte an morgen", sagte er kühl.
„Morgen???", fragte ich schrill.
Hatte ich ihn richtig verstanden? Er wollte, dass das heute sein letzter Abend war?
„Ihr müsst so schnell wie möglich, das Gegenmittel zusammenbrauen und nach Lakaria zurückkehren"
Ich hasste es, wie recht er hatte.
Ich sah Delilahs Tränen in den Augen und sofort war mein Kloß im Hals wieder da. Sie verließ kurz den Raum, um sich Tücher zu holen, setzte sich dann wieder und putzte sich mehrere Male die Nase.
„Geht dir das nicht zu schnell?", fragte Ruben vorsichtig.
„Die letzten Tage habe ich mich damit abgefunden und alles erledigt, was ich erledigen wollte", sagte Perfor ruhig.
Er wirkte und redete wie ein Krebskranker, der seit Monaten wusste, dass er den Kampf gegen die Krankheit verlieren würde. Er war völlig klar im Kopf und schien frei von Ängsten zu sein. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen.
Diese Erkenntnis tat mir am meisten weh. Mein Kloß im Hals begann zu schmerzen und die ersten Tränen kullerten mir über meine Wangen. Ich versuchte sie sofort weg zu wischen, doch sie kamen immer wieder. Delilah sah es und gab mir eins ihrer Tücher und putzte sich erneut die Nase. Die neben mir sitzende Gwyneth schien auch mit sich selbst zu kämpfen, da ihre beiden Hände zitterten und sich völlig ineinander verkrampften. Ruben flüsterte ihr so leise etwas zu, dass nicht mal ich es hören konnte und nahm ihre linke Hand in seine. Doch Gwyneth stand plötzlich auf, entschuldigte sich und verließ den Raum. So hatte ich sie noch nie gesehen. Perfors Tod schien noch eine andere Bedeutung für sie persönlich zu haben.
erzählt von Delilah
Nach dem Gespräch zogen sich die meisten in die Zimmer zurück, denn mittlerweile war der Abend angebrochen und es dämmerte bereits. Ruben und Nyco sprachen noch kurz mit Ophelia und Rosalie, bevor Nyco in Perfors Schlafzimmer und meine Schwester und Rosalie ins Gästezimmer gingen. Charlotte folgte ihnen darauf etwas später. Ruben blieb zurück und suchte Gwyneth, konnte sie allerdings nicht finden.
Als er zurückkam, fragte Perfor: „Sollen wir dir helfen? Sechs Augen sehen mehr als nur zwei"
Doch Ruben schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, ich glaube, sie braucht jetzt Zeit für sich selbst. Sie wird bestimmt nachhause kommen, wenn sie soweit ist"
Wir nickten ihm zu, wünschten ihm eine gute Nacht und so ging er schließlich auch schlafen.
Ich fragte mich wirklich, ob Gwyneth okay war. Sie war sonst so ein fröhlicher und aufgeweckter Schmetterlingsmensch. So wie an diesem Abend hatte ich sie noch nie gesehen.
Doch dann riss mich Perfor freudestrahlend aus meinen Gedanken: „Delilah, ich habe eine Überraschung für dich. Bitte mach die Augen zu und öffne sie erst wieder, wenn ich es dir sage"
Ich nickte stumm, schloss meine Augen und spürte, wie Perfor meine kalten Hände nahm.
Es dauerte nicht lange, bis er mir befahl, die Augen wieder zu öffnen. Ich tat, wie mir geheißen und was ich sah, war absolut wunderschön und wenn dieser Abend nicht mein letzter mit Perfor gewesen wäre, hätte ich mich gefreut und ihn umarmt. Doch so hielt meine Freude über den schön dekorierten Tisch, der verziert war mit allen möglichen Blumen und Blüten und inmitten eines mit hellblauen Bändern, Rosen und Lavendelblüten geschmückten Pavillons stand, nur für wenige Sekunden. Ich gab mein Bestes, mich zu freuen und diese Freude auch nach außen zu tragen, doch es gelang mir nicht. Nicht, an einem Abend wie diesen.
Sofort bemerkte Perfor dies und fragte unsicher: „Habe ich mit der Deko übertrieben?"
„Nein, das ist es nicht", antwortete ich traurig.
„Was ist es dann?" Er drückte meine linke Hand sanft.
Erneut kämpfte ich gegen meine Tränen. „Es ist nur... ich kann mich heute über gar nichts mehr freuen. Es gibt einfach keinen Grund dazu. Ich sehe deine Mühe und freue mich darüber, aber... der Gedanke, dass du morgen..., dass du morgen..."
An dieser Stelle verlor ich meinen Kampf gegen meine Tränen und begann erneut zu weinen an. Perfor nahm mich in den Arm, legte meinen Kopf vorsichtig auf den oberen Teil seiner Brust, direkt unter seinem Kinn und legte dieses dann auf meinen Kopf.
„Ich weiß, Delilah. Es tut mir leid. Ich dachte, vielleicht freust du dich wenigstens ein bisschen"
Ich löste mich aus seiner Umarmung und sah ihn an. „Ich freue mich! Aber ich kann das heute Abend einfach nicht so zeigen" Ich seufzte, lächelte und wischte mir meinen letzten Tränen von den Wangen. „Aber warum der gedeckte Tisch? Wir haben doch erst gegessen"
Er grinste breit. „Das ist richtig, aber ich habe zufällig erfahren, dass Nyco Konditor ist und er hat sich bereit erklärt, heute Morgen, bevor alle wach waren, ein paar Desserts mit mir zu backen. Er ist wirklich talentiert"
Da wurde mir bewusst, dass ich diesen Fakt über Nyco völlig vergessen hatte.
„Bitte setz dich" Er schob den Stuhl etwas vom Tisch weg, gab mir ein Zeichen, ich setzte mich lächelnd und dann schob er den Stuhl zurück zum Tisch und setzte sich mir gegenüber.
„Dann zeig eure Prachtexemplare mal her" Ich bemühte mich wirklich sehr, nicht daran zu denken, was der Anlass für dieses Date war.
Mit einem breiten und stolzen Grinsen stand er auf, holte ein silbriges Tablett hervor, stellte es elegant auf dem Tisch ab und löste wie ein Gentleman den Deckel ab. Zum Vorschein kamen jede Menge süße, kleine Törtchen. Manche mit weißen, manche mit dunklem Teig, manche mit Sahne dekoriert, manche mit Sahne in verschiedensten Farben dekoriert und manche wieder um mit Früchten. Aber es waren für nur zwei Personen viel zu viele.
„Wer soll denn die alle essen?" war deshalb meine erste Reaktion.
„Na, du", zuckte er nur mit den Schultern
„Du bist ja verrückt", schüttelte ich belustigt den Kopf und nahm mir augenblicklich ein dunkles Törtchen, das mit Blaubeer-Sahne und Schokosplittern dekoriert war und biss ab. „Oh wow, das ist total super! Nyco ist wirklich ein Künstler!"
„Hey hey, ich habe geholfen", lachte Perfor und setzte einen gespielt-schimpfenden Gesichtsausdruck auf.
Ich lachte ebenfalls. „Das weiß ich doch"
Insgesamt aß ich tatsächlich vier der handflächengroßen Törtchen, hingegen Perfor das Doppelte schaffte. Doch hinterher waren wir so pappsatt, dass wir uns erstmal ins kühle Gras vor den Pavillon legten und in die Kuppel des Strauches, in dem sich das Dorf ja befand, sahen. Wir analysierten jeden Ast, jeden Zweig und jede Wurzel, als wären wir Astrologen, die in die Sterne blickten. Wir philosophierten über das Leben und vergaßen die Welt um uns herum und tatsächlich vergaß ich für ein paar Stunden, dass es mein letzter Abend mit Perfor sein würde. Stundenlang lag ich in seinen Armen, wir küssten uns und verbanden uns, bis wir eng umschlungen im Gras einschliefen.
erzählt von Rosalie
Delilah und Perfor kamen erst wieder am nächsten Morgen von ihrem Ausflug zurück, als Ophelia, Gwyneth und ich gerade auf den Weg in die Küche waren. Gwyneth war mitten in der Nacht heimlich ins Zimmer auf die Fensterbank geflogen. Obwohl sie als Schmetterling natürlich eigentlich keinen Lärm gemacht hatte, bin ich wach geworden und hatte kurz mit ihr gesprochen. Daraufhin hatte sie sich wieder in einen Schmetterling verwandelt und war eingeschlafen und auch ich schlief beruhigt weiter, nachdem ich nun wusste, dass Gwyneth okay war.
Als Delilah und Perfor zurückkamen, lag eine komische Stimmung im Raum. Irgendwie wirkten sie glücklich, aber irgendwie auch nicht. Es war wirklich merkwürdig. Sie sprachen auch nicht viel. Selbst auf Ophelias belustigtes „Ah, wie ich sehe, seid ihr nur deswegen draußen in der Kälte nicht erfroren, weil ihr euch vermutlich sehr nahe gekommen seid"
Ich war mir nicht ganz sicher, ob sie das meinte, was ich dachte. Doch da Delilah etwas rot wurde, Perfor laut auflachte und selbst Gwyneth, die immer noch ziemlich traurig war, ein bisschen zu schmunzeln begann, konnte ich mir sicher sein, dass sie doch genau das meinte. Nun, ich wusste, dass Delilah sich nicht mit jedem verband und dass ihr Perfor viel bedeutete, stand außer Frage. Gestern war ihr letzter gemeinsamer Abend gewesen. Ich denke, es war nur natürlich, dass sie sich verbunden hatten. Ich freute mich, dass sie noch schöne Stunden alleine mit Perfor verbringen hatte können.
Doch ehrlich gesagt fragte ich mich, wie Delilah Perfors Tod wegstecken wollte und ob sie das jemals konnte. Ich hatte Angst, sie würde sich zu sehr verändern.
Wenn ich mir vorstellte, Nyco würde sterben... das wäre unvorstellbar für mich. Auch, wenn Nyco und ich kein Paar oder so etwas waren... ich konnte und wollte mir mein Leben nicht mehr ohne ihn vorstellen. Ich weiß, dass dies ein seltsamer Gedanke für eine wie mich war und eben deswegen war mir klar, dass mir Nyco mehr als jeder andere bedeutete.
Als könne er meine Gedanken hören, schritten Nyco und Ruben die Treppe zu uns herunter und wünschten einen guten Morgen. Wir antworteten, doch immer noch perplex von meinen verwirrenden Gedanken über Nyco, sah ihn mit abwesendem Blick an.
Die anderen gingen schon mal voraus, doch Nyco und ich blieben stehen.
„Ist alles in Ordnung, Rosalie?", fragte er mich.
Ich zuckte zusammen, lächelte und antwortete: „Oh, ja, natürlich. Warum?"
„Du hast mich so seltsam angesehen, als sei etwas nicht in Ordnung"
„Entschuldige. Ich war in Gedanken versunken"
„Oh okay", sagte er, doch nach ein paar Sekunden, nachdem wir uns auf den Weg in die Küche gemacht hatten, fragte er: „Und an was hast du gedacht?"
Ich überlegte. Es war nicht gerade der richtige Moment, um ihm zu sagen, was ich wirklich gedacht hatte, denn dies würde einem Liebesgeständnis gleichkommen und das wollte ich ihm nicht einfach so nebenbei sagen. Wenn ich es ihm jemals sagen konnte.
Darum winkte ich ab und sagte ihm, dass es nicht so wichtig sei.
Er gab sich offensichtlich damit zufrieden.
In der Küche bereiteten wir ein Festmahl für alle vor. Allerdings versicherte uns Perfor immer wieder, dass er nichts mehr zu Essen wollte.
„Ich sterbe sowieso in ein paar Stunden", wiederholte er. „Es lohnt sich wirklich nicht mehr, noch etwas zu essen. Außerdem möchte ich, dass die Desserts, die Nyco und ich gestern für Delilah gebacken haben, meine letzte Mahlzeit sind"
Nyco lächelte etwas. „Also haben sie euch geschmeckt?"
„Ja, aber es waren viel zu viele", erwiderte Delilah freudestrahlend und Perfor legte einen Arm um ihre Taille.
Nyco schien sich sehr darüber zu freuen und das wieder um freute mich. Es geschah so selten, dass man Nycos Freude über etwas spürte und sah.
Schließlich weckten wir Visca und Nistra, die sich beide für die restliche Woche freigenommen hatten und frühstückten gemeinsam. Ein letztes Mal ohne Perfor. Auch hier herrschte eine seltsame Stimmung. Einige unterhielten sich, Perfor und Ophelia waren gut drauf, ja, sogar Delilah schien im Vergleich zu gestern weniger deprimiert, Charlotte war missmutig und Nyco so still wie immer. Doch von Ruben und besonders von Gwyneth ging eine seltsame Atmosphäre aus. Und ich war einfach verwirrt, wie ich mich verhalten sollte. Ich wollte nicht traurig sein oder traurige Stimmung verbreiten, darum versuchte ich zu lächeln und mit zulachen, wenn jemand etwas Lustiges sagte. Doch ein Stück Traurigkeit blieb in meinem Herzen und in meinen Gedanken.
Aber wahrscheinlich empfanden alle so, nur ließen es sich weniger anmerken.
Nachdem wir alle aufgegessen hatten, fragte uns Visca, ob es für uns in Ordnung sei, wenn wir alleine den Abwasch tätigten, da sie mit ihrem Sohn noch ein letztes Mal zum Lavendelfeld wollte. Selbstverständlich hatten wir alle damit kein Problem. Nicht mal Charlotte beschwerte sich.
Als sie weg waren, sah Delilah ihnen traurig nach und sagte: „Perfor hat mir erzählt, dass das Lavendelfeld immer sein Lieblingsort gewesen war"
Ophelia nahm sie in den Arm und lächelte. „Kein Wunder. Es ist ja auch wunderschön"
„Ja, das ist es", nickte Delilah und trocknete die Pfanne, die sie in den Händen hielt, weiter ab.
Nach einer gewissen Zeit kamen die Drei wieder und uns allen war klar, dass es keinen Grund mehr gab, Perfors Tod noch länger vor uns her zu schieben. Interessanterweise war es Perfor selbst, der uns drängte.
„Ihr könnt nicht noch mehr Zeit hier verschwenden", schimpfte er uns, halb ernst, halb belustigt.
Visca bot uns an, ihr Labor für die Herstellung des Gegengifts zu verwenden, was ich sehr abstrakt fand. Immerhin wusste sie, dass wir ihren Sohn, ihr eigen Fleisch und Blut, in ihrem Labor töten würden und trotzdem bot sie es uns an.
Offensichtich ging die gesamte Familie mit der Situation besser um, als die meisten von uns. Auf der einen Seite beeindruckte mich das, doch auf der anderen Seite fand ich es schade. Sie sollten für uns nicht stark bleiben müssen. Es war okay zu trauern.
Wir standen alle vor dem Labor und eine unangenehme Stille entstand. Delilah und Nistra liefen bereits jetzt schon die Tränen herunter und selbst Perfor war sein spitzbübisches Lächeln vergangen. Ich hatte einen dicken Kloß im Hals und kämpfte gegen meine eigenen Tränen.
„Wer soll es tun?", fragte Ruben schließlich in die Runde.
„Ich kann es nicht", schluchzte Delilah und Perfor nahm sie in seine Arme.
Ruben sah sie traurig an. „Das erwartet niemand von dir"
Dankbar und voller dicker Tränen, die ihr die Wangen herunterliefen, erwiderte sie seinen Blick, bevor sie ihr Gesicht in Perfors Brust vergrub.
„Es tut mir leid", kam es leise von Gwyneth. Ich glaube, seitdem ich sie kannte, hatte ich sie noch nie so leise sprechen hören. „Ich kann das auch nicht. Es tut mir so leid"
„Kein Problem, Gwyneth", sagte Ophelia so lieb, wie nur sie es konnte und drückte kurz Gwyneths Hand.
„Ich bin wohl keine Option", sagte Ruben. „Ihr wisst, ich war nicht gerade talentiert darin"
„Ich auch nicht", murmelte Charlotte.
„Macht euch keinen Stress", sagte Ophelia und blickte beide kurz an. „Ich mach das"
„Brauchst du Hilfe?", wollte ich fragen, doch meine Stimme brach aufgrund des dicken Kloßes in meinem Hals ab. Ich kämpfte weiterhin gegen meine Tränen, doch ich verlor den Kampf und als ich Nycos Blick auf mir spürte, sah ich ihn kurz an, wandte mich allerdings beschämt von ihm ab. Ich wollte nicht, dass er mich weinen sah.
„Schon gut" Ophelia war nach Perfor und seiner Familie definitiv die, die am meisten Stärke bewies. „Bleib bei Delilah. Sie braucht dich jetzt mehr, als ich. Ich kann das auch allein"
„Ich gehe mit dir", sagte Nyco knapp.
Ophelia sah ihn anfangs etwas verwundert an, nickte dann aber und bedankte sich.
„Perfor, bist du soweit?", fragte Ophelia unsicher.
Sie wusste sichtlich nicht, ob diese Frage unsensibel war.
Perfor nickte, wechselte mit jedem von uns noch ein paar Worte, umarmte uns alle und bedankte sich bei Ophelia und Nyco. Er fand selbst für Charlotte nette Worte. Ich könnte dies niemals. Geschweige denn, wenn ich an seiner Stelle wäre. Seine Stärke war das schlimmste und tat mir am meisten weh. Doch vielleicht würde es mir auch wehtun, wenn er traurig und weniger stark wäre. Wenn man Traurigkeit als Zeichen von Schwäche bezeichnet.
Die, die er mit Abstand am längsten umarmte, war Delilah. Selbst seine Mutter und seine Schwester umarmte er nicht so lange. Doch sie verstanden dies sicher. Er flüsterte ihr noch etwas ins Ohr, aber ich konnte nichts davon hören. Und eigentlich wollte ich es auch nicht hören. Dies sollte der letzte private Moment der beiden sein.
Schließlich verschwanden Ophelia, Nyco und Perfor in Viscas Labor. Von außen konnte man nichts von den Vorgängen in dem kleinen Häuschen, das umgeben von Ranken war, die sich die Wände entlang schlängelten, hören.
Es war totenstill.
Im wahrsten Sinne des Wortes.
Niemand sagte ein Wort.
Kein dummer Kommentar von Charlotte.
Kein Schimpfen von Ruben.
Kein Witz von Gwyneth.
Kein Streiten von Delilah und Charlotte.
Die meisten von uns weinten. Manche lauter, manche ganz leise und Ruben, der Gwyneth in seinen trainierten Armen festhielt, gab gar keinen Ton von sich. Ab und zu flüsterte er Gwyneth etwas zu, doch sonst schwieg er.
Nistra, Visca und ich hielten die laut schluchzende Delilah, die auf dem kleinen Garten vor dem Häuschen zusammengebrochen war, in unseren Armen, streichelten ihr übers Haar oder über ihr Gesicht und sprachen ihr gut zu. Wenn jemandem von uns drei die Stimme abbrach und selbst erneut zu Weinen begann, machte die nächste weiter.
Ich konnte mich nicht erinnern, wie lange Nyco und Ophelia im Häuschen waren. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und es war mir auch egal. Delilah so zu sehen, brach mir das Herz. Ich konnte kaum atmen.
Endlich kamen Ophelia und Nyco zurück und als wir sahen, dass Ophelia auf Delilah zulief und sich auf den Boden warf, lösten Visca, Nistra und ich uns von ihr und machten Ophelia Platz. Ophelia sprach aufmunternde, ruhige Worte zu ihrem Zwilling, die sich nur schwer beruhigte.
Ich stand auf und blickte Nyco an und sah, dass er die Flasche mit dem Gegengift in der Hand hielt. Ophelia musste es wohl ihm gegeben haben, damit es nicht kaputt ging. Das Gegengift war nun das wichtigste Elixier. Wenn wir es verschütteten, war Perfors Opfer umsonst gewesen. Und Ophelia hatte wahrscheinlich Angst, dass sie es mit ihrer aufbrausenden Art zerstören könnte.
Damit meine Stimme nicht erneut vor Nyco abbrach, räusperte ich mich und fragte dann: „Hat alles geklappt?"
Nyco nickte. „Ja, es ist Ophelia nicht leichtgefallen, aber ich denke, sie wollte für ihre Schwester stark sein und so schnell wie möglich zu ihr zurückkehren. Ich habe ihr oft gesagt, dass ich das auch alleine machen kann, aber sie wollte mir helfen"
„Pflanzenmenschen stellen Elixiere her", hauchte ich. „Das wurde ihr und Delilah in der Pflanzenschule beigebracht. Sie hielt es wohl für besser"
Er nickte, schien etwas zu überlegen und fragte dann zurückhaltend: „Ist mit dir alles in Ordnung?"
Ich musste angesichts der Tatsache, dass er mich das heute schon mal gefragt hatte, lächeln und wischte mir Reste meiner letzten Tränen weg. „Ja, ich... ich denke, ich bin okay"
Okay schien mir das beste Wort zu sein, um meine derzeitigen Gefühle zu beschreiben. Ich war traurig, weil Delilah, Ophelia und Gwyneth traurig waren.
Ich war wütend, weil Perfor sich opfern hatte müssen, um eine Königin zu retten, die er nie treffen sollte und weil Delilahs und seine Liebe keine Chance gehabt hatte. Sie war so schnell vergangen, wie sie gekommen war.
Ich war wütend, weil Perfor ein Held war. Ein Held ohne Wiederkehr.
Ich war wütend, weil ich das Gefühl hatte, versagt zu haben.
Ich fühlte mich leer.
Und ich war durcheinander, weil ich all diese verschiedenen Sachen fühlte.
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